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Die neuen Abenteuer der Schönen Helena

Ljudmila Petruschewskaja ist durch das Elend bekannt geworden. Ihre drastischen Schilderungen des russischen Alltags brachen über den Leser herein wie ein Wirbelsturm aus Gewalt, Prostitution, Krankheit, Tod und ein wenig hastigem Sex. In der Sowjetunion trug ihr diese Darstellung der alltäglichen Hölle ein Publikationsverbot ein. Im Westen erschien nach dem Ende der Sowjetunion ihr erster Band "Aufzeichnungen von der Tischkante”, und man rühmte die beiläufige Tragik und die lakonische Gewalt, hinter der sich ein leidenschaftlicher Appell um Menschlichkeit verbarg.

Sonja Zekri |
    Sie selbst fühlt sich als Chronistin des Widerwärtigen oft mißverstanden. In einem Interview sagte sie: "Ich bin kein düsterer Autor, ja vielleicht sogar eher ein lichter Autor.” Diese helle Seite wolle sie in ihren Märchen zeigen. Vor fünf Jahren erschien das Buch "Der Mann, der wie eine Rose roch”, nun hat der Berlin-Verlag eine weitere Märchen-Sammlung herausgebracht: "Die neuen Abenteuer der Schönen Helena”. Wie der erste Band ist es ein Griff in den Fundus eines langjährigen Schaffens. Allerdings sind die Erzählungen nicht datiert, so daß sich die künstlerische Entwicklung der inzwischen sechzigjährigen Autorin nicht verfolgen läßt.

    Auch ihre Schilderungen des russischen Alltags berührten ja oft das Unglaubliche, das Phantasmagorische - so wie überhaupt die neuere russische Literatur mit Autoren wie Jerofejew, Sorokin oder Prigow das Monströse und Abartige in den Mittelpunkt stellt. Auch bei der Petruschewskaja ist Normalität ein fernes Ideal. Allerdings ist die Monströsität kein Selbstzweck. Vielmehr sind Wahn und Träume Reaktionen auf eine unerträgliche Wirklichkeit. In einer früheren Erzählung, "Die Geige”, gab sich eine junge Frau als beliebte Musikerin aus: "Sie log zügellos, verhedderte sich in ihren Erzählungen, vergaß, was sie am Vortag gesagt hatte, und so weiter. Das war ein typischer, leicht zu durchschauender Fall von Schwindelei, Wichtigtuerei und Darstellung der eigenen Handlungen als bedeutsam und folgenschwer, in deren Ergebnis etwas geschehen müsse, jedoch nichts geschah.”

    Von dieser eskapistischen Grundhaltung ist es nur ein kleiner Schritt zu den Märchen. Das Phantastische ist für die Autorin keine Negation, sondern nur eine Ergänzung der Realität. Und schließlich waren ja auch ihre Schilderungen des russischen Alltags nur eine literarische Wirklichkeit - wenn sie auch der Westen irrtümlicherweise oft als authentische Reportagen las.

    Einige Märchen weichen nur durch ein Wunderwerkzeug oder einen Zauberspruch vom Bekannten ab. In anderen hat die Autorin ein neues Universum entworfen. Der Wechsel zwischen märchenhafter und realer Welt gelingt ihr glänzend, unmerklich schiebt sie beide Ebenen ineinander: In der Geschichte "Der Prinz mit dem goldenen Haar” wird eine Königin mit ihrem Sohn entführt. Man wirft sie in einen Laster mit der Aufschrift "Brot”, und der Wächter brüllt sie an: "Du glaubst wohl, Du sitzt irrtümlich hier? Nein! Mit Deinem Fall sind wichtige Leute befaßt!” Beide Passagen erinnern an die Deportations- und Verhör-Taktiken der Stalin-Zeit.

    Auch die Zauberer sind Wesen mit sehr begrenzten Fähigkeiten und menschlichen Schwächen. In "Mariannes Geheimnis” zaubert ein Magier zwei Mädchen zu einem Körper zusammen. "Nun habt ihr den Schlamassel”, sagte der Zauberer traurig und verschwand. Warum traurig? Weil das Leben sich ihm immer nur von der schlechten Seite zeigte, obwohl er zaubern konnte. Der Zauberer rächte sich an allen, die ihn nicht leiden konnten, er machte sich lustig über die armen, schutzlosen, menschlichen Wesen, und diese wiederum zahlten ihm das mit Angst und Haß heim.”

    Unterschiedlich wie der Grad der Phantastik ist auch die Qualität der Erzählungen. Am besten ist die Petruschewskaja, wenn sie Unbehagen verbreitet. Meisterhaft versteht sie es, mit knappen Sätzen einen Alptraum zu entwerfen. In "Mit Ba auf Che” beschreibt sie ein Reich, in dem es den Bewohnern verboten ist zu trauern. "Depressionen waren im Königreich die größte Sünde, und wenn die Trauer für alle sichtbar war, das heißt, wenn der Kranke die Farbe eines Smaragds angenommen hatte, dann wurde er zu einer Zwangstherapie genötigt und in eine unterirdische Klinik gebracht, und niemand wußte, was dort mit ihm geschah, denn nach einem Jahrtausend (wenn man ihn überhaupt so schnell entließ) erschien er auf der Welt als freundlicher, etwas bleicher, ängstlicher Mensch, der sich an den einfachsten Dingen wie Sonnenauf- und Sonnenuntergang, Regen und Dämmerung erfreute. Feuer allerdings fürchtete er wie den Tod sowie jegliches Metallgeschirr vom Typ Bratpfanne und Kochkessel.”

    In einem goldenen Käfig sind die Bewohner zum Frohsinn verdammt, sogar ihre Gefühle werden überwacht. Nach solchen Passagen ist man versucht, Vergleiche zu ziehen - zu Ken Kesey, Margaret Atwood, vielleicht sogar zu Kafka oder Orwell. Gegen diese düsteren Utopien fallen die komischen Geschichten stark ab. Das gilt auch für das Märchen der "Königin Lear”. Wie der Monarch im Shakespearschen Drama gibt auch die Königin Lear etwas vorschnell ihr Reich auf. Sie reißt aus, läßt sich einen Irokesenschnitt verpassen, stiftet allerlei Verwirrung und kehrt schließlich in den Palast zurück. In dieser Klamotte tauscht die Autorin das sonst präzise Stakkato ihrer Sätze ohne Not gegen einen atemlosen Slapstick-Stil ein. Zudem erlaubt sie sich Albernheiten: So steckt sich die Königin ein Würstchen in die Tasche, das alle für einen Revolver halten. Daneben stört vor allem Kitsch den Lesegenuß. Daß die Petruschewskaja durchaus kleinbürgerliche Werte vertritt wie Familienleben und Bescheidenheit ließ sich bereits an ihren Alltags-Darstellungen ablesen. Vor dem Hintergrund des gnadenlosen russischen Lebens aber erhielten diese Ideale einen fast subversiven Zug. Die Märchen aber könnten überall spielen - nicht nur in Rußland. Es fehlen die unerträglichen Lebensumstände, die die Hoffnung der Heldinnen auf Familie und Kinderglück verständlich machten. Die Rücksichtslosigkeit des postsowjetischen Manchesterkapitalismus bilden nur den geistigen Hintergrund der Autorin, nicht den literarischen. So wirkt der erzieherische Anspruch zuweilen platt und rührselig. In der Erzählung "Hinter der Wand” läßt ein reicher Mann einen Betteljungen auf der Straße stehen: "Er ging gutgelaunt zu Bett, um in der Nacht mit unerträglichen Herzschmerzen aufzuwachen, so daß er den Notarzt rufen mußte. Dem Arzt im Krankenhaus versuchte er zu erklären, er habe Jesus Christus getroffen und ihn wieder einmal verraten. Man gab ihm eine Spritze, und die langen Krankenhaustage begannen.”

    Der Reiche gesundet, als er sein Vermögen einer Frau schenkt. Diese wiederum hat zuvor ihr gesamtes Geld hingegeben, um ihren kranken Geliebten zu retten. Allenthalben wird geopfert, verzichtet oder zumindest dazu aufgerufen. Anders als in ihren früheren Werken bricht die Autorin die Altruismus- und Erlösungs-Appelle aber nicht durch eine ironische oder banale Wendung, sondern überhöht sie religiös. Zweifellos stehen mythische Heilsversprechen in Rußland hoch im Kurs. Für den westlichen Leser aber, der Wert legt auf die Freiheit der Entscheidung und auf die Kraft des Individuums, haben sie den Beigeschmack der Unmündigkeit.

    Und doch entdeckt der Leser zuweilen den herzzerreißenden Zynismus wieder. Eine ihrer stärksten Frauenfiguren nimmt sie in "Mariannes Geheimnis” wieder auf. Hier werden die beiden Mädchen, die der Zauberer aneinander gehext hat, zu einer einzigen Frau, der dicken Marianne. Sie ist die vulgäre Schlampe, die ihre Verletzlichkeit mit Härte tarnt. Marianne ist gierig, vorlaut und fröhlich, sie weiß mit Journalisten umzugehen, tritt im Zirkus auf, hebt ein Pferd mit Wagen hoch, denn: "In der Kunst muß man das Publikum in Erstaunen versetzen, sonst verreckt man.” Hätte die Petruschewskaja mehr Figuren mit dieser rauhen Zärtlichkeit gezeichnet, wäre ihr Auftritt als "lichte Autorin” gewiß mehr geglückt.