Köhler: Ich möchte zunächst ganz kurz an ein historisches Ereignis erinnern, damit unsere Hörer wissen, warum wir heute und jetzt darüber sprechen. Am 5. Februar 1994, vor zehn Jahren, explodiert auf dem Alimarkt von Sarajevo eine Granate. Dutzende von Menschen werden getötet. Der Anschlag führt zu einem ersten NATO-Ultimatum an die bosnischen Serben. Drei Wochen später fliegt die NATO den ersten Kampfeinsatz in der Geschichte ihres Bündnisses. Sie selber waren General im Kosovo. Lassen Sie uns deshalb über diese neue Politik, über diese neue Strategie sprechen. Was ist seither aus der NATO geworden, aus dem Verteidigungsbündnis, dem Defensivbündnis? Eine aktive Kriegspräventionsarmee?
Reinhardt: Ja, das Bündnis hat sich im Grunde genommen an die Möglichkeiten und Notwendigkeiten angepasst, die sich heute ergeben. Als ich 1991 der erste NATO-General in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn, in Russland war, hat man sich nicht vorstellen können, wie schnell sich die Situation ändert und das ehemalige Gefahrenbild sich einfach auflöst. Heute haben wir die Polen, die Tschechen und die Ungarn im Bündnis drin, und wir haben eine enge Verbindung mit den Russen. Aber wir haben festgestellt, die Utopie des Friedens ist leider nicht ausgebrochen, sondern es gibt unglaublich viele Gefahrenherde. Wenn ich richtig informiert bin, waren allein im letzten Jahr etwa 25 Kriege auf der Welt, und die NATO hat sich anpassen müssen und hat sich von den Überlegungen einer Abwehr, eines großangelegten Angriffes nun auf die Dinge eingestellt, und da war mit Sicherheit damals die Erfahrung auf dem Balkan, wo uns vorgeführt worden ist, dass ein Diktator sein eigenes Land bekämpft, seine eigenen Menschen bekämpft, ein ganz entscheidender Punkt, bis hin zum heutigen Terrorismus, der natürlich völlig andere Voraussetzungen schafft und die NATO dazu gezwungen hat, sich neu zu orientieren, strukturell, militärisch, aber auch politisch, auf neue Gefahrenherde sich einzustellen, und das tut sie.
Köhler: Sie haben es schon angesprochen mit Ihren Tätigkeiten in Polen oder im ehemaligen Warschauer-Pakt-Staat. Nach Auflösung des Warschauer Paktes 1991 hat die NATO andere Aufgaben übernommen - Sie haben schon von Terrorismus gesprochen. Welche sind das? Ist sie nicht doch in eine aktivere Rolle gedrängt worden als sie ursprünglich wollte und sollte?
Reinhardt: Ja, natürlich. Wir alle haben ja geglaubt, jedenfalls in der westlichen Welt, Öffentlichkeit, dass nun der Frieden auf lange Sicht ausgebrochen war, nachdem sich die Russen aus Europa weitgehend zurückgezogen haben. Man wollte die Friedensdividende genießen. Man wollte die Mittel, die man für Militär ausgegeben hat, anderweitig nutzen, für Bildung und Verbesserung der Infrastruktur. Die NATO hat ja unglaublich abgerüstet. Die Bundeswehr hat unglaublich abgerüstet. Wir haben heute noch etwa 46 Prozent dessen in der Bundeswehr an Stärke, die sie 1990 hatte, als wir Bundeswehr und NVA zusammengenommen haben. Das alles hat natürlich seine Auswirkungen gehabt, aber dennoch haben wir feststellen müssen, die Welt ist nicht friedlicher geworden.
Wir müssen, wenn wir Verantwortung übernehmen wollen und uns vor allem um Menschen kümmern wollen, die unterdrückt werden, fragen, wie können wir das tun? Und die große Frage, die sich bis heute stellt, ist, ist die Souveränität des Staates, wie sie die UNO mal als nicht angreifbar und als besonders wertvoll zu schützendes Gut eines Staates gab, so hoch, dass man nichts tun kann, wenn der Staat seine eigenen Bürger massakriert, oder sind nicht die Menschenrechte dieser Bürger höher zu schätzen? Dies ist eine Frage, die die NATO sehr stark orientiert an dem, was Sie eingangs sagten, an dem damaligen Mord auf dem Marktplatz in Sarajevo, aber auch in Srebrenica, und die Bilder, an die wir uns alle erinnern, angekettete französische Soldaten, über die sich Milosevic mit seinen Leuten lustig machten, all dies hat natürlich zu einem Umdenken geführt.
Köhler: Sie sprachen gerade davon, dass bereits große Teile abgerüstet worden sind. Es gibt mir Gelegenheit, vielleicht über die Zukunft der Streitkräfte mit Ihnen zu reden. Zweieinhalb Millionen Mann Streitkräfte NATO in Europa, kann man das eigentlich managen, kann man das handeln, wie man modern sagt, oder liegt der Trend nicht doch im Gegenteil in kleinen, mobilen, professionellen Einheiten, also sprich in der Berufsarmee?
Reinhardt: Also, wenn wir mal die große Zahl nehmen, müssen wir natürlich sehen, dass dort eine unglaublich hohe Zahl durch die türkische Armee dazukommt, die anders orientiert ist in der Struktur als unsere europäischen Armeen. Sonst wären die Zahlen deutlich kleiner. Erlauben Sie mir, ein paar Panzerzahlen zu nennen. Die Deutschen hatten mal 5.800 Panzer, und wir haben jetzt im aktiven Potential der Zukunft noch etwa 530. Die Briten haben noch 190 Panzer in ihrem aktiven Bestand, die Franzosen liegen bei etwa 300. Sie können bei Flugzeugen und Schützenpanzern ähnlich argumentieren. Das heißt, die Zahlen sind unglaublich runtergefahren worden auf kleine, bewegliche Eingreif- und Stoßkräfte, aber auch Stabilitätskräfte, die wir brauchen, und da wir natürlich die Frage immer mehr gestellt werden, sind die, die wir dort nach außen schicken, geeignet, kapazitätsmäßig, von ihrem Können her das zu machen? Ich kann Ihnen nur sagen, dass die Soldaten der Bundeswehr, die wir bis jetzt im Ausland hatten – und das sind etwa 120.000 -, immer aus einem Drittel Wehrpflichtigen bestanden, die sich für die Zeit eines solchen Einsatzes weiterverpflichtet haben und das sehr gut gemacht haben. Ich habe sie lange geführt, und ich kann das sagen, ich konnte keinen Unterschied dort feststellen. Die Frage ist eben, auf welchen Ebenen man die Wehrpflichtigen nutzt. Dennoch ist der Trend zur Berufsarmee eindeutig, denn um uns herum brechen die Wehrpflichtarmeen weg oder sind schon weggebrochen und sind Berufsarmeen geworden. Der Trend ist gegen die Wehrpflichtarmee, die natürlich den Hauptauftrag hat, das eigene Land zu verteidigen, und wenn das eigene Land nicht mehr im Zentrum der Verteidigung, im Zentrum der Operationen steht, wird es einfach auch von der Frage der Motivation her schwierig.
Köhler: Ich möchte noch eine Sekunde beim Aufgabengebiet, Einsatzgebiet, bleiben. Die NATO war im Kosovo. Sie selber waren da. Sie ist in Afghanistan. General James Jones, NATO-Oberbefehlshaber in Europa, rechnet fest mit der Ausweitung des Einsatzgebietes. Wie weit soll das noch gehen? Sehen Sie das auch so? Irak-Einsatz?
Reinhardt: Also wenn Jones von der Ausweitung spricht, dann, meine ich, denkt er vor allen Dingen über die Ausweitung im Afghanistan-Bereich nach, wo ja der Schwerpunkt der NATO sich im Augenblick auf die Hauptstadt konzentriert, wo etwa 7.000 internationale Soldaten der internationalen Truppe ISAF die Unterstützung für Herrn Karsai geben, dass er seine Regierung überhaupt etablieren. Nun ist die Frage, genügt das eigentlich, um ein Land, das 23 Jahre lang im Krieg war und zerstört wurde, nun tatsächlich mit einer demokratischen Regierung zu überziehen? Die Warlords sind noch sehr stark. Die Frage ist eben, ob man nicht mehr tun muss, und hier hat sich wohl die NATO doch sehr stark entschieden, auch der neue NATO-Generalsekretär die Vorgabe gemacht.
Wenn wir in Afghanistan erfolgreich sein wollen über die Hauptstadt hinaus, müssen wir uns mit entsprechenden Aufbauteams, die auch geschützt werden, über ganz Afghanistan verteilen. Wie weit die NATO-Nationen diesem Ansatz folgen werden, vermag ich im Augenblick nicht zu sagen, aber man möchte hier an einem Beispiel deutlich durchziehen, dass man das, was man militärisch angefangen hat, auch politisch erfolgreich zum Ende bringen möchte. Inwieweit es gelingen wird, die NATO im Irak zu verankern, mit Teilen – es sind ja schon eine ganze Reihe von NATO-Nationen, und zwar nicht britisch und nicht amerikanisch, wenn ich an die Polen, die Italiener, die Spanier, die Norweger und Dänen denke -, dann weiß ich noch nicht, ob man das in einem größeren Rahmen machen wird. Darüber berät man im Augenblick in der NATO. Es wird auf der Konferenz der NATO in Istanbul eine der entscheidenden Fragen sein, wird man das tun oder nicht? Ich glaube, es ist zu früh, jetzt bereits zur Entscheidung zu kommen oder sie von mir aus zu kommentieren.
Köhler: Polen hat sich ja – Sie haben es gerade angesprochen – als besonderer Bündnispartner im Irak-Krieg empfohlen. Werden die NATO-Truppen weiter ostwärts stationiert, wenn die Zahl der Vollmitglieder auf 26 wächst? Einfach gefragt, von Heidelberg nach Krakau?
Reinhardt: Nein. Das hat man mal überlegt, aber das wird wohl nicht so laufen, weil einfach damit unglaubliche Infrastrukturkosten verbunden sind und man eben das Bild, was Polen gemalt hat, auch nicht nur alleine so sehen muss. Die Polen haben unglaubliche Schwierigkeiten, ihre Kräfte aufrechtzuerhalten, die sie im Augenblick dort im Irak haben, haben bereits angekündigt, dass sie das so nicht durchhalten können. Das gilt für andere Staaten auch. Es wäre ja wahnsinnig, das Geld, was man jahrelang hier in die Infrastruktur der Stäbe hineingesetzt hat, nun aufzugeben. Das war mal eine Überlegung, die die Amerikaner am Beginn des Irak-Krieges aus Verärgerung über die Deutschen und Franzosen und andere geäußert haben, aber das ist weitgehend revidiert. Ich glaube nicht, dass es gerade Richtung Polen zu einer Änderung kommen wird. Es mag vielleicht im Südostbalkan das eine oder andere geben, wo die Amerikaner versuchen werden, einen Flugplatz oder einen Hafen für die NATO besser nutzbar zu machen, aber es wird keine Verschiebung nach Osten geben.
Köhler: Herzlichen Dank für das Gespräch.