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Die mutmaßliche Akte Tillich

Sachsens Regierungschef Stanislaw Tillich war, laut SPIEGEL online, als 27-Jähriger 1987 in die frühere DDR-Blockpartei CDU eingetreten. Er hatte dies damit begründet, dass er so "Ruhe vor der SED hatte" - laut SPIEGEL online soll er aber dem DDR-Regime näher als bislang bekannt gewesen sein. In der Union, insbesondere in den östlichen Bundesländern, wird wieder über die Vergangenheit diskutiert – Stichwort "Blockflötenpolitik". Jacqueline Boysen hat darüber mit Rainer Eckert, dem Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, gesprochen und gefragt, warum Politiker in die Ost-CDU eintraten.

    Rainer Eckert: Wenn ich mir die Mitglieder ansehe? Ich habe immer drei Gruppen unterschieden. Das eine waren die, die einfach dem Druck ausweichen wollten, in die SED eintreten zu müssen. Dann gab es die, die gehofft haben, über diesen Weg etwas verändern zu können. Und dann gab es die Gruppe, die damit ihre Karriere verbunden haben, die wussten, ich muss in einer Partei sein, um bestimmte Positionen zu erringen, und dann gehe ich eben da rein, was teilweise auch richtig gedacht war, denn die mittleren und höheren leitenden Positionen in der DDR wurden nach bestimmten Schlüsseln vergeben. Die Masse waren SED-Leute, aber auch die CDU hatte ein bestimmtes Kontingent – nehmen wir mal an 10 Prozent – und wenn man in der CDU war, die ja viel weniger Mitglieder hatte als die SED, konnte das sogar die Chance vergrößern, eine bestimmte Position zu erlangen.

    Jacqueline Boysen: Kann man nachvollziehen, wie das bei Herrn Tillich war?

    Eckert: Was wir wissen ist das, was sozusagen in der Zeitung stand, was er erklärt hat. Er wollte in Ruhe gelassen werden. Das würde ich ihm schon abnehmen. Er wollte auch beruflich vorankommen, woraus ich ihm auch keinen Vorwurf machen würde. Das was er erreicht hat, Stellvertreter im Rat des Kreises, Zuständiger für Versorgung der Bevölkerung zu sein, war im besten Fall eine mittlere Position und keine angenehme, bei den Defiziten in der Versorgung der DDR-Bevölkerung eher eine Position, wo man auch persönlich sehr viel Ärger sich einhandeln konnte.

    Boysen: Welche Rolle spielt aus Ihrer Sicht die sorbische Herkunft von Herrn Tillich?

    Eckert: Ich kann es nicht auf Tillich beziehen. Eine andere Sache ist, dass die Sorben als slawische Minderheit in der DDR privilegiert worden sind in vielerlei Hinsicht, weil die DDR eine eigene Nationalitätenpolitik haben wollte, und sie sind dann über ihre Organisation, die Domowina, sowohl kulturell wie auch finanziell erheblich gefördert worden.

    Boysen: Noch mal zu einem anderen Punkt in seiner Vergangenheit. Er war zwei Jahre lang bei den Grenztruppen der DDR. Was können wir daraus ablesen?

    Eckert: Man konnte eingezogen werden zu den Grenztruppen und war dann in der Situation, nein zu sagen oder doch ja zu sagen. Es gibt natürlich auch Menschen, die gesagt haben, wenn ich jetzt nein sagen, könnte das meine Karriere erheblich belasten; dann sage ich lieber ja. Und wie ich mich dann konkret an der Grenze verhalte, ist ja immer noch ganz was anderes.

    Boysen: Ich würde gerne von Ihnen wissen, inwieweit Sie meinen, dass die CDU heute sich auseinandersetzen sollte oder müsste mit diesem Teil ihrer Vergangenheit, mit der Ost-CDU?

    Eckert: Es ist falsch, anzunehmen oder immer zu behaupten, es wäre nichts geschehen. Das ist aber ein Prozess, der wird nie abgeschlossen sein. Der wird sich sozusagen auch in den nächsten Jahren fortsetzen. Was wir nicht wissen ist, in welchen wichtigen Positionen Mitglieder von Blockparteien sich '89 befunden haben, ob sie diese Positionen aufgeben mussten, welche sie rüberretten konnten. Da wäre eine strukturelle soziologische Untersuchung – das gilt aber für alle Blockparteien – durchaus hilfreich.

    Boysen: Wäre es die sauberere Lösung gewesen zu sagen, wir übernehmen zwar die Mitglieder der Ost-CDU, aber wir schauen, was sie gemacht haben?

    Eckert: Hätte man das überprüfen wollen, hätte es zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder hätten die Mitglieder der Blockparteien, um mal von der CDU wegzukommen - das gilt ja für alle -, sich jeweils selbst überprüfen müssen. Die Ergebnisse wären wahrscheinlich nicht allzu befriedigend gewesen, wären ständig angegriffen worden. Oder es hätte eine Überprüfung gegeben durch die Gesamtpartei, das heißt im Kern durch die Westpartei. Dann wäre wieder der Eindruck entstanden, jetzt macht der Westen im Osten eine Säuberung der Kader. Das hätte, glaube ich, auch dem deutschen Vereinigungsprozess nicht gut getan. Es zeigt sich aber wie immer wieder in der Geschichte, dass unerledigte Probleme immer wieder aufbrechen.

    Boysen: Sie sind selbst nicht SED-Mitglied gewesen. Sie sind aber SPD-Mitglied geworden. Sie waren auch schon in der DDR in der letzten Phase dann SDP-Mitglied.

    Eckert: Ja.

    Boysen: Wie haben Sie das empfunden, dass die SPD gesagt hat, wir nehmen keine SED-Leute?

    Eckert: Ich bin damals dafür gewesen, auch im Einzelfall bei bestimmten Prüfungen und Gesprächen ehemalige SED-Mitglieder zu nehmen. Wir haben damals abgestimmt. Es war eine Basisorganisation in Berlin-Friedrichshagen, also in Köpenick. Die hatte damals etwa 100 Mitglieder; heute werden es noch 20 sein, vermute ich mal. Das war die eklatanteste Abstimmungsniederlage, die ich überhaupt hier erlitten habe. Alle waren gegen mich. 99 zu 1 stand es. 99 haben gesagt, auf keinen Fall kommt ein SED-Mitglied in unsere neu gegründete ostdeutsche Sozialdemokratie. Ich habe das auch akzeptiert. Es gab ja gute Gründe dafür. Erster Grund war immer, die könnten uns ja total luminieren. Andere haben argumentiert, gerade aus dem Westen kommend, das ist politisch falsch. Es gibt der neu gegründeten Ost-SPD Stärke, zumindest rein zahlenmäßig. Die Mehrheit hat anders gedacht. Die Entscheidung ist so gefallen, wie sie gefallen ist. Ich bin nicht ausgetreten.

    Jürgen Liminski: Sagt Rainer Eckert (SPD), Leiter des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, im Gespräch mit Jacqueline Boysen hier im Deutschlandfunk.