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"Die Möglichkeit wird plötzlich Wirklichkeit"

Dass etwas, was vorher unvorstellbar war, unversehens geschieht, das ist für den Sportphilosophen Gunther Gebauer das Großartige am Sport. Die Leistung des jamaikanischen Sprinters Usain Bolt erscheine "quasi wie ein Wunder".

Gunther Gebauer im Gespräch mit Sandra Schulz | 17.08.2009
    Sandra Schulz: Er habe es für möglich gehalten, die 100 Meter schneller als in 9.69 Sekunden zu schaffen. Das war bis gestern die Weltrekordmarke und das hat der Jamaikaner Usain Bolt vor dem Lauf gesagt. Jetzt wissen wir: Es war möglich und es ging elf Hundertstel schneller. Frage an den Philosophen Gunther Gebauer von der Freien Universität in Berlin: Sie beschäftigen sich im Schwerpunkt mit dem Thema Sport. 9,58 Sekunden, das heißt mehr als zehn Meter pro Sekunde. Wie kann man das begreiflich machen?

    Gunther Gebauer: Am besten, insofern, dass man seine eigene Zeit mal nimmt und schaut, wie schnell man auf 100 Meter im Laufen und Gehen ist und dann einmal das vergleicht, mit dem, was dort gelaufen ist. Dann wird man feststellen, dass man wahrscheinlich, wenn man ganz gut zu Fuß ist, vielleicht gerade mal 15, 20 Meter langsamer ist. Wenn Usain Bolt schon im Ziel ist, dann würden wir wahrscheinlich so ungefähr bei 75 Metern sein.

    Schulz: Logischerweise sind wir ja alle nicht so schnell. Das heißt also, das ist eigentlich unvorstellbar?

    Gebauer: Unvorstellbar deswegen nicht, weil er uns das gezeigt hat. Das ist ja das Großartige am Sport, dass das, was unvorstellbar zu sein scheint, dementiert wird als Wirklichkeit. Es erscheint dort quasi wie ein Wunder. Die Möglichkeit, die man vorher angedacht hat, wird plötzlich Wirklichkeit und sie wird dargestellt auf einer Art internationalen Bühne.

    Schulz: Wir wollen uns der Zeitspanne noch auf einem anderen Weg annähern: 9,58 Sekunden lang mal nichts sagen und nichts senden. - Das waren jetzt 9,58 Sekunden. Eigentlich haben die ja gar nicht so kurz gewirkt. Eigentlich müsste man in der Zeit doch einiges zuwege bringen.

    Gebauer: Ja, das kann man auch. Wenn man denkt, denkt man natürlich mit ganz anderen Geschwindigkeiten, als wenn man läuft. Das ist der Unterschied zwischen sportlichen Leistungen und geistigen Leistungen. Denken Sie beispielsweise an Geistesblitze. Es gibt eine ganze Menge an Entdeckungen, an neuen Ideen in der Wissenschaft, auch in der Kunst, die sozusagen als Geistesblitze gekommen sind, die innerhalb von Hundertsteln von Sekunden produziert worden sind und die möglicherweise ganz viel verändern. Denken Sie beispielsweise an die sogenannte Entdeckung der Doppelhelix der DNA. Watson und Krick haben die Vorstellung entwickelt, dass das Erbgut eine Sprache ist und diese Sprache in Form einer Doppelhelix verschlüsselt worden ist. Das hat alles gelöst mit einem Schlag und das war ein Moment, der sicher kürzer war als die 100 Meter von Usain Bolt.

    Schulz: Aber die Umsetzung, die dauert dann natürlich wieder länger als 9,58 Sekunden. Was zählt dann?

    Gebauer: Was zählt, ist auf dem Platz - sozusagen für den Sportler. Das heißt, es zählt das, was vorgeführt wird. Aber beim Sport - das dürfen Sie nicht vergessen - gibt es ja eine unendlich lange Zeit der Vorbereitung. Diese Zeit, die Usain Bolt gelaufen ist, brauchte eine ganz lange Zeit des Trainings, der Konzentration, der muskulären Vorbereitung, der mentalen Vorbereitung, vermutlich auch der Vorbereitung auf biochemischem Gebiet. Ich denke, dass man da vermutlich seit einem Jahr einen Vorlauf hat, damit diese Zeit regulär erscheinen kann, damit die Dopingproben unterlaufen werden können. Ärzte sind daran beteiligt, Dopinglabors, die vorher testen, ob der Mann durch die offiziellen Dopingtests durchkommen kann, und Ähnliches. Das ist also eine ganz lange Prozedur, die dazu führt, dass jetzt momentan eine einzige kurze Leistung abgerufen werden kann.

    Schulz: Die immer kürzer werdenden Zeiten, die sind natürlich auch für die Sportreporter eine besondere Herausforderung, weil die schlichtweg immer weniger Zeit haben, ihre Reportage über den Äther zu bringen. Wird es denn darauf hinauslaufen, dass es dann irgendwann gar nicht mehr möglich ist, denen zuzuhören, die zu verstehen?

    Gebauer: Im Grunde genommen wird ja jetzt schon gar nicht mehr kommentiert und es wird auch nicht mehr berichtet. Weder im Hörfunk, noch der Fernsehkommentar beschreibt, während das Ereignis stattfindet, dieses Ereignis. Es ist eher so, dass einfach nur ein Gebrülle einsetzt und ein Getobe und am Ende steht der Name Bolt, Weltrekord und Ähnliches. Das können Sie in allen Reportagen, die wir von gestern kennen, nachvollziehen. Es ist auch nichts zu beschreiben.
    Ich denke aber, das ist auch nicht mehr die Absicht der Sportreporter heute, sondern die Absicht ist zu sagen, hier ist ein Wunder passiert. Leute, hört zu, wir haben hier den neuen Messias. Hier entsteht etwas, was unser Alltagserleben im Augenblick total durchschlägt. Wir sind gesättigt mit Alltagserlebnissen aus der Politik. Politik ist im Augenblick nur noch banalster Alltag, und jetzt kommt der Sport und innerhalb von einer Blitzgeschwindigkeit erscheint irgendetwas ganz Ungeheurliches.

    Schulz: Der Philosoph Gunther Gebauer über 9,58 Sekunden. Das Gespräch haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.