Mittwoch, 15. Mai 2024

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Die Müllsammlerinnen von Bombay

Die Kette der großen offenen Lastwagen reißt kaum ab. Bis zum späten Abend rumpeln die überquellenden Mülltransporter durch Govandi. Govandi ist eines der Slums im Nordosten von Bombay, am Rande der großen Müllkippe. Gayadi Jagdi hat Feierabend. Sie steht vor dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann ein kleines Zimmer hat, und blickt den Müllautos nach. Gayadi Jagdi trägt einen leuchtend blauen Sari. Wie alt sie ist, das wisse sie nicht genau, so Mitte fünfzig etwa:

Von Friedrike Schulz | 10.07.2003
    Geboren bin ich in einem kleinen Dorf in Maharashtra. Meine Eltern sind irgendwann nach Bombay gekommen, um Arbeit zu finden. Seit mehr als 30 Jahren arbeite ich nun schon als Müllsammlerin. Ein ganzes Leben auf der Müllkippe, was für eine Bilanz. Jeder Tag sieht gleich aus: Ich stehe um fünf auf, mache die ganze Hausarbeit und bereite das Essen vor. Um halb sieben ziehe ich los zur Müllkippe. Die liegt gleich nebenan. Bis um drei Uhr nachmittags sammele ich dann alles Verwertbare, von Plastiktüten bis hin zu Metall. Es ist toll, wenn man Metall findet, das bringt viel Geld. Nachmittags sortieren wir den Müll und verkaufen ihn abends an den Müllhändler.

    Pro Tag verdient Gayadi Jagdi etwa 75 Rupien, das sind umgerechnet 1,50 Euro. Wenn sie von der Arbeit kommt in der schmutzigen Kleidung, machen die Leute auf der Straße einen Bogen um sie. Wir sind für sie der letzte Dreck, sagt sie traurig. Sangeeta Saraf kennt diese Sorgen. Sie arbeitet für eine Selbsthilfeorganisation, die sich für die Belange der Müllsammlerinnen von Bombay einsetzt:

    Die Müllsammler werden von allen ausgebeutet. Sogar die Wachleute auf den Müllhalden erpressen von ihnen Schutzgeld. Die Müllhändler zahlen ihnen viel zu niedrige Preise. Die Müllhändler sind auch die einzigen, von denen sie Kredite bekommen können. Allerdings liegen die Zinsen dann bei 30 Prozent. Viele der Frauen haben schlimme Gesundheitsprobleme, weil sie mit Giftmüll in Berührung kommen. Die meisten müssen allein für ihre Familie sorgen, weil ihre Männer Alkoholiker sind. Die meisten Frauen sind de facto alleinerziehend.

    Regelmäßig veranstalten Sangeeta Saraf und ihre Kolleginnen Seminare zur Familienplanung und Gesundheitsvorsorge. Heute geht es im Vortrag um das Thema AIDS. Gut 30 Müllsammlerinnen hören mit großem Interesse zu. Mittlerweile hat die Organisation 2000 Mitglieder, die alle verstanden haben, dass sie nur gemeinsam etwas an ihren Lebensumständen ändern können, sagt Sangeeta Saraf:

    Schritt für Schritt haben wir es geschafft, die Frauen davon zu überzeugen. Wir haben Selbsthilfegruppen gegründet, in denen die Frauen gemeinsam Geld sparen und günstige Kredite bekommen. Wir haben einen eigenen Lebensmittelladen mit fairen Preisen, wo sie nicht übers Ohr gehauen werden. Wir haben eine Schule für ihre Kinder eingerichtet. Die Müllsammlerinnen sind Analphabetinnen. Wir müssen sie davon überzeugen, dass es wichtig ist, dass ihre Kinder zur Schule gehen, um ein besseres Leben zu haben. Sonst werden ihre Kinder eines Tages auch nur vom Müllsammeln leben können, weil sie nichts anderes gelernt haben.

    Gleich neben dem Seminarraum liegt das kleine Schulgebäude der Organisation. Zwei Grundschulklassen werden hier unterrichtet. Die Frauen sitzen nach dem Seminar noch ein wenig im Hof beisammen und reden über den Vortrag. Auch Gayadi Jagdi hat sich extra einen Tag freigenommen:

    Es gibt es hier eine gute Ärztin, die uns regelmäßig untersucht. Früher haben wir uns nicht um unsere Gesundheit gekümmert. Wir haben auch die Demütigungen immer hingenommen. Zum Beispiel haben uns die Leute von der Stadtverwaltung regelmäßig von der Müllhalde verjagt. Von der Organisation haben wir Ausweise bekommen. Jetzt lassen uns die Männer in Ruhe. Durch die Selbsthilfegruppe kann ich jetzt außerdem Geld sparen und günstige Kredite bekommen. Im vergangenen Jahr konnte ich mir deswegen eine bessere Wohnung leisten.