Archiv


Die Mitte

Der Begriff "die Mitte" gehört in der deutschen Politik zur beliebtesten Kursbeschreibung. Darin drückt sich vor allem der Anspruch nach Konsensfähigkeit gegenüber möglichst vielen Wählermilieus aus. Der Politologe Kurt Lenk untersucht in seinem Essay die politische Erfolgsgeschichte des begehrten Begriffs und geht dabei auf seine historischen, literarischen und philosophischen Ursprünge ein.

Von Kurt Lenk |
    Kurt Lenk, der in diesen Tagen 80 Jahre alt wird, war Direktor des Instituts für Politische Wissenschaft an der Technischen Hochschule in Aachen. 1989 erschien seine bekannte Studie "Deutscher Konservatismus".



    Warum wird die Mitte so häufig beschworen - in Mythen, und Religionen, in der Esoterik und in Märchen? Der Grund liegt nahe: Sie ist ein Symbol des Göttlichen, der Mittelpunkt der Welt. Sie ist also mehr als ein geografischer Ort. In ihr symbolisiert sich das Selbst als Zentrum, als Einheit, Leben, Mysterium, als Ursprung und Ziel, als Universum, als schöpferische Energie, kosmische Intelligenz, als das Sein, das Eine, als der göttliche Funke, als die Große Mutter oder das göttliche Kind.

    Als Mittelpunkt der Welt oder auch als Weltachse wird die Mitte symbolisiert. Darin ist sie Berg, Baum oder Nabel; der Nabel als das Zentrum der Welt soll jene Mitte sein, von der die Schöpfung ihren Anfang genommen habe. Bei vielen Völkern findet sich die Vorstellung von einer Himmel und Erde verbindenden Achse, als Symbol dafür, dass alle dem Menschen bekannten Ebenen und Bereiche des Kosmos untereinander in Beziehung stehen und um ein Zentrum angeordnet sind.

    Auch in zahlreichen Märchen ist die Mitte das Symbol, das Wasser des Lebens, in der Kabbala das "n Soph", in der Alchemie der "Stein der Weisen" der kosmische Urmensch, der Makro- und Mikrokosmos in sich vereinigt.

    Und wie verhält es sich mit dem Begriff der Mitte in der hiesigen Politik? Während über Jahrzehnte die beiden große Volksparteien Union und Sozialdemokratie - neben der liberalen FDP - fast alleine das Feld beherrschten, gewinnen seit den neunziger Jahren im Gefolge der deutschen Einigung eine neue Linkspartei und - am anderen Ende des Spektrums - eine von der NPD dominierte Rechte an Boden. Obwohl hinsichtlich dieser neuen Konstellation Prognosen riskant sind, wird man gleichwohl schon sagen können, dass Parteien, die bereits mehrere Landtage für sich erobern konnten, kaum mehr von der politischen Bühne verschwinden dürften.

    Während die Politikwissenschaft gegenwärtig mit den erwähnten Veränderungen auf der politischen Parteienebene beschäftigt ist, gerät jedoch das aus dem Blick, was fast alle Politiker im Munde führen und zur Kennzeichnung ihrer eigenen Position im politischen Koordinatensystem in Anspruch nehmen, nämlich: "die Mitte".

    Fragt man nach dem spezifischen Ort, den dieser Zuschreibungspunkt in der politischen Geometrie hat, erhält man nicht selten die Antwort: "Das weiß man doch!" In Wirklichkeit jedoch ist das, was man "die Mitte" nennt, auf der Landkarte des Politischen eine terra incognita, ein nahezu gänzlich weißer Fleck.

    Auf der Suche nach einschlägiger Literatur zur "politische Mitte" stößt man jedenfalls auf ein Vakuum. Eine der wenigen Ausnahmen bildet ein längst vergriffener schmaler Sammelband aus dem Jahre 1993, betitelt: "Die Mitte. Vermessungen in Politik und Kultur". Schon der Begriff "Vermessungen" deutet darauf hin, dass es sich bei der politischen Mitte wohl um ein bis heute recht vernachlässigtes Phänomen handeln muss, das es zunächst überhaupt erst einmal richtig zu "verorten" gelte.

    So beginnen denn auch die beiden Herausgeber, Bernd Guggenberger und Klaus Hansen, ihre Untersuchung nicht zufällig mit Fragen wie:

    "Ist politische Mitte nur ein Reflex von Establishment? Die denkmüde, reflexionsarme Ausrede in einer Situation allgemeiner Erschöpfung all jener Kräfte und Energien, die Politik aus dem Geiste des Utopischen entwarfen und sich vom 'Prinzip Hoffnung` geleiten ließ? Ist 'Mitte` nur die jüngste Maske der Ratlosigkeit einer übergeschäftigen Welt, der vorläufig letzte jener Rückzüge, die sich so beharrlich mit Offensive tarnen? Ist sie nur eine Chiffre für allzu geschmeidige Anpassung, für die Saturiertheit des Status quo, für die phantasieträge Hartnäckigkeit der Unbeirrbaren und Verblüffungsfesten?"

    "Reflex von Establishment", "Chiffre" für eine "allzu geschmeidige Anpassung" und für die "Saturiertheit des Status quo", gar bloß "denkmüde Ausrede" im Angesicht einer phantasie- und hoffnungslos gewordenen Erschöpfung politischer Energien: Schon an der Wahl dieser für eine wissenschaftliche Arbeit recht ungewöhnlichen Metaphorik lässt sich der diffuse, sozusagen im Dämmerlicht des Unentdeckten Charakter des verharrenden Mitte-Phänomens ablesen.

    Mit Blick auf solch schwankenden Grund könnte es einigermaßen verwegen erscheinen, hinter dem dichten Schleier allgemeiner Ratlosigkeit Konturen aufdecken zu wollen, die den Anspruch auf Stimmigkeit erheben. Gleichwohl soll hier ein solcher Versuch unternommen werden, weil er auch dann lohnt, wenn er nur mehr ein erstes, noch schwaches Licht auf ein bislang unsondiertes Terrain werfen sollte.

    Soziale und politische Probleme entstehen in der Regel erst dann, wenn sich bestimmte tradierte Verhaltensformen, Spielregeln oder Normen nicht mehr ohne weiteres "von selbst verstehen", dann etwa, wenn sich überkommene Sozialformen - wie etwa die tradierte bürgerliche Familie mit ihrer dominierenden Vaterfigur - aufzulösen beginnen.

    Erst, wenn soziale Ordnungen zu wanken beginnen, die bis dahin gleichsam "naturwüchsig" schienen, entstehen soziale und politische Probleme und Fragestellungen und im Gefolge davon Forschungsaufgaben, die soziologisch oder politikwissenschaftlich bearbeitet werden können. Dann ergibt sich etwa das Problem der spezifischen Entstehungsbedingungen, die Frage nach Art und Reichweite solcher Irritationen und so weiter. So wäre auch im Fall der politischen "Mitte" zu fragen, wo ihr sozialer Ursprung und ihr sozialer Ort zu finden seien.

    Mit dieser Blickperspektive aber betritt man das weite Feld der historischen Entwicklung des modernen Parteienspektrums in bürgerlichen Nationalstaaten, wie sie in der westlichen Welt seit der französischen Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts entstanden sind.

    Man erinnert sich:

    Parteiungen gab es zwar bereits in den griechischen Stadtstaaten: Freie Männer sammelten sich dort in Gruppierungen, die für oder gegen bestimmte "öffentliche" Personen eintraten. Fest organisierte Parteien oder gar Parlamentsfraktionen im heutigen Sinne indes konnte es erst nach dem Ende der Monarchien geben, da die Herrschaft von autokratischem Souverän und tonangebendem Adel eine Mitwirkung der niederen Stände am staatlichen Willen ursprünglich noch gar nicht zuließ. Erst nachdem die bürgerlichen Stände sich zur 1789 "Nationalversammlung" in Paris konstituiert hatten, gab es erste moderne Parteibildungen.

    So etwa sind im Sommer 1790 die Bezeichnungen "partie gauche" und "partie droite" (linke und rechte Partei) entsprechend ihrer Sitzordnung, bereits bekannt. Seit jener Zeit ist wiederholt die Rede von la gauche und la droite, was in den späteren Kammern der deutschen Länder den Begriffen "linke Seite" und "rechte Seite" entsprach.

    Erst viel später wurden die Kurzformen "Linke" und "Rechte" geläufig. Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildeten sich zunächst so genannte Honoratiorenparteien, in denen wenige Privilegierte mit Hilfe einer Gefolgschaft ihre Interessen im Gemeinwesen wahrnahmen.

    Ganz anders operieren moderne Volksparteien, die nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts als Klassen-, Weltanschauungs- und Massenparteien mit festen Mitgliedern, Programmen und Organisationsstrukturen um Wählerzustimmung werben müssen. Ihre Aufgabe besteht in der Mobilisierung der Bürger zur Teilnahme am öffentlichen Leben im Sinne eines bestimmten Programms, das den Anspruch erhebt, dem Gemeinwohl zu dienen.

    Solche Appelle richten sich heute durchwegs an möglicherweise noch unentschlossene Wähler, die es zu gewinnen gilt, um bestimmte Interessen in den Parlamenten mehrheitsfähig zu machen.

    Über dem Tempel des Gottes Apollo in Delphi findet sich der Sinnspruch der sieben Weisen: Nichts im Übermaß! - Er gehört zu den ethischen Forderungen einer gesellschaftlichen Mitte, um deren Rechtfertigung sich seit Aristoteles eine der wirkmächtigsten Schulen der abendländischen Philosophie bemüht hat. Verfolgt man deren Linie, so stößt man auf Epikur, die Stoiker wie etwa Seneca und Marc Aurel, bis hin Montaigne und seiner skeptischen Theorie.

    Tonangebend an diesem eher nüchternen, sich lebensnah gebenden Ethos der Mäßigung waren im 18. und 19. Jahrhundert vor allem Spinoza, John Locke, Adam Smith, Edmund Burke, John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville, die allesamt dem anti-platonischen und anti-utopistischen Sinn der praktischen Philosophie Auftrieb gaben. Es ist dies jene mehrheitliche Richtung, die von Seiten ihrer Anhänger als liberal, freiheitlich, in jedem Falle als allen extremen Versuchungen fern stehend und damit als "Mitte" im positiven Sinne gerühmt wird.

    Aus der Sicht der genannten Mitte-Denker war die Staatsutopie Platons der erste Sündenfall des europäischen Geistes, da er mit der Konstruktion eines Idealstaates, dem die Griechen nacheifern sollten, das Maß des Menschlichen zugunsten einer bloß ausgedachten staatlichen Ordnung verlassen hatte.

    Von da an, so lautet ein Mitte -Topos, datiere eine der Moderne eigene Sucht nach Perfektionierung sozialer Verhältnisse, ein daraus entspringender "Reinheitswahn", bis hin zu den Genoziden des 20. Jahrhunderts, die in ihrer Hybris die Menschheit beglücken und von den ihr wesenseigenen Unzulänglichkeiten ein für alle Mal befreien wollten.

    Demgegenüber gibt sich die erwähnte Mitte-Philosophie bescheiden. Sie erkennt die sozialen Unterschiede und Konflikte, um deren Beseitigung es vielen Utopien zu tun ist, als natur- und schicksalsgegeben an, verzichtet bewusst auf die Herstellung einer wie immer perfekt gedachten "Gerechtigkeit", die mit terroristischen Folgen zur Gleichmacherei des genuin Ungleichen führen müsse. Das Credo dieser typisch für die Mitte-Position entsprechenden Absage an jede Form einer sozialen Utopie hat auf exemplarische Weise der Philosoph Karl Popper formuliert:

    "Was ich als utopische Sozialtechnik kritisiere, ist der Vorschlag des völligen Neubaus der Gesellschaftsordnung als ganzer, ein Vorschlag, dessen Verwirklichung zu sehr weitgehenden Veränderungen führen muss und dessen praktische Konsequenzen sich wegen unserer beschränkten Erfahrung nur schwer abschätzen lassen."

    Ein solcher "utopischer Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates aufgrund eines Entwurfes der Gesellschaftsordnung als ganzer" verlangt "eine streng zentralisierte Herrschaft einiger weniger, und er führt daher aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Diktatur."

    Und ein erklärter Utopiegegner wie Joachim Fest fügt ergänzend hinzu:

    "Was im Blick auf das nationalsozialistische Zukunftsbild so unverkennbar ins Auge fällt, gilt auch für das kommunistische Gegenbild: das Eine wie das Andere sind tiefes 19. Jahrhundert, erfüllt von Allmachtsphantasie, Geschichtsmystik sowie schwarzem oder leuchtendem Menschheitspathos, und in alledem nichts als ein ... Aberglaube in wissenschaftlicher Verbrämung."

    Das rapide Verschwinden der Utopie bildet seither ein Dauerthema der Mentalitätsforschung, besonders nach dem Ende des Sowjetmarxismus. Es wird eher begrüßt als bedauert. Die Losung: "Wer den Himmel auf Erden sucht, muss in der Hölle landen" gehört geradezu zu den Mandalas des herrschenden Zeitgeistes. Dahingestellt bleibt allerdings, ob die kollektiven Bedürfnisse nach einer besseren Welt nicht vielleicht doch zur anthropologischen Grundverfassung einer nach wie vor sinnbedürftigen Menschengattung gehören.

    Der Utopiegegnerschaft vieler Autoren entspricht in jüngster Zeit auch die Suche nach einer Aufwertung klassischer bürgerlicher Tugenden wie denen von "Maß und Mitte". Von dieser Optik her erscheinen die Extreme links und rechts als gefährliche Schwarmgeisterei, als gefährliche Wege hin zu Terror und Gewalt. Insofern ließe sich das Streben zur Mitte hin, mittlerweile Kennzeichen fast aller am Parlamentarismus orientierten politischen Parteien, auch als eine Folge der Abkehr vom alten Rechts- Links-Schema begreifen.

    Inhaltlich geht es bei der Politik der Mitte um das einstige bürgerliche Lebensideal: um die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten von Staat und Markt. Gegensätzliche Elemente wie Eigennutz und Gemeinnutz, Freiheit und Gleichheit sollen im Sinne der alten Weisheit eines dritten, mittleren Weges unterlaufen werden. Gelänge dies, so sei auch das überkommene Rechts- Links-Schema zugunsten von "richtig" oder "falsch" endgültig überwunden.

    So gesehen erscheinen die Mitte-Appelle, wie sie vermehrt gerade in der Zeit der großen Koalition zwischen SPD und CDU/CSU ertönen, als Aufrufe zu einer parteiunabhängigen Loyalität und Gefolgschaftsbereitschaft. Gerade die leerformelhafte Berufung auf eine imaginäre Mitte verbürgt deren ideologisch- politische Funktion. Ist doch heutzutage fast ein jeder von einer gewissen "Rand-Angst" getrieben und deshalb geneigt, sich sozialhierarchisch in eine Mitte zu verorten, die Solidität und Normalität symbolisiert, ausgenommen einige Nonkonformisten, seien dies Künstler, Intellektuelle oder sonstige "Radikale".
    Repräsentativ für eine vor allem nach dem Ende des "Dritten Reiches" verbreitete Klage über einen "Verlust der Mitte" ist die gleichnamige Schrift des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr. Für ihn hat die Moderne mit ihren neuen Göttern: Natur, Maschine, das All, das Chaos, das Nichts, den Menschen aus seiner Mitte gestoßen, wodurch auch die Kunst ihren einstigen Rang verloren habe. Durch die moderne Hybris der Autonomieerklärung des Menschen und die damit vollzogene Lösung aus allen haltenden Bindungen sei es zu einer vielfachen Störung der condition humaine gekommen:

    "Gestört ist in der Moderne das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur, zur Zeit, die nur mehr als endlos stillstehende Immanenz, als vermeintlich heile Vergangenheit oder als in die Zukunft projizierte Utopie wahrnehmbar ist."

    Der Grund allen Übels ist für Sedlmayr das moderne Streben nach Autonomie. Sie führe zum Höllensturz alles Menschlichen - unter Ausschaltung alles Überweltlich-Transzendenten und alles Persönlichen in Gott. Für Sedlmayr ist das Experiment der Moderne mithin gescheitert:

    "Der Mensch kann und darf nicht autonom sein."

    Die in der bundesrepublikanischen Politik seit den 50er-Jahren herrschende "Magie der Mitte" ist auch Resultat traumatischer geschichtlicher Erfahrungen: Nach dem Ende des II. Weltkrieges schienen die konservativen Rechtsparteien diskreditiert, da sie an der Zerstörung der Weimarer Republik beteiligt waren.

    So hatte Konrad Adenauer den richtigen Riecher, als er seinen Mitbegründern der CDU aus dem protestantisch-konservativen Milieu auftrug, dass deren vorgeschlagene Selbstverortung als "rechts", "konservativ", "bürgerlich" oder als "Sammlungsbewegung" zu unterbleiben habe. Stattdessen sollte sich die CDU bundesweit eher unspezifisch und scheinbar unideologisch als eine "Partei der Mitte" bezeichnen, die mit der christlichen Weltanschauung verbunden sei und die dem Wunsch in der Bevölkerung nach einer gründlichen Entpolitisierung sehr entgegen kam.

    Auf das linke Lager wiederum wirkte nachhaltig die vom KPD-Urteil ausgehende Drohung gegenüber alle "Linksabweichungen" sowie der im Zuge des Kalten Krieges wieder erstarkte Antikommunismus.
    Aus dieser Situation ergab sich schließlich seit den 60er Jahren ein dominantes Spektrum bundesrepublikanischer Mitte-Parteien, die sich unterschiedslos als "Volksparteien" verstanden, schon um Mehrheiten gewinnen zu können. Beispielhaft hierfür steht die Entwicklung der SPD bis zum Godesberger Programm 1959, mit dem sie ihren einstigen Charakter als "Klassen- und Weltanschauungspartei" endgültig aufgab. Zur Erklärung des Parteienstreits um den Platz in der Mitte ließen sich u. a. folgende Gründe anführen:

    "Mitte" ist ein Symbol für den sozialen und politischen Ausgleich, für die Harmonisierung von Gegensätzen; die "Mitte" wird von den Volksparteien als etwas beschworen, das die Lösung komplexer Fragen verspricht; zugleich enthält das Bekenntnis zu ihr eine Absage an beide sie flankierenden Extreme: von diesem Doppelcharakter der Beschwörung und der Absage leitet sich die geradezu magische Anziehungskraft ab, die die Mitte-Position offenbar für die Mehrheit der Wähler, vor allem aber für die so genannte schweigende Mehrheit besitzt.

    Wer die Mitte repräsentiert, beansprucht, gemäß dem Goetheschen Motto "Prophete links, Prophete rechts, das Weltkind in der Mitten", einen realitätsgerechten, gewissermaßen "überparteilichen" Standpunkt jenseits bloßer partikularer Interessenvertretung. Da das Plädoyer für die "gesunde Mitte" die Verheißung einer höheren "dritten Position" enthält, die sich der ideologischen Einseitigkeit der linken und rechten Extreme entledigt habe, wird eine eher apathische Haltung, die einer als Interessenkonflikt verstandenen Politik ablehnend gegenübersteht, stets dazu neigen, sich den Parteien der Mitte anzuschließen.

    Soziologisch gehören die Grenz- und Wechselwähler, um die bei Wahlen stets in erster Linie geworben wird, mehrheitlich einem "neuen Mittelstand" an. Für sie kommen daher, ihrer sozialen Mittel-Lage entsprechend meist auch nur gemäßigte Parteien in Frage, die einen kontrollierten Fortschritt bejahen.

    Der französische Politikwissenschaftler Maurice Duverger hat - im Gegensatz zu der in der Bundesrepublik vorliegenden Tendenz zur Mitte hin - in seiner Parteiensoziologie zu Recht von einem "natürlichen Phänomen des Dualismus der Parteien" gesprochen. Gemeint ist damit die Tatsache, dass alles politische Handeln letztlich auf Entscheiden und Wählen beruht:

    "Jede Politik bedingt eine Alternative zwischen zwei Lösungen, denn die vermittelnden Lösungen lehnen sich an die eine oder andere an. Das besagt nichts anderes, als dass es in der Politik keine Mitte gibt. Es mag wohl eine Partei der Mitte geben, aber keine Richtung der Mitte. Mitte nennt man den geometrischen Ort, an dem sich die gemäßigten der entgegen gesetzten Richtungen sammeln ... Jede Mitte ist in sich selbst gespalten - die linke und die rechte Mitte, denn sie selbst ist nur die künstliche Zusammenfassung des rechten Flügels der Linken und des linken Flügel der Rechten. Es ist die Bestimmung der Mitte, zerteilt, hin und her geworfen, aufgelöst zu werden ... Es ist der Traum der Mitte, die Synthese entgegen gesetzter Bestrebungen darzustellen, aber die Synthese ist nur eine theoretische Möglichkeit. Das Handeln ist ein Wählen, und Politik ist Handeln."

    War Politik als "Interessenkonflikt" im vorigen Jahrhundert primär Ausdruck ökonomischer Widersprüche und stand damit im Zeichen des "Herrschaftsparadigmas", so wurde dieser Typ der politischen Auseinandersetzung seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts überlagert von einem sozialstaatlichen "Verteilungsparadigma". Der einstige Klassenkonflikt wurde nun zum Verteilungskonflikt und erschien als solcher durch sozialpolitische Maßnahmen regulierbar. Die damit ermöglichten systemkonformen Entschädigungen schienen im Sinne einer allmählichen "Professionalisierung der Reform" diese Verteilungskonflikte grundsätzlich lösbar zu machen.

    Die hier angedeutete Entwicklung fand ihr Pendant im Programm der "sozialen Marktwirtschaft". Sie verstand sich beim Antritt der Regierung Adenauers im Jahre 1949 als "dritter Weg" beziehungsweise "goldener Mittelweg" zwischen einem reinen Wirtschaftsliberalismus und einem umfassenden Wohlfahrtsstaat, so wie er noch von der Weimarer Reichsverfassung entworfen worden war. Eigenverantwortung und freier Wettbewerb galten nunmehr als die entscheidenden Antriebskräfte des rasch eintretenden Wohlstands in den 50er und 60er Jahren.

    Dem System der "sozialen Marktwirtschaft" entsprach der Typus der Volkspartei, wie ihn die CDU von Anfang an und die SPD nach ihrem Abschied von der Weltanschauungs- und Klassenpartei mit dem Godesberger Programm aus dem Jahre 1959 anstrebte. Auf diese Weise wurde die Sozialdemokratie auch auf Bundesebene zum potenziellen Koalitionspartner.

    Willy Brandt wähnte nach seinem großen Wahlsieg 1972 eine neue historische Konstellation auf dem Plan, die er als "Neue Mitte" etikettiert wissen wollte. Darunter sollte nicht nur das Zusammentreffen der Traditionswählerschaft mit den neuen Mittelschichten aus der technischen und kommerziellen Intelligenz verstanden werden, sondern mehr noch: ein historisches Bündnis aus dem demokratischen Teil der Arbeiterbewegung und einem inzwischen politisch geläuterten sozialliberalen Bürgertum. Die konservative Union, um ihr Erfolgslabel fürchtend, spottete im Deutschen Bundestag - so Franz Josef Strauss - Brandt laufe mit dem politischen Koordinatenkreuz auf dem Rücken in der Gegend herum. Und überall, wo er Halt mache, verkünde er: "Hier ist die Mitte !" Damit wurde seitens der Konservativen indirekt der Verlust an kultureller Hegemonie und eine Trendwende des Zeitgeists nach links eingestanden.

    Der konservative Soziologe Helmut Schelsky konstatierte damals einen expansiven Drang zur Mitte. In seiner Programmschrift: "Der selbstständige und der betreute Mensch" sah er darin den vorherrschenden Zug aller demokratischen Parteien der Bundesrepublik:

    "Bei dem Drang zur 'Mitte', der zurzeit in allen demokratischen Parteien der Bundesrepublik vorherrscht, dürfte die Frage, was heißt heute >liberal <, die wichtigste Grundsatzdiskussion der kommenden Jahre sein."

    Der Drang zur Mitte sollte anhalten. So entdeckte auch Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat 1998 das Label der "Neuen Mitte" in Anlehnung an Brandts Konzept ein Vierteljahrhundert davor und in Übereinstimmung mit Thesen aus dem intellektuellen Umfeld des britischen Premiers Tony Blair. Doch ebenso wie unter Brandt nahm die Partei auch bei Schröder das Konzept einer "Neuen Mitte" nicht an.

    Nach Schröders Abwahl und dem Aufkommen einer linken Konkurrenzpartei zur Sozialdemokratie ist eine klare Absetzbewegung zu erkennen. Dabei wird zur Begründung stets auf einen Exodus in den unteren Mittelschichten hingewiesen. Die "neue Mitte" wird gleichsam empirisch-soziologisch wegdefiniert, um es für nicht mehr notwendig zu halten, sie - was immer man unter ihr noch verstehen mag - auch künftig zu umwerben.

    In jüngster Zeit hat vor allem die Politikprofessorin Chantal Mouffe vehement Kritik an der harmonisierenden Vorstellung geübt, dass heute bereits "Konflikte zwischen Interessenverbänden der Vergangenheit angehörten und Konsens" in der Regel "durch Dialog erzielt werden könne"

    Dieser allzu optimistischen Diagnose gegenüber, die ein Ende aller Ideologien behauptet, will sie den Nachweis erbringen, dass dieser "postpolitische Zeitgeist" nicht zu mehr, sondern vielmehr weniger Demokratie führt"

    Die nach dem Triumph der westlichen Welt über den Sowjetkommunismus verbreitete Sehnsucht nach einer rundum befriedeten Welt ist für Mouffe eine Illusion, denn sie verleugne die von Grund auf antagonistische Struktur alles Politischen und die ihr stets innewohnenden Interessengegensätze. Dem weit verbreiteten Harmonieverlangen gegenüber plädiert Mouffe

    " für die "Schaffung einer lebendigen 'antagonistischen' Sphäre des öffentlichen Wettstreits..., "in der verschiedene hegemoniale politische Projekte miteinander konfrontiert werden könnten". "

    Dementsprechend sei die Ersetzung der tradierten Rechts- Links-Polarisierung durch eine simple moralische Bewertung politischer Positionen in "richtig" oder "falsch" als irrig, weil diese Beurteilung ein Gegenstand des politischen Wettstreits mindestens zweier Kontrahenten bleiben müsse, sollen Konflikte nicht vorschnell in Konsens aufgelöst werden, ein Vorgang, der sich geradezu demokratiewidrig erweisen müsse. Jedem vermeintlichen Konsens liege in Wahrheit eine Entscheidung zugrunde, die nur auf demokratischem Wege getroffen werden dürfe, solle nicht das Projekt der Demokratie selbst Schaden nehmen.

    Nach Chantal Mouffe bleibt es die vornehmliche Aufgabe demokratischer Ordnungen, dass Parteien, die in jeder Artikulation von Interessen miteinander rivalisieren, eine Wir-oder-sie-Unterscheidung auf pluralistische Weise öffentlich machen.

    Demokratie baut ihrer Natur nach stets auf Polarisierung und kollektive Identifikation. Gäbe man die Begriffe rechts und links einfach auf, so leiste man der zu Kompromissen genötigten demokratischen Willensbildung einen Bärendienst:

    " "Die Besonderheit der modernen Demokratie liegt in der Anerkennung und Legitimierung des Konflikts und in der Weigerung, ihn durch Auferlegung einer autoritären Ordnung zu unterdrücken ... Daher sollten wir uns vor der heutigen Tendenz hüten, eine Politik des Konsenses zu glorifizieren, die sich rühmt, die angeblich altmodische Politik der Gegnerschaft von rechts und links ersetzt zu haben". "

    Hier ergibt sich eine interessante Parallele zwischen der Konflikttheorie Chantal Mouffes, der Parteiensoziologie Duvergers und der Freudschen Psychoanalyse:

    Hier wie dort erweist sich die Verdrängung der rational nicht auflösbaren politischen bzw. psychischen Potenziale - bei Freud das Unbewusste - als kontraproduktiv. Verdrängt man das Politische, so sucht es sich einen anderen Schauplatz. Abgedrängt durch einen vermeintlich auf dem Weg des Dialogs hergestellten Konsens sucht sich das unaufgearbeitete Konfliktpotenzial einen Ausweg in mitunter nicht mehr steuerbaren Situationen, eine Dialektik, die eben das befördern hilft, was vermieden werden sollte: Dann erst werden Gegner zu Feinden, deren Konflikte womöglich nur mehr durch Anwendung von Gewalt ausgetragen werden können.