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"Die politische Instabilität ist unübersehbar."

Der Staatsrechtler Jörn Ipsen von der Universität Osnabrück hält die Begründung, mit der Bundeskanzler Schröder die Vertrauensfrage gestellt hat, um Neuwahlen zu erreichen, für verfassungsrechtlich korrekt. Es sei eine Situation der politischen Instabilität gegeben, die nach der Rechtssprechung Voraussetzung für die Vertrauensfrage sei, so Ipsen.

Moderator: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Viel ist natürlich geredet worden über Verfassungsrecht, über Präzedenzfälle, über frühere Vertrauensfragen und -abstimmungen, die - zum Beispiel im Fall des Bundeskanzlers Helmut Kohl - auch dazu geführt haben, dass Neuwahlen herbeigeführt worden sind. Ich begrüße nun den Staatsrechtler an der Universität Osnabrück, Professor Jörn Ipsen. Wenn wir uns die Begründung anschauen, die der Bundeskanzler für seine Entscheidung, Neuwahlen herbeiführen zu wollen, gegeben hat: Geht das, was geplant ist, verfassungsrechtlich in Ordnung?

    Ipsen: Ja. Ich habe der Begründung mit Aufmerksamkeit zugehört und sehe, dass die Situation der politischen Instabilität gegeben ist, die nach der Rechtssprechung Voraussetzung für die Vertrauensfrage ist.

    Meurer: Es hat ja ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1983 gegeben. Sind damals die Hürden nicht etwas höher gesetzt worden, um die Verfassungsgemäßheit zu erfüllen?

    Ipsen: Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar gesagt, dass es nicht ausreicht, wenn ein Bundeskanzler eine neue Legitimation für seine Politik haben will. Es hat allerdings betont, dass die Beurteilung der politischen Lage in erster Linie Aufgabe des Bundeskanzlers selber ist. Und dass auch der Bundespräsident bei seiner Entscheidung in erster Linie von dieser Einschätzung ausgehen muss. Wir haben also die Situation, dass die formellen Voraussetzungen für die Auflösung gegeben sind - nämlich eine fehlgeschlagene Vertrauensfrage. Und angesichts der heutigen Reden wird man nicht sagen können, dass es ein Missbrauch ist, weil die Gründe für die instabile Lage allenthalben mit Händen zu greifen waren.

    Meurer: Die Behauptung, es werde hier Missbrauch betrieben, rührt ja daher, dass viele Abgeordnete, die eigentlich wollen, dass der Bundeskanzler im Amt bleibt, ihm nicht das Vertrauen gegeben haben. Welche Rolle spielen denn die Motive der Abgeordneten für die verfassungsrechtliche Wertung?

    Ipsen: Diese Motive spielen keine Rolle. Und zwar deswegen, weil sie im Einzelfall nicht nachvollziehbar sind. Die Abgeordneten sind frei in ihrer Abstimmung - so steht es in Artikel 38 - und nur ihrem Gewissen unterworfen. Allerdings muss man immer berücksichtigen, dass wir den wahren Motiven praktisch niemals auf die Spur kommen, weil es sich um eine namentliche Abstimmung handelt. Insofern wären auch die Abgeordneten, die mit Ja stimmen, möglicherweise bei einer Wahl, bei einer geheimen Wahl, völlig anderen Sinnes geworden. Insofern darf man Vermutungen hinsichtlich der Stärkeverhältnisse nicht ins Feld führen gegen das tatsächliche Abstimmungsergebnis, das ja deutlich gewesen ist.

    Meurer: Würde das Ganze sozusagen noch verfassungsfester werden - wenn es diese Steigerung überhaupt gibt, Herr Ipsen -, wenn sich das gesamte rot-grüne Lager der Stimme enthalten hätte?

    Ipsen: Ich glaube, nicht. Das ist ja die Situation seinerzeit bei der Vertrauensfrage von Helmut Kohl im Jahr 1982 gewesen. Da hatten wir die paradoxe Situation, dass er am 1. Oktober gewählt worden ist mithilfe eines Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt und Mitte Dezember mit einer satten Mehrheit von 266 Stimmen den Haushalt für 1983 gebilligt bekommen hat. Dass dann bei der Abstimmung sich praktisch die gesamte Koalition der Stimme enthielt, war in der Tat verfassungsrechtlich hoch bedenklich. Die Situation ist heute eine völlig andere, in der die politische Instabilität unübersehbar ist.