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"Die Nacht träumt vom Tag"
Eine Erzählung, die in den Bann zieht

Von Sabine Peters | 19.09.2014
    In den Wäldern Nord-Norwegens treibt sich der 40-jährige Sune herum, nachdem er Frau und Kinder verlassen hat. Ein vergleichsweise harmloser Stromer, der von Fischfang und Blaubeeren lebt, wenn er nicht eine der zahllosen Ferienhütten aufbricht und sich dort Lebensmittel und Kleider besorgt - aber dafür hackt er auch schon mal Holz oder streicht eine Hauswand, die es nötig hat. Und gelegentlich übernimmt er Botendienste, er bringt Nachrichten, Hasch, Waffen oder auch Menschen von da nach dort. Denn in dieser abgelegenen Gegend existiert ein Netzwerk von Aussteigern aller Art: Alternde Hippies, Kleinkriminelle und sonderbare Naturfreunde helfen sich selbst; sie helfen auch Illegalen aus aller Welt, die in das dünn besiedelte reiche Land flüchten.
    Der Norweger Ingvar Ambjörnsen, Jahrgang 1956, zeigt auch im neuen Roman "Die Nacht träumt vom Tag" sein Faible für Außenseiter der Gesellschaft, für Grenzgänger. Sune nomadisiert nicht nur zwischen dem Festland und diversen Inseln; die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen innen und außen verwischen sich manchmal in seiner Wahrnehmung. So kann er ein Teil der Landschaft werden, oder er hat plötzlich einen anderen Menschen in seiner eigenen Haut und kann dessen Sinneseindrücke empfinden. Dann wieder erweist er sich als lebenspraktischer Pragmatiker, der tagelang in aller Ruhe fremde Hütten behaust, die Einträge der Eigentümer in ihren Hüttenbüchern liest, Kaffee aus ihren Bechern trinkt und sich dabei, wie er selbst sagt, so geborgen fühlt wie ein Fohlen im Stall. Leben und leben lassen: Wenn einer seinesgleichen ihn plötzlich zu einem überraschenden Lammkeulenessen einlädt, was soll's? Der Bauer bekommt das Geld für das verschwundene Tier schließlich vom Staat zurückgezahlt.
    Wird der Eigenbrötler zum hilfreichen Mitmenschen?
    Dieses beschauliche, verantwortungsfreie Leben gerät durcheinander, als Sune im Wald einer illegalen, verwundeten jungen Vietnamesin begegnet. Er begreift ihre Lage sofort: Sie fürchtet sich vor dem ihr unbekannten Wald und vor dem fremden Mann; das heißt, sie hat die Wahl zwischen Pest und Cholera. Aber ihre Hände sind so schwer verletzt, dass sie ihm in seine Behausung folgt. Über das Netzwerk erfährt er, dass diese Frau, die er Vale nennt, als sogenannte "Versandhausbraut" nach Norwegen kam, dass sie verheiratet war, in die Psychiatrie kam, entlassen wurde. Danach wurde sie beinahe das Opfer einer Vergewaltigung und erstach einen der beiden Männer. Jetzt wird sie von der Polizei gesucht. Was geht Sune das an? Aber auch nach ihm wird gefahndet, weil man ihn bei einem Bootsdiebstahl beobachtet hat. Beide müssen aus der Gegend flüchten und Sune hat plötzlich so etwas wie Verantwortung, auch wenn er die nicht will - er erträgt das Zusammensein mit anderen Menschen immer nur für sehr begrenzte Zeit.
    Ein zweifelhafter Typ. Sune wirkt manchmal arrogant, dann wieder verstört und gefährdet - aber vor allem ist er eigenbrötlerisch. Und so einer verwandelt sich in einen hilfreichen Mitmenschen? Ingvar Ambjörnsen hat keinen Entwicklungsroman geschrieben, auch keinen Actionroman über Flucht und Rettung. Wenn man spekuliert, wie dieses Buch zustande kam, hat man die Vorstellung, dass es nicht am Reißbrett entstand, sondern dass der Autor sich seinen Figuren von Satz zu Satz annähert. Und er bleibt bei Skizzen, er will vor allem den Protagonisten nicht breit ausmalen. Sune wüsste gern, warum er auf der Welt ist, und hofft manchmal, er könne vielleicht einmal "in der Nähe des Verstehens" kommen. Mehr als solch ein "in die Nähe des Verstehens kommen" will der Roman dem Leser selbst auch nicht nahelegen. Hier gibt es kein einfaches Märchen von den guten Aussteigern, keine einfache Botschaft; der Leser muss sich selbst Gedanken machen.
    Ambjörnsen entwickelt Motive, lässt einige liegen, verfolgt neue Spuren - das Buch selbst kommt so nomadenhaft daher wie der zweifelhafte Held. Sune hat im Netzwerk ein paar Freunde; darunter ist der anarchistisch angehauchte Automechaniker Byde, der ihm gelegentlich die Leviten liest: Er, Sune, gäbe den Aussteiger, ohne im Grunde einen Einwand gegen die norwegische Gesellschaft zu haben, eine Gesellschaft, die erbarmungslos mit den Flüchtlingen umgehe, eine Gesellschaft, die bald zusammenbrechen werde. Er, Sune, halte sich raus und surfe auf der gegenkulturellen Infrastruktur herum, er verhalte sich wie ein egoistisches Schoßkind und so weiter. Solche Vorhaltungen prallen an dem Helden ab. Er wird kein anderer, auch wenn es ein paar Andeutungen gibt, dass dieser Lonesome Rider sein Herz für Vale einen Spalt breit geöffnet hat. Als er sich einmal provoziert fühlt, einen seiner Ausreißer hat und gewalttätig wird, trennen die Netzwerk-Leute ihn und Vale, auch, um die Vietnamesin wirksam und längerfristig zu schützen. Sune stromert wieder allein durch den Wald.
    Heimatlosigkeit in Zeiten der Globalisierung
    Das Fesselnde an diesem Roman ist nicht in erster Linie die Story, so viele Spannungsmomente sie auch enthält. Es ist viel mehr das Erzählen selbst, das in Bann zieht. Wind und Wetter, Wald und See; noch das Aufschrammen eines Boots am Ufer und der ewig feuchte, graue, riechende Putzlappen, der sich auf jedem Boot findet, werden hier so beschrieben, dass man ganz dabei ist. Sämtliche Gestalten dieses Buchs sind wortkarg und dabei nicht auf die Zunge gefallen, ihre Dialoge sitzen und haben oft einen spröden Witz.
    Ambjörnsen beherrscht eine umfangreiche Klaviatur: Sein Roman spricht von ganz konkreter Heimatlosigkeit in Zeiten der Globalisierung; gleichzeitig umkreist er das, was im Leben seines wirren Helden auf existenzielle Weise unheimlich ist. Das Unheimliche, die Heimatlosigkeit, eine latente Gewalttätigkeit im Einzelnen und zwischen den Menschen werden in diesem Buch aber nicht zu einer Totalität. Denn obwohl es hier viele Formen des Scheiterns gibt, bleibt immer noch der Raum für kleine Wendungen, für staunenswerte und erfreuliche Überraschungen.
    Ingvar Ambjörnsen: "Die Nacht träumt vom Tag"
    Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Edition Nautilus, 272 Seiten, 19,90