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Die Philosophie des Unbewussten

Hermann Ebbinghaus gilt bis heute als einer der Mitbegründer der experimentellen Psychologie. Heute vor hundert Jahren ist der Gegenspieler Freuds in Halle an der Saale gestorben. Mit seinen zahlreichen Experimenten, darunter an Schülern und auch immer wieder an sich selbst, gewann er grundlegende Erkenntnisse, die noch heute die moderne Psychologie prägen.

Von Hans-Martin Lohmann |
    Dass der Name Hermann Ebbinghaus heute fast völlig aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, hat vermutlich etwas mit den eigentümlichen Wendungen der jüngeren deutschen Geistesgeschichte zu tun. Der Zeitgenosse Wilhelm Diltheys und Sigmund Freuds erlangte zwar als Experimentalforscher auf dem Gebiet der Psychologie erheblichen Einfluss, musste aber zugleich erleben, dass um die Jahrhundertwende mächtige Strömungen wie Vitalismus und Irrationalismus, die sich vor allem auf Nietzsche berufen konnten, im öffentlichen Diskurs die Oberhand gewannen.

    So verwundert es kaum, dass Ebbinghaus’ Werk stärker im angelsächsischen Raum Resonanz fand, wo er bis heute als einer der Pioniere von Gedächtnisforschung und Lerntheorie reüssiert. Ebbinghaus seinerseits erkannte in Freud instinktiv einen scheinbar übermächtigen Konkurrenten auf dem Feld der Psychologie, den es mit allen Mitteln zu bekämpfen, zumindest zu ignorieren galt. Entsprechend scharf fiel sein Urteil über die psychoanalytische Theorie des Unbewussten aus:

    "Was an diesen Theorien neu ist, ist nicht wahr, und was wahr ist, ist nicht neu."

    Ebbinghaus’ Gegnerschaft zur Psychoanalyse ist wenig verwunderlich. Als experimenteller Naturwissenschaftler, der nur gelten lässt, was quantifizierbar ist, das heißt was gezählt und gemessen werden kann, musste ihm jeder hermeneutisch-verstehende Zugang zu psychischen Phänomenen fremd sein. Erwähnenswert bleibt immerhin, dass Ebbinghaus bei aller prinzipiellen Ablehnung der Freud’schen Psychologie mit dieser zumindest in einer Frage eine erstaunliche Übereinstimmung zeigt.

    In seiner Schrift "Die Zukunft einer Illusion" bestimmt Freud die Religion - oder besser - das religiöse Bedürfnis als den Wunsch nach einem allmächtigen Vater, der für umfassenden Schutz vor den Unbilden des Lebens und der Unsicherheit der Zukunft sorgt; letztlich als infantiles Bedürfnis, das auf Illusionen beruht. Diesen Illusionscharakter der Religion, dem Freud sein Credo der Anerkennung des Realitätsprinzips entgegensetzt, bestätigt Ebbinghaus in seinem "Abriss der Psychologie", wo es heißt:

    "Hilfe gegen das undurchdringliche Dunkel der Zukunft und die unüberwindliche Macht feindlicher Gewalten schafft sich die Seele in der Religion. Unter dem Druck der Ungewissheit und in den Schrecken großer Gefahren drängen sich dem Menschen nach Analogie der Erfahrungen, die er in Fällen des Nichtwissens und Nichtkönnens sonst gemacht hat, naturgemäß Vorstellungen zu, wie auch hier geholfen werden könnte, so wie man in Feuersnot an das rettende Wasser, in Kampfesnot an den helfenden Kameraden denkt."

    Hermann Ebbinghaus entstammt einer evangelischen Kaufmannsfamilie aus Barmen, das heute zu Wuppertal gehört. Am 24. Januar 1850 geboren, ging er mit 17 Jahren an die Universität und studierte Geschichte, Philologie und Philosophie in Bonn, Halle und Berlin. Seine Doktorarbeit verfasste er über Eduard von Hartmanns 1869 erschienene "Philosophie des Unbewussten".

    Nach längeren Aufenthalten in Frankreich und England, wo er offenbar zu seinen endgültigen wissenschaftlichen Interessen fand und erste Gedächtnisexperimente bei Schülern durchführte, habilitierte sich Ebbinghaus 1880 und bekleidete fortan Professuren in Berlin, Breslau und Halle. Zu seinen bekanntesten wissenschaftlichen Werken gehören sein Buch "Über das Gedächtnis" von 1885 sowie die Schrift "Grundzüge der Psychologie" von 1902.

    "Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine kurze Geschichte."

    Diese Feststellung Ebbinghaus’ bezieht sich auf den Umstand, dass die Menschen sich zwar seit je mit psychologischen Fragen und Rätseln befassen, dies aber erst seit neuestem mit naturwissenschaftlichen Methoden tun. Der Psychologe war der Erste, der bei seinen Untersuchungen von Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen, von Erinnern und Vergessen systematisch Experimente, nicht selten Selbstexperimente durchführte, um zu quantifizierbaren Resultaten zu kommen.

    Auf Ebbinghaus gehen verschiedene psychologische Testverfahren zurück, so der Satzergänzungstest bei Schulkindern, mit dem er die Wirkung von Müdigkeit auf die Lernfähigkeit untersuchte. Erstaunlich modern mutet auch sein Test verbaler Intelligenz an, mit dem es ihm gelang, eine Beziehung zwischen dem (Vor-)Urteil von Lehrern und den Testergebnissen bei Schülern festzustellen. Aus der noch kurzen Geschichte der modernen Psychologie ist Hermann Ebbinghaus nicht wegzudenken, wenngleich er mit seinem Werk nicht entfernt jene Karriere machte, die seinem Gegenspieler Freud beschieden war.