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Die Präsidentschaftswahlen in Berlin

Heinemann: Weißer Rauch in Bundeskonklave, Feierstunde zum Grundgesetz. Das Pfingst-Wochenende verlangte von unseren Politikern wieder viel Stehvermögen und Sitzfleisch und hat ein Nachspiel. Streit ist ausgebrochen über die Rede von Johannes Rau vor der Bundesversammlung. Die CSU hatte die Ausländer-Passagen als Seitenhieb auf die Unionscampagne gegen den Doppelpaß gewertet. Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Stoiber sprach von der "schwächsten Rede eines Bundespräsidenten überhaupt". Der rechtspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Beck, warf der CSU daraufhin vor, sie sei im verfassungsrechtlichen Konsens der Bundesrepublik immer noch nicht angekommen. Für die Bundespolitik bedeutete das Berliner Wahlwochenende nach dem Regierungswechsel im vergangenen Herbst nun den Machtwechsel im Präsidialamt. Die Wahl von Gustav Heinemann markierte 1969 den Beginn einer sozialdemokratischen Ära. Vor dieser Sendung habe ich CDU-Partei- und -Fraktionschef Wolfgang Schäuble gefragt, ob dies jetzt, 30 Jahre später, wieder so ist?

    Schäuble: Nein, ich glaube nicht, daß man das gleichsetzen kann. Die Wahl von Gustav Heinemann markierte ja den Wechsel der Freien Demokraten in ihrer Koalitionsentscheidung von der CDU/CSU zur SPD. Das ist ja diesesmal nicht so. Ich meine, den Regierungswechsel haben wir bei der Bundestagswahl im letzten Jahr gehabt. Rot-grün regiert. Sie regieren herzlich schlecht nach der Auffassung aller Menschen in Deutschland, aber sie haben jetzt halt die Mehrheit in diesen vier Jahren. Sie hatten die Mehrheit in der Bundesversammlung, und ganz offensichtlich ist es ja so gewesen, daß bei der Wahlentscheidung die Angst, daß die Koalition es nicht überleben würde, wenn Frau Schipanski gewählt würde, die Wahlfrauen und Wahlmänner der SPD und der Grünen zusammengehalten hat, auch gegen eigene Überzeugung.

    Heinemann: Die FDP, Sie haben gerade von ihr gesprochen, hat im ersten Wahlgang "hü" und im zweiten "hott" gesagt. Die offizielle Erklärung, man wolle den Einfluß radikaler Kräfte dämpfen, überzeugt wohl nur die wenigsten. Biedern sich die Liberalen den Sozialdemokraten an?

    Schäuble: Ach, nein. Es gab bei der FDP eine Mehrheit, die für die Wahl von Frau Schipanski war. Die hat auch im zweiten Wahlgang Frau Schipanski gewählt. Es gab aber eine Minderheit, die Herrn Rau vorgezogen hat. Das ist ja eigentlich auch nicht so furchtbar, wenn man keinen eigenen Kandidaten hat. Dann haben sie sich jedenfalls im ersten Wahlgang alle entschieden, daß sie Herrn Rau nicht wählen wollen, daß sie dann aber im zweiten Wahlgang eben nach ihren persönlichen Präferenzen wählen. Man hat ja nach dem ersten Wahlgang gesehen, daß von rot-grün niemand gegen entsprechende eigene Überzeugungen der Frauen, der ostdeutschen Kandidatin oder derjenigen, von der die meisten gesagt haben, sie hätte mehr Zukunft verkörpert, die Stimmen gibt. Damit war entschieden, daß es zur Wahl von Johannes Rau kommen würde. Ich finde, man sollte der FDP nicht zu viele Vorwürfe machen.

    Heinemann: Ist der Möllemann-Flügel in der FDP nach dieser Wahl gestärkt?

    Schäuble: Was heißt Möllemann-Flügel. Möllemann geht immer mit den stärkeren Bataillonen. Wenn wir demnächst mit der CDU in Nordrhein-Westfalen in den Umfragen vor der SPD liegen, wenn wir bei der Europa-Wahl, was ich hoffe, Platz 1 erringen, dann wird Jürgen Möllemann vermutlich relativ bald auch der Auffassung sein, daß eine Koalition mit der CDU das richtige ist. Er möchte eben gerne dort dabei sein, wo man die Regierungsposten vergibt. Allerdings muß er zunächst mal bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen die Fünf-Prozent-Grenze überspringen.

    Heinemann: Bundeskanzler Schröder erwartet, daß die Wahl von Johannes Rau Rückenwind für die Regierung bringt, eine gute Ausgangsbasis auch für die finanzpolitischen Vorhaben der Koalition. Wird Rau die SPD voranbringen, so wie die Wahl Roman Herzogs vor fünf Jahren ja auch der Union nicht gerade geschadet hat?

    Schäuble: Die Wahl von Roman Herzog hat uns vor fünf Jahren auch auf dem Weg zur Bundestagswahl ein Stück weit geholfen. Bei allem Respekt, die steuerpolitischen Entscheidungen muß die Regierung und die Bundestagsmehrheit schon richtig treffen. Da hilft das beste Staatsoberhaupt nicht. Im übrigen hat man ja in den letzten Jahren auch nicht das Gefühl gehabt, als verkörpere nun Johannes Rau bei allem Respekt den Vorwärtstrend der Politik in Deutschland. Schröder wird schon selber regieren müssen, und wenn er es nicht kann, dann wird es halt weiter so schlecht gehen, wie es bisher der Fall gewesen ist.

    Heinemann: Dagmar Schipanski hat eine gute Figur gemacht. Sie ist jetzt im ganzen Land bekannt. Werden Sie sie in den neuen Ländern aufbauen?

    Schäuble: Zunächst einmal sind wir sehr stolz und haben Frau Schipanski nicht nur unseren Respekt, sondern unseren Dank ausgesprochen. Wir haben sie gebeten, daß sie auch weiterhin in der Politik und für die Politik in Deutschland eine wichtige Rolle spielt, denn sie hat ein gewaltiges Vertrauenskapital aufgebaut und erworben in diesen Jahren. Das soll weiter für Deutschland genutzt werden. In welcher Form, in welcher Weise, das wird sich zeigen. Wir sind jetzt gerade ein paar Stunden nach der Bundespräsidenten-Wahl. Nach diesen vier aufregenden, hektischen Monaten, die ja auch gewaltige Belastungen für jemand sind, der sich einer solchen Kandidatur stellt, zumal wenn er bis dahin nicht so unmittelbar politische Erfahrungen hatte, will sie mal ein paar Tage ausschlafen und ausspannen, und dann wird man weitersehen. Ich bin aber ganz sicher, Frau Schipanski wird für die deutsche Politik auch in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

    Heinemann: Sie als Parteichef, welche Funktion wünschten Sie sich für Frau Schipanski?

    Schäuble: Sie werden mich jetzt nicht dazu verleiten, daß ich über irgendwelche Posten spekuliere. Darum geht es in erster Linie auch nicht. Sie hat ja in diesen vier Monaten gezeigt, daß sie mit ihrer Persönlichkeit und mit ihren Aussagen für Deutschland gutes leisten kann. In welcher Position, in welcher Aufgabe das im einzelnen sein wird, das wird man in Ruhe in den nächsten Wochen besprechen. Ich habe aus ersten Gesprächen auch vor der Wahl durchaus den Eindruck, daß sie sich auch weiterhin ihrer politischen Verantwortung zu stellen bereit ist. Insofern bin ich ganz hoffnungsvoll, aber ich werde jetzt nicht über irgendwelche Posten oder Positionen hier reden.

    Schäuble: Herr Schäuble, Forschung und Bildung, der Aufruf zum Ruck im Lande. Das war Roman Herzogs Kredo. Muß, wird Johannes Rau dort anknüpfen? Mit welchem Johannes-Evangelium rechnen Sie?

    Schäuble: Es wäre gut, wenn er es täte. Was wir an dem scheidenden Bundespräsidenten Roman Herzog haben, das hat er ja noch einmal mit seiner großartigen Rede beim Staatsakt zum 50jährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gezeigt. Wenn der Bundespräsident mit dem ganz eigenen Gewicht seines Amtes darauf drängt, wie Roman Herzog es herausragend getan hat, daß wir unsere Chancen nutzen, daß wir auch nicht vor lauter Jammern langsam glauben, wir hätten nun die größten Probleme auf der Welt, sondern daß wir sehen, es geht uns gut, wir haben großartige Chancen, aberwir müssen eben bereit sein, uns anzupassen, uns weiterzubewegen, zu Innovationen zu kommen, zu Entscheidungen, dann ist das etwas, was ein Bundespräsident tun soll. Ich hoffe, daß das Johannes Rau auch tun wird. Er ist jetzt gewählt. Es war nicht unser Vorschlag. Nun wollen wir aber darauf vertrauen, daß er als Staatsoberhaupt diese Rolle auch wahrnimmt. Jedenfalls ist es das, was wir von einem Staatsoberhaupt am ehesten erwarten.

    Heinemann: Einen Akzent hat er gesetzt. Er wolle Ansprechpartner für alle Menschen sein, die ohne deutschen Paß bei uns leben und arbeiten. Das hat Johannes Rau vor der Bundesversammlung gesagt. Später im Interview im ZDF hat er dies ausdrücklich in den Zusammenhang mit der, wie er formulierte, spaltenden Diskussion der vergangenen Wochen und Monate gestellt. War das seine erste Ohrfeige für CDU/CSU und die Unionscampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft?

    Schäuble: Wissen Sie, ich will die Äußerungen des ersten Tages nicht überbewerten. Er wird sich als Bundespräsident um die notwendige Überparteilichkeit bemühen wie jeder seiner Vorgänger. Daß er vielleicht gestern noch ein bißchen nachgetreten hat, das ist nicht ein Ausdruck von Souveränität gewesen. Mich hat vielmehr gestört, daß er in einer wirklich unerträglichen Weise seiner Mitbewerberin Dagmar Schipanski den schuldigen Respekt im Grunde verweigert hat, denn was er dazu gesagt hat, war nun wirklich ein Ausdruck, ein Mangel an Souveränität. Wie aber gesagt, die Wahl ist vorüber. Ich hoffe, daß es besser wird. Wir werden dem gewählten Staatsoberhaupt jeden Respekt entgegenbringen und wir hoffen und vertrauen darauf, daß er überparteilich sein wird. Wenn er es gestern noch nicht konnte, dann wird er es lernen.

    Heinemann: Edmund Stouber hat gesagt, das Thema Doppelpaß werde auch weiterhin vermarktet werden. In Hessen war das ganz erfolgreich. Wird die CDU damit weitere Landtagswahlkämpfe führen?

    Schäuble: Wir werden natürlich darauf aufmerksam machen, daß wir rot-grün davon abgehalten haben, die regelmäßige doppelte Staatsangehörigkeit einzuführen. Insofern war es ja wirklich ein Erfolg. Insofern weiß ich auch gar nicht, was im Nachhinein noch nachgetreten werden soll, ob vom gewählten Bundespräsidenten oder von wem auch immer. Wir haben uns ja durchgesetzt. Rot-grün hat ja eingesehen, daß man Politik nicht gegen die Mehrheit der Bevölkerung machen kann. Wenn es einem im übrigen um Integration geht, und das geht der Union genauso wie den Sozialdemokraten, den Grünen und wie Herrn Rau, dann muß man die richtige Politik machen. Eine Politik, die die Bevölkerung spaltet, die gegen die Mehrheit der Bevölkerung gerichtet ist, die dient nicht unseren ausländischen Mitbürgern. Die fördert das Gegenteil. Darüber kann man aber unterschiedlicher Meinung sein. Im Ziel sind wir uns alle einig. Wir haben den Sozialdemokraten übrigens nie die gute Absicht abgesprochen, aber wir wehren uns schon dagegen, daß man der Mehrheit der Bevölkerung niedere Motive unterstellt. Das ist eine ziemliche Unverfrorenheit.

    Heinemann: Herr Schäuble, 62. Tag der NATO_Angriffe auf Jugoslawien. Die Treffer, die geplanten wie auch die kolateralen, haben bisher kein erkennbares Einlenken der serbischen Führung bewirkt. Stimmt die Strategie der Allianz?

    Schäuble: Ich bin bei den Beratungen im NATO-Rat nicht dabei, aber man hat ja doch den Eindruck und die Hoffnung, daß in die politische Landschaft mehr Bewegung gekommen ist: sei es bei den Vereinten Nationen, sei es in den Bemühungen unter Einbeziehung von Russland, den besonderen Druck auf die serbische Führung auszuüben, daß die Politik der Vertreibung, der ethnischen Säuberung im Kosovo beendet wird. Insofern glaube ich, daß die Strategie der Grundsatzentscheidung, die wir ja auch unterstützt haben und als Opposition unterstützen, mit begrenzten militärischen Mitteln und mit politischen Bemühungen die serbische Führung je schneller desto besser, aber notfalls auch über einen längeren Zeitraum hinweg dazu zu bringen, auf ethnische Säuberung, auf Massenvertreibungen zu verzichten und eine gesicherte Rückkehr der Vertriebenen in den Kosovo zu ermöglichen, richtig ist. Ob das in allen Einzelheiten in Ordnung ist, ob die NATO die richtigen Ziele auswählt, ob man jede Nacht die Zahl der Angriffe steigern muß, wenn man keine hinreichend genau definierten militärischen Ziele hat, das kann ich alles nicht beurteilen. Da bin ich auch nicht dabei, dafür kann ich auch keine Verantwortung übernehmen. Was mich am meisten stört ist die Geschwetzigkeit eines Teils der Regierung. Das hat angefangen mit dem unseligen Gerede der deutschen Bundesregierung vom sogenannten Fischer-Plan. Ich habe damals schon gesagt, hört doch auf, mit den Plänen einen Wettlauf der Eitelkeit zu beginnen. Milosevic muß sich ja ins Fäustchen lachen, wenn er den Eindruck gewinnt, den beteiligten Regierungen geht es mehr um Profilierungen in Interviews und Fernsehsendungen als darum, mit einer geschlossenen Politik wirklich Eindruck auf die serbische Führung, im übrigen auf den Rest der Welt zu machen. Deswegen verlange ich von allen beteiligten Regierungen, daß sie nicht öffentlich ständig Vorschläge machen, ob das nun die deutsche Regierung ist oder der italienische Ministerpräsident, sondern daß sie sich zusammensetzen und vernünftig beraten und die Sache so bald wie möglich mit den geringstmöglichen Opfern zu einem vernünftigen Ergebnis bringen.

    Heinemann: Der konservative Historiker Arnulf Bahring spricht im Zusammenhang mit der NATO-Operation von den kopflosen Kriegern. Weder die rechtliche Basis noch die politischen Ziele geschweige denn die Mittel seien richtig, schrieb er in der FAZ. Muß Ihnen das nicht zu denken geben, wenn Intellektuelle aus dem eigenen Lager so hart mit der NATO ins Gericht gehen?

    Schäuble: Ich weiß nicht, aus welchem Lager Herr Bahring ist. Er hat einmal ein Buch über den Machtwechsel im Auftrag der sozial-liberalen Koalition geschrieben. Wir haben Meinungsfreiheit. Es gibt unterschiedliche Meinungen. Die Sachen sind ja auch nun schwierig genug. Ich teile die Auffassung von Herrn Bahring nicht, daß man keine rechtliche Grundlage habe. Wir konnen es doch am Ende des 20. Jahrhunderts nicht hinnehmen, wenn Massenvertreibung, Massenvergewaltigung, ethnische Säuberung in Europa betrieben wird. Es kann doch nicht so sein, daß eine formalistische Rechtsbetrachtung am Ende dazu führt, daß wir schwerwiegendste Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen tatenlos in Europa hinnehmen mit einer unabsehbaren Eskalation. Das halte ich schon gar nicht für richtig. Dann hat man ja nun lange genug versucht, mit nichtmilitärischen Mitteln die serbische Führung zum Einlenken zu bringen. Das geht ja nun über Jahre. Man hat es nie geschafft, denn immer wieder hat sich Milosevic eine Hintertür offen gelassen, hat abgeschlossene Vereinbarungen nicht eingehalten. Dann ist irgendwann der Punkt erreicht, wo jemand, der die Politik der ethnischen Säuberung mit militärischer Gewalt durchsetzen will, die Europa nicht ertragen kann, wenn der Frieden gesichert bleiben soll, lernen muß, daß er auf den Widerstand der stärkeren Völkergemeinschaft stoßen wird. Den Punkt hat Milosevic systematisch seit 1989 angestrebt, und jetzt muß die NATO handeln. Ich sagte ja, ob es in allen Einzelheiten richtig ist, das kann ich nicht beurteilen. Ich bin auch nicht im NATO-Rat dabei. Wir unterstützen ihn grundsätzlich. Wir unterstützen die Regierung geschlossener. Sie kann sich auf die Opposition mehr verlassen als auf ihren eigenen Laden, aber das ist ja nicht überraschend bei dem rot-grünen Chaos. Über die Einzelheiten kann man aber unterschiedlicher Meinung sein. Nur im Prinzip kann ich wirklich nicht erkennen, ob Herr Bahring oder wer immer der Meinung sein sollte, wir sollten in Europa am Ende dieses Jahrhunderts wieder zulassen, daß Diktatoren menschenverachtend ihre Ziele durchsetzen, wo wir doch wissen, daß wenn man den Anfängen nicht wehrt, daß man am Ende in der großen Katastrophe landet. Genau das darf sich in Europa nicht wiederholen.

    Heinemann: Das Gespräch mit dem CDU-Partei- und -Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.