Donnerstag, 09. Mai 2024

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"Die Praxis der Politik gefährdet die Grundrechte"

Als Mitglied im Bundestag und Bundesinnenminister hat sich der FDP-Politiker Gerhart Baum für einen liberalen, freiheitlichen Politikstil eingesetzt. Heute verfolgt er diese Ziele außerhalb von politischen Mandaten weiter: Juristisch kämpft gegen eine "sicherheitspolitische Aufrüstung". Durch eine zunehmende Überwachung des Bürgers seien "die Grundrechte gefährdet".

Moderation: Rainer Burchardt | 28.08.2008
    Gerhart Baum. Geboren am 28. Oktober 1932 in Dresden, Jurist und FDP-Politiker. Bundesvorsitzender der Deutschen Jungen Demokraten von 1966 bis 1968. Von 1966 bis 1998 Mitglied des FDP-Bundesvorstandes. Von 1972 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister. Gerhart Baum ist verheiratet und hat drei Kinder.

    "Gerhart Baum: Meine Mutter war eine tolle Frau."

    Jugend in Dresden und Flucht mit der Mutter

    Rainer Burchardt: Herr Baum, Sie sind Jahrgang 1932, und in vielen Biografien wird immer wieder abgehoben darauf, Sie seien in einer großbürgerlichen Familie in Sachsen aufgewachsen. Wir war es damals um den Liberalismus in dieser Familie bestellt?

    Baum: Na gut, großbürgerlich, mein Vater war Anwalt, mein Großvater war auch Anwalt in Dresden, Geheimrat und wir hatten eine wunderbare Jugendstilvilla, die dann in der Inflation verkauft werden musste. Also gut, das stimmt. Über die politischen Anschauungen meines Vaters weiß ich nicht sehr viel. Er wurde sehr schnell mir entzogen. Er wurde eingezogen, und das hatte einen Grund, den ich noch weiß. Er sollte in die Kriegsgerichtsbarkeit gehen. Das war ihm angeboten worden. Das hat er abgelehnt.

    Burchardt: War er auch Jurist wie Sie?

    Baum: Er war ja Anwalt und sollte in die Kriegsgerichtsbarkeit gehen, das hat er abgelehnt und wurde dann eingezogen. Ich erinnere mich noch an das Bild am Dresdner Bahnhof, wie er als Schütze Baum, immerhin schon im Mannesalter, reiferen Mannesalter, dann abzog in den Krieg.

    Burchardt: Ist das dann nicht auch für ein Kind, Sie waren, vermute ich, damals gerade mal acht oder neun Jahre alt, ist das dann nicht ein großer Verlust, hat man da nicht auch für das Leben prägende Verlustängste?

    Baum: Ja, also der Verlust des Vaters hat lange nachgewirkt und auch dann, als ich erfuhr, dass er nicht zurückkommen würde, vor 1945 wurde das klar, er war in Kriegsgefangenschaft gestorben, war das eine ganz tiefe Wunde, die nie geheilt ist. Ich habe ohne Vater gelebt.

    Burchardt: Sie sind dann mit Ihrer Mutter in der Dresdner Bombennacht geflüchtet, 1945. Wie hat Ihre Mutter eigentlich prinzipiell diese Situation bewältigt?

    Baum: Meine Mutter war eine tolle Frau, sie kam aus einer reichen russischen Familie, die immigriert war in der Revolution, und sie war nun plötzlich mit drei Kindern, meinen jüngeren Geschwistern und mir, stand sie alleine. Es war alles weg und sie ist dann mit uns zu Freunden nach Bayern geflohen.

    Aber die Bombennacht selber bleibt mir in unauslöschlicher Erinnerung. Mir ist langsam im Leben erst klar geworden, was das für eine Zäsur war, welches Trauma da zurückgeblieben ist. Ich habe also diesen Feuersturm miterlebt und ich habe dann auch die großen Leichenberge gesehen, also die totale Zerstörung einer Stadt, einer heilen Welt, es war ja nichts passiert vorher, in einer Nacht. Und das war die Stadt. Aber es war natürlich auch mein persönliches Umfeld, die Schule, die Freunde, eine totale Zäsur. Wenn ich nach Dresden zurückkomme, wird das alles lebendig.

    Burchardt: Sie waren dann in Bayern und haben nach dem Kriege Jura studiert, als Sie mit der Schule fertig waren, und sind Jurist geworden. Was war für Sie der Anlass, Jurist zu werden? War das das Vorbild Ihres Vaters oder war es ein tiefsitzendes Gerechtigkeitsempfinden?

    Baum: Nein, es war Verlegenheit. Ich hatte auch mal mit dem Gedanken gespielt, Kunstgeschichte zu studieren, war da beeinflusst von einem väterlichen Freund, dem ich viel verdanke. Und dann hab ich gedacht, na ja, am praktischsten ist wohl die Juristerei, da kannst du vieles damit anfangen. Und dann begann ich schon mit der Politik und dachte, na ja, auch in der Politik wird dir die Juristerei helfen.

    Burchardt: Das war die Kommunalpolitik in Köln?

    Baum: Ja, ein begeisterter Jurist war ich eigentlich nie. Das Studium hat mir nicht sehr gut gefallen. Und ich hab dann zum ersten Mal begriffen, was Juristerei ist, als ich mit Menschen umgehen musste, also vor Gericht. Das fand ich dann sehr spannend.

    "Baum: Ich habe die Kommunalpolitik als sehr wichtig empfunden in meinem Leben."

    Der kölsche Klüngel

    Burchardt: Sie waren in Köln in der Kommunalpolitik. Haben Sie sich zugehörig gefühlt zu dem, was man hier den kölschen Klüngel nennt? Haben Sie gemerkt, mein lieber Mann, hier ist ja ein Netzwerk existent, da muss man ja irgendwie mitmachen?

    Baum: Ja. Mir waren die Kölner zunächst sehr fremd und dann wurden sie zunehmend sympathischer. Mein Lebensgefühl war nicht weit weg von dem Kölschen. Aber ein richtiger Kölscher bin ich nicht geworden. Aber ich kam mit den Kölnern zurecht. Und das Schöne an dieser Stadt ist, man hat Chancen, man wird akzeptiert. Es ist eine offene, durchlässige Gesellschaft.

    Burchardt: Gleichwohl sehr katholisch und den damaligen Kardinal Frings, den ja auch heute noch viele verehren, den hat ja auch ein bisschen seine NS-Vergangenheit zumindest eingeholt, weil er in dieser Zeit nun da ja auch entthronisiert wurde, wenn man das so sagen darf und vielleicht nicht kollaboriert hätte, aber doch immerhin sich nicht gegen die Nazis gestellt hat. War das ein großes Problem für Sie auch persönlich als einer der leitenden Kommunalpolitiker hier in der Stadt?

    Baum: Ich habe die Kommunalpolitik als sehr wichtig empfunden in meinem Leben, weil sie einen unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit hat. Das, was Sie entscheiden, haben Sie vor Augen, und Sie müssen auch die Folgen ausbaden. Die Bürger sind ja ganz nah. Was ich lange nicht gesehen habe, dass dieser Kölner Mythos, wir waren eigentlich keine Nazis, nicht stimmt. Sie waren Nazis wie alle anderen auch.

    Burchardt: Bezieht sich das auch auf Konrad Adenauer? Der war damals Bundeskanzler und im Dritten Reich Oberbürgermeister in Köln.

    Baum: Ja, er ist ja dann abgelöst worden. Und er ist in eine Emigration gegangen und ist auch inhaftiert worden. Er hat sich da nichts zuschulden kommen lassen. Übrigens, mit Adenauer hatte ich auch am Anfang als Politiker meine liebe Not und habe dann im Laufe meines Lebens mit ihm einigermaßen Frieden geschlossen. Es war schon ein ganz bedeutender Bundeskanzler.

    Burchardt: Haben Sie ein Beispiel dafür mit Ihrer lieben Not mit Adenauer?

    Baum: Na ja, diese ganze restaurative Phase, Globke im Kanzleramt.

    Burchardt: Also die Altnazis?

    Baum: Ja, die alten Nazis und die alten Strukturen und seine Wahlkämpfe, die also immer mit der Kommunistenangst gefüttert waren. Das hat mir alles nicht geschmeckt. Aber er hat, nur ein Beispiel nennen, nach dieser Aussöhnung mit Frankreich, mit de Gaulle, das war eine ganz große historische Leistung.

    Burchardt: Andererseits hat ja die FDP seinerzeit, insbesondere unter der Führung von Erich Mende, nun eigentlich immer, abgesehen von 1957, da gab es die absolute Mehrheit für Adenauer, ja doch immer der CDU zur Macht verholfen.

    Baum: Ja.

    Burchardt: War das für Sie nicht ein zwiespältiges Gefühl vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben?

    Baum: Ja, das war es und wir wollten ja auch weg von der CDU. Wir jungen Leute haben jahrelang beständig daran gearbeitet, eine neue Option zu erarbeiten, die sozialliberale Koalition.

    Burchardt: Das geschah dann ja einleitend, wenn man so will, mit dem sogenannten Jungtürken-Aufstand Anfang der 60er-, Mitte der 60er-Jahre, von Düsseldorf ausgehend. Führer war damals im Wesentlichen dieser Jungtürken Walther Scheel, auch ein Liberaler. Aber Sie waren ja auch mit von der Partie, ab 1966 waren Sie Bundesvorsitzender der Jungdemokraten. Haben Sie damals schon gemerkt, hei, wir leiten jetzt hier eine politische Wende ein?

    Baum: Ja, ja. Wir jungen Leute waren voll auf der Seite derjenigen, die eine neue Ostpolitik wollten. In der FDP war es Rubin, Schollwer und eben auch Scheel, Genscher dann, Döring auch zu einem gewissen Grade, und wir wollten das. Wir wollten aus der Erstarrung der Adenauer-Zeit heraus, bewegten uns im Fahrwasser der Reformen. Und das war für mich jahrelang das Hauptmotiv, überhaupt Politik zu machen, die FDP neu zu positionieren, gegen Mende und die alten Kader, die es auch hier in Nordrhein-Westfalen gab.

    Burchardt: War da nicht die Gefahr, marginalisiert zu werden, sehr groß? Es gab ja erhebliche Drohungen aus dem Mende-Lager?

    Baum: Ja natürlich. Ja, ich wurde nirgendwo hingewählt. Ich hielt meine Bastion hier in Köln, war aber auch hier bedroht. Und es gab schlimme nationalistische Töne in der FDP in Nordrhein-Westfalen. Manchmal habe ich mich gefragt, warum bist du hier eingetreten? Aber es gab keine Alternative. Und die FDP insgesamt war eben bundesweit gesehen für mich akzeptabel.

    Burchardt: Nun wurde die FDP ja bundespolitisch 1966 von der CDU vorgeführt oder insgesamt vorgeführt, dadurch, dass man eine Große Koalition machte. Waren Sie nicht sozusagen Steigbügelhalter für die falsche Seite dann?

    Baum: Nein, nein. Wir haben dann schon gesehen, dass wir auch in der Opposition, wir waren ja da die wichtigste Oppositionspartei, anders als heute, wo es mehrere gibt, dass das eine Chance für uns ist, dass wir etwas aufbauen konnten. Wir waren frei, wir waren zum Beispiel frei, die Notstandsgesetze abzulehnen. Ich erinnere mich noch an die Rede von Scheel, dagegen. Die Befürchtung war, sage ich mal rückblickend übertrieben, aber darin steckte eine Absage an undemokratische Tendenzen und eine Absage an die Große Koalition. Eine Demokratisierungswelle begann hier im Lande dann, 1968 ist natürlich ein Stück davon, und das haben wir gespürt und haben wir uns auch zu eigen gemacht.

    "Baum: Das war ein sozialreformerisches Programm."

    Die Freiburger Thesen

    Burchardt: Führende Köpfe damals waren ja Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer, auch Sie. Und es mündete dann ja auch in den Freiburger Thesen über den Liberalismus. Da wurde ja wirklich mal festgehalten, wo eigentlich die Menschen und Menschenrechte und die Menschenwürde sich definiert, Bürgerrechte vor allem. Wenn Sie heute zurückblicken, wie erfolgreich waren Sie die Freiburger Thesen?

    Baum: Für mich sind die Einladung zu den Freiburger Thesen im Wesentlichen inspiriert von Maihofer, es ist mit das Beste an liberalem Parteiprogramm, was ich je erlebt habe. Ich habe auch daran mitgewirkt. Und es gibt kein Parteiprogramm in Deutschland, das so von dem Gedanken der Aufklärung inspiriert ist, wie es die Freiburger Thesen sind. Die These, der Staat darf nicht alles, die klassische liberale Position, Abwehr gegen den Staat, aber auch: Der Staat sind wir alle. Das heißt also, der Gedanke eines sozialen Liberalismus, der in vielen Einzelheiten des Programms zum Ausdruck kommt, das war meine Welt. Und im Übrigen ist das Freiburger Programm auch das erste Umweltprogramm einer deutschen Partei, ein Meilenstein. Ich wundere mich, dass die heutigen jungen Liberalen so wenig darauf zurückgreifen.

    Burchardt: Vielleicht wissen sie es nicht mehr?

    Baum: Einzelne Dinge sind veraltet, aber wir wollten eine neue Vermögensverteilung, ein neues Erbrecht in der Republik. Das war ein sozialreformerisches Programm, Versöhnung, zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Manchmal zu blauäugig gedacht, aber die Grundgedanken stimmen noch.

    Burchardt: Fast 40 Jahre danach sind die noch längst nicht erfüllt?

    Baum: Nein, und es gibt jetzt junge Leute in der FDP, die langsam anfangen, das wieder wahrzunehmen.

    Burchardt: Gab es eigentlich, wir müssen noch mal einen kleinen Sprung zurückmachen zum Regierungswechsel, Sie haben 1968 ja eben schon benannt, es gibt nicht unbedingt prominente Liberale, die da auffällig wurden. Das waren schon weiter links stehende Leute.

    Wie haben Sie das selber damals empfunden? Haben Sie gesagt, das ist im Grunde genommen die richtige Gegenbewegung, die da jetzt kommt, die endlich aufräumt mit unserem Erbe aus dem Zweiten Weltkrieg und was davor geschehen ist? Und gab es da nicht auch Positionierungsprobleme für einen Liberalen?

    Baum: Ja, es gab Positionierungsprobleme. Man muss ehrlicherweise sagen, Reformen haben schon angefangen, beispielsweise eine große Strafrechtsreform vor der sozialliberalen Koalition. Es war eine Aufbruch- und Reformstimmung, nicht nur in Deutschland. Man darf nicht vergessen, es war eine weltweite Bewegung von Berkeley über Paris bis Berlin. Und wir waren Teil dieser Bewegung.

    Ich erinnere mich noch, als auf Dutschke geschossen wurde, habe ich einen Besuch in England abgebrochen und bin zurück als Vorsitzender der Jungen Demokraten, um hier politisch präsent zu sein, so nahe ging das uns allen. Und wir saßen auch im Republikanischen Club in Köln und in Berlin.

    Burchardt: Entschuldigung, wenn ich unterbreche, aber gerade der Liberalismus, es kam damals ja auch der Begriff der "Scheißliberalen" auf. Sie waren ja eigentlich eher im Fokus auf der anderen Seite, von Dutschke und Co.

    Baum: Ja, wir waren denen nicht geheuer. Denn wir wollten beweisen, dass unsere Gesellschaft, unser demokratisches System reformfähig ist. Wir wollten das nicht zerstören, wir wollten keine Steine werfen, wir haben auch sehr selten demonstriert.

    Wir haben innerhalb der Parteien die Reformfähigkeit der Republik erprobt und haben auch eine Menge damals umgesetzt. Auf vielen Feldern der Politik sind die Spuren bis heute vorhanden, die Stellung der Frau in der Gesellschaft, die Rechtssysteme wurden liberalisiert, das Bildungssystem. Also, wir wollten von innen her, aus den Parteien heraus die Gesellschaft reformieren. Unsere Welt waren, wenn wir es mal sagen wollen, die Parteitage und nicht die Straße.

    Burchardt: War das auch der Impetus, sagen wir mal, unausgesprochen, zumindest öffentlich, für den Regierungswechsel 1969, also gemeinsame Sache Brandt/Scheel, Liberale werden über Nacht der kleinere Partner in einer sozialliberalen Koalition? War diese Entwicklung da schon 1968 absehbar, dass man sagt, mit der Union geht eigentlich nichts mehr?

    Baum: Nein, mit der Union ging nicht, auch mit Teilen der FDP ging das nicht. Es war eine Zerreißprobe auf einem Parteitag in Hannover, werde ich nie vergessen. Wir hatten hier den Antrag gestellt, die Oder-Neiße-Linie wird anerkannt, Begründung folgt mündlich. Ich habe dann in der Nacht die Begründung gegeben, die Partei knallte beinahe auseinander 1967.

    Also, wir wollten mit Gewalt, mit Kraft in eine neue Richtung gehen. Die Altvorderen haben das sehr viel vorsichtiger behandelt, weil sie Absplitterung befürchtet haben, aber wir gingen aufs Ganze. Der Antrag wurde da gar nicht behandelt und der schwelte weiter und dann kamen andere Anträge auf anderen Parteitagen, die DDR wurde anerkannt. Das war also Ausdruck unseres Veränderungswillens, der dann zur sozialliberalen Koalition geführt hat mit dem Motto "mehr Demokratie wagen" und da ist eine Menge auch realisiert worden.

    Burchardt: Damals war ja aufgrund der Zustimmung der FDP zur Bundespräsidentenwahl für Gustav Heinemann ein Signal gesetzt worden. Ist das von der Union nicht ernst genug genommen worden? Denn Herr Kiesinger ist ja damals, nachts ist der ja fast in Ohnmacht gefallen, als er plötzlich erfuhr, ich glaube, Helmut Kohl hat es ihm gesagt, hör mal zu, der Willy Brandt, der macht jetzt gemeinsame Sache mit Walther Scheel.

    Baum: Ja, ich war dabei in der Nacht vor der Heinemann-Wahl in einem Berliner Hotel, wo die FDP abgeschottet tagte und dann eben, die in Nordrhein-Westfalen, die Sie eben genannt haben, eine große Rolle gespielt hat. Das war ein heißes Ringen um die Mehrheit für Heinemann. Und es war uns allen bewusst, dass das mehr war als nur die Wahl eines Mannes.

    Burchardt: Gab es da einen Masterplan in der FDP, der mittelfristig angelegt war nach dem Motto, unser Ziel ist, der SPD ja danach zu helfen?

    Baum: Ja, ja, das war schon so. Und wir haben der Schröder-CDU, der damalige Außenminister Schröder war ja Kandidat, sehr übel genommen, dass sie die Stimmen der NPD in Kauf genommen hätten, was jetzt gar keine Rolle mehr spielt, wenn die CDU die SPD und ihre Nähe zur Linkspartei kritisiert. Damals ging es um die Stimmen der NPD. Der Gegenkandidat, so Heinemann, hätte nur mit der NPD zusammen Erfolg gehabt.

    "Baum: Die FDP hat das schwer erschüttert."

    Machtwechsel 1969. Die Sozialliberale Koalition

    Burchardt: Herbert Wehner war damals gegen die sozialliberale Koalition.

    Baum: Ja.

    Burchardt: Hat der versucht, noch Einfluss auf die FDP zu nehmen? Er hat ja ziemlich stark innerhalb der SPD, insbesondere auch mit Willy Brandt, doch versucht, das Ganze zu verändern.

    Baum: Ja, der Zug war abgefahren, die Verbindung zwischen Brandt und Scheel war aufgebaut zu stark und die Akteure, wie zum Beispiel Genscher, haben das dann auch durchgesetzt. Die FDP hat das schwer erschüttert, es gab Abspaltungen, es gab Leute, die zur CDU gegangen sind. Wir haben also ...

    Burchardt: War Zogelmann damals einer.

    Baum: Ja. Und wir haben also diesen Kraftakt auch mit einem gewissen Substanzverlust bezahlt. Übrigens, in der Wahl 1996 hatten wir nur 5,7 Prozent Stimmen, wir sind mit Mühe ins Parlament gekommen. Wäre die NPD über die fünf Prozent gekommen, hätte es keine Sozialliberale Koalition gegeben.

    Burchardt: Ja, es begann ja eigentlich in dieser Zeit dann doch eigentlich eine Periode der inneren Zerreißproben innerhalb der FDP. Es gab die Linksliberalen, die in der Mitte Angesiedelten und dann eben auch einen starken Flügel der Rechtsliberalen, das ging ja bis hin nach 1982. Wie haben Sie das selbst damals empfunden, als jemand, der die Freiburger Thesen vertreten musste? Werner Maihofer hat sich ja immer wieder starken, auch innerparteilichen Angriffen erwehren müssen.

    Baum: Ja, aber wir hatten doch einen ziemlich großen Spielraum, wir waren eine sehr starke Minderheit, die auf den Parteitagen eine wichtige Rolle gespielt hat und wir haben den Kurs der FDP doch weitgehend mitbestimmt. Die Zerreißprobe war in der Gesellschaft über die Ost-Politik, das war eine ganz schwierige Situation und in den Wahlen war das das Hauptthema, damals in den Bundestagswahlen.

    Es gab dann Abnutzungseffekte in der Sozialliberalen Koalition, die ich sehr bedauert habe dann. Und in der Bundestagswahl 1980 wurde ja bekanntlich noch mal die Sozialliberale Koalition gegen Strauß bestätigt mit Schmidt als Kanzler, die FDP hatte ein hervorragendes Wahlergebnis.

    Burchardt: 10,6 Prozent damals.

    Baum: Ja, ja. Und es war das Thema, das mich damals auch anging, die innere Rechtspolitik war ein Hauptwahlkampfthema, die CDU/CSU schoss sich gegen mich ein und wir haben diese Kraftprobe bestanden.

    Burchardt: Gehen wir noch mal zurück, Anfang der 70er Jahre: Wir hatten 1972 den sogenannten Extremistenerlass oder Radikalenerlass, der ja teilweise auch als Berufsverbotserlass gewertet wurde, weitgehend von der SPD durchgesetzt, auch von Willy Brandt. Damit verbunden wurde später dann auch die sogenannte Regelanfrage für den Öffentlichen Dienst.

    Als Sie dann Innenminister waren, Bundesinnenminister, haben Sie das wieder kassiert. Ist das für Sie noch eine Auswirkung Ihrer Mitarbeit an den Freiburger Thesen gewesen?

    Baum: Ja.

    Burchardt: Denn eigentlich hätte man ja 1972 auch sagen müssen, nachdem im Januar dieser Extremistenerlass fiel, da machen wir nicht mehr mit.

    Baum: Na gut, der ist von der FDP auch mitgetragen worden.

    Burchardt: Ja, ja, eben.

    Baum: Von allen Parteien. Die SPD hatte Angst, als demokratisch unzuverlässig zu gelten und der Radikalenerlass, das kann man sich heute kaum noch vorstellen, war ein Element, das die Generationen entfremdet hat. Also, die junge Generation, die sehr politisch aktiv war, fühlte sich beobachtet, bespitzelt und in ihrem beruflichen Fortkommen gehindert.

    Irgendwann kam irgendeine Information aus dem Verfassungsschutz dann vor die Augen der Einstellungsbehörde und da ist enormes Misstrauen gewachsen gegen die ältere Generation und es war ein ständiges Thema. Ich habe ohnehin versucht, die Einstellungsbedingungen, also die demokratische Zuverlässigkeit zu differenzieren. Warum muss ein Lokomotivführer die gleiche Zuverlässigkeit haben wie ein Lehrer? Aber das ist dann nicht gelungen.

    Aber gelungen ist die Abschaffung der Regelanfrage. Es wurde nur noch angefragt beim Verfassungsschutz, wenn besondere Umstände dafür sprachen. Aber die ganze Phase, auch die Phase meiner Zeit als Innenminister, war eben gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit dem gewalttätigen Extremismus, also mit der RAF. Die hat uns sehr gestört bei unseren Reformbemühungen. Wir haben die Antiterrorgesetze gemacht, die über das Ziel hinausgingen.

    Burchardt: Kontaktsperre?
    Baum: Ja, Kontaktsperre gesetzt und anderes.

    "Baum: Die Demokratie war keine Sekunde in Gefahr."

    Terror in den 70er-Jahren

    Burchardt: Vielleicht noch mal zu 1972: Es gab ja damals den Anschlag auf die Olympischen Spiele, Terror von Palästinensern. Ihr Parteifreund Genscher war damals Innenminister und Sie waren parlamentarischer Staatssekretär.

    Baum: Noch nicht, noch nicht. Das war vor meiner Zeit.

    Burchardt: Aber Sie waren schon nahe dran?

    Baum: Ja.

    Burchardt: Wie haben Sie das selbst empfunden? Sind da Fehler gemacht worden?

    Baum: Ja, wir waren auf diese Form des Terrorismus gar nicht vorbereitet. Denn danach ist die Eingriffstruppe GSG 9 des Bundesgrenzschutzes erst gegründet worden. Wir hatten keine Einsatzkräfte für eine solche Situation. Das Schlimme ist ja dann auf dem Flughafen passiert.

    Burchardt: Hätte man das anders machen müssen?

    Baum: Die Versuche, mit den Tätern ins Gespräch zu kommen, das war in Ordnung, das hat ja Genscher vor allen Dingen gemacht. Aber der Versuch, die Geiseln zu befreien, ist gescheitert. Und das würde man heute anders machen.

    Burchardt: Sie haben ja den Begriff Terrorismus jetzt auch eben noch mal angeführt. Was bedeutete das eigentlich für das Selbstverständnis eines Liberalen, die 70er-Jahre, wo dann plötzlich, ja, man kann es ja so sagen, der Gesellschaft, der Demokratie der Krieg angesagt wurde. Wie kann man oder was hat man als Liberaler da empfunden?

    Baum: Na ja, gut. Ich habe damals schon empfunden, dass es Angstszenarien auch eine Rolle spielen, Überreaktion, Hysterie. Ich meine, natürlich waren wir geschockt durch das, was da passiert ist, aber die Demokratie war keine Sekunde in Gefahr, die demokratische Ordnung hier. 30 oder 40 Desperados waren nicht in der Lage, dieses Bundesrepublik zu führen.

    Burchardt: Heinrich Böll hat damals gesagt, sechs gegen 60 Millionen.

    Baum: Ja. Das habe ich damals schon empfunden. Und wir haben uns da in eine Situation hineingesteigert, die, wenn man zurückblickt, kaum verständlich ist. Leider hat das sich ja fortgesetzt. Wir haben aus dieser Phase der Reaktionen nichts gelernt und heute sind wir wieder in einer Phase der Überreaktion nach dem 11. September.

    "Baum: Für die Bürger war es ein Vertrauensbruch der FDP."

    Machtwechsel 1982. Schwarz-Gelb mit Helmut Kohl

    Burchardt: 1974 trat Willy Brandt zurück. Nicht überraschend. Es gab damals auch gerade wegen der Affäre Guillaume, auch aus anderen Gründen, Anlässe für ihn, das Handtuch zu werfen. Haben Sie das für richtig gehalten?

    Baum: Ich habe ihn verstanden. Ich habe ihn auch aus der Nähe ja ab und zu erlebt. Und er wollte nicht mehr und er konnte auch nicht mehr. Und die Alternative Schmidt war akzeptabel.

    Burchardt: War das mit der FDP von vornherein so abgesprochen und geklärt?

    Baum: Das war in erster Linie eine Sache der SPD. Und wir haben das akzeptiert und fanden dann auch den Weg, den die SPD genommen hat, fanden wir richtig.

    Burchardt: 1973 hatten wir die Ölkrise, kann man auch heute wieder sehr nachdenklich werden. Wir haben sie erneut, wir hatten sie auch in den 80er-Jahren. Die Ölkrise führte ja nun auch dazu, dass im Grunde genommen es eine Ökonomisierung der Politik gegeben hat, weg von den Bürgerrechten, hin zu mehr Staat, zu mehr staatlicher Reglementierung.

    Hat da die FDP da nicht vielleicht etwas zu lange abgewartet? Das endete dann schließlich ja mit dem, wenn man so will, Scheidungspapier für die Koalition durch das Lambsdorff-Papier. Kam das nicht viel zu spät?

    Baum: Also, die Ökonomisierung hat zunächst bewirkt, dass die Umweltüberlegungen in den Hintergrund getreten sind. Das habe ich sehr bedauert. Dagegen haben wir angekämpft, ich war ja auch Umweltminister. Der Schmidt hatte da überhaupt kein Interesse mehr an Umweltschutz. Und da traf er sich mit Graf Lambsdorff, also mit dem Flügel der FPD.

    Burchardt: Also keine Kabinettskonflikte?

    Baum: Doch, natürlich. Ich hatte ja wiederholt Kabinettskonflikte, auch mit dem Landwirtschaftsminister. Die FDP-Minister unter sich waren sich nicht einig in Sachen Umweltschutz und Naturschutz. Genscher stand oft auf meiner Seite, aber die anderen beiden waren anderer Meinung.

    Burchardt: Das waren Lambsdorff und Ertel?

    Baum: Lambsdorff und Ertel. Und es hat dann langsam ein Vordringen ökonomischer Überlegungen gegeben. Die FDP wurde stärker wahrgenommen als Wirtschaftspartei, aber nicht 1980. 1980 war das Bürgerrechtsthema noch voll da und die CDU/CSU hat ja versucht, mich mit einem Misstrauensvotum zu beseitigen im Parlament.

    Dann aber hat sich sehr schnell, wurde das Ökonomische immer stärker, auch in der FDP. Und diejenigen in der FDP, die weg wollten aus der Koalition, die bekamen Vorwände geliefert.

    Burchardt: Das war der rechte Flügel?

    Baum: Ja. Vorwände geliefert durch die SPD. Die SPD hatte Parteitage und hat Beschlüsse gemacht, die überhaupt nicht ins Bild der FDP passten. Und so hat sich dann ein Prozess sehr schnell entwickelt bis 1982, der zur Trennung geführt hat, zu einer Trennung, die für die Bürger nicht verständlich war.

    Burchardt: Sie haben ja unausgesprochen abgehoben jetzt eben auf die Sicherheitspolitik oder auf die Militärpolitik, wenn man so will, Stichwort Nato-Doppelbeschluss, woran dann Schmidt ja auch letztendlich auch in der eigenen Partei gescheitert ist.

    Sie selbst heben jetzt ja ab auf Umweltschutz, auf Innenpolitik. Sie selbst waren ja auch Innenminister. War das für die FDP eine weitere Zerreißprobe, dass man außenpolitisch vielleicht auch nicht so aufgestellt war in diesem Konflikt bei den Sozialdemokraten?

    Baum: Ja, Außenpolitik spielte eine große Rolle. Das wurde alles hinterher erst deutlich. Ich sage noch mal, für die Bürger war es ein Vertrauensbruch der FDP, über weite Teile der Gesellschaft. Und statt einen Übergang herbeizuführen, der verständlich, auch politisch begründbar gewesen wäre und nicht als Vertrauensbruch gewertet wurde, dafür war diese ganze Operation im Herbst 1982 zu überhastet. Sie war nicht professionell gemacht.

    Schmidt hat die Chance ergriffen. Erst später wurde deutlich, dass Schmidt von seiner eigenen Partei im Stich gelassen wurde. Für uns, also die Linksliberalen, war das ein ganz schmerzlicher Einschnitt.

    Burchardt: Wäre das denn noch zu korrigieren gewesen im September? Es kam ja dann ja zum Showdown im Bundestag Anfang Oktober. Im September, Mitte September traten die FDP-Minister zurück, bevor Schmidt sie entließ.

    Baum: Ja.

    Burchardt: War da gegenseitige Panik unterwegs?

    Baum: Ja, ja. Es war nicht mehr zu reparieren, vielleicht im Sommer noch. Aber diejenigen in der FDP, die das nicht mehr wollten, waren sehr stark und übrigens auch in der SPD gab es eine ganze Reihe der jungen Leute, die aus der Koalition raus wollten. Lafontaine, Schröder, die hatten kein Interesse mehr.

    Burchardt: Nur die Motive waren natürlich auch schlecht.

    Baum: Und dann gab es diesen Aderlass, dass ein Teil der linken, wirklich herausragenden auch Politiker und Mitglieder die FDP verlassen haben. Mir wurde angeboten, Justizminister im Kabinett Kohl zu werden. Ich habe das abgelehnt. Das war mir nicht möglich, auch politisch nicht möglich, nach der ganzen Vorgeschichte. Und wir haben dann darunter gelitten, dass unsere Freunde eben zu einem Teil nicht mehr da waren. Wir wurden marginalisiert.

    Burchardt: Da würde ich ganz gern noch etwas verharren. Das waren ja nun wirklich Ihre ganz intensiven und intimen Wegbegleiter, Andreas von Schoeler, Ingrid Matthäus-Maier, Günter Verheugen, die gingen alle zur SPD. Haben Sie nicht irgendwann mal abends, vielleicht auch bei einem Glas Rotwein, mal darüber nachgedacht? Oder gab es auch, Sie sagten selber, man hat Ihnen aus der zu entstehenden Regierung Kohl das Justizministerium angeboten, gab es nicht irgendwo von den Sozialdemokraten auch dann noch mal Lockangebote.

    Baum: Nein. Ich wollte nicht in eine andere Partei gehen, das war für mich klar, auch für meinen Freund Hirsch, Hamm-Brücher, wir sind geblieben. Das Einzige, was ich überlegt habe, ob ich aus der Politik überhaupt rausgehe. Und da kam die trotzige Reaktion bei mir, ich überlasse die FDP nicht den anderen, und habe dann kandidiert auf dem Parteitag und bin Stellvertreter Genschers geworden. Das war plötzlich, auf dem Berliner Parteitag war ich plötzlich Stellvertreter Genschers, passte auch überhaupt nicht mehr in das Bild der FDP.

    Burchardt: Aber Genscher war damals doch erheblich unter Druck, und er hatte auch einen parteiinternen Gegenkandidaten, Uwe Ronneburger, der dann allerdings nicht gewählt wurde. War das nicht für die FDP eigentlich auch ein Stück, ja, wie soll ich sagen, Selbstfindung oder anders formuliert, war das nicht auch tatsächlich Identitätskonflikt?

    Baum: Die FDP hat einen Teil ihrer Identität verloren. Sie wurde dann immer stärker zur Wirtschaftspartei. Der Wirtschaftsflügel war die FDP. Die FDP-Programmatik verengte sich, Lambsdorff wurde Vorsitzender, brachte das dann auch zum Ausdruck in seiner Person. Also, die Entwicklung, die die FDP dann genommen hat, hat uns, sage ich mal, auch meinen Freund Hirsch, resignieren lassen. Wir hatten das Gefühl, wir werden nicht mehr gebraucht, wir stören nur bei den neuen Wählern, die man erreichen wollte.

    Burchardt: Haben Sie sich plattgemacht gefühlt?

    Baum: Ja. Ich bin dann 1994 nicht mehr aufgestellt worden und war auch froh darüber. Eigentlich hätte ich früher gehen müssen. Und ich habe eben dann angefangen, meine politischen Vorstellungen auf andere Weise geltend zu machen, bis heute, wo ich es praktisch mit meinen Freunden als freischaffender Liberaler tue vor dem Verfassungsgericht. Die FDP hat uns diese Möglichkeiten nicht mehr gegeben. Erst langsam ändert sich das jetzt.

    Burchardt: Ist denn der politische Liberalismus durch den politischen Pragmatismus, ich will jetzt nicht sagen plattgemacht worden, aber zumindest dominiert worden?

    Baum: Ja, es fehlte eigentlich an liberaler Substanz, nicht wahr. Die FDP hatte auch keine intellektuelle Attraktivität mehr, die sie mit Dahrendorf und Maihofer hatte und Klug und anderen. Sie bewegte auch keine gesellschaftlichen Diskurse mehr.

    Sie werkelte vor sich hin als Wirtschaftspartei, manchmal hatte ich das Gefühl, ihre Presseerklärung sind Presseerklärungen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.

    Burchardt: Wie schmerzhaft, Herr Baum, war eigentlich in dieser Phase für Sie, der Sie immerhin mal der Bundesvorsitzende waren, die Auflösung der Jungdemokraten hin zu den Jungen Liberalen, und da gibt es nur einen Namen, der heißt Westerwelle, bis auf den heutigen Tag?

    Baum: Ja, war schmerzhaft, war schmerzhaft. Obwohl die Jungen Demokraten dann vollkommen sich auch von mir entfernt hatten, sie wurden zu einer antikapitalistischen Truppe, die sich sehr weit von meinen liberalen Grundvorstellungen entfernt hat.

    Burchardt: Haben Sie versucht, das noch zu verhindern?

    Baum: Es war nicht verhinderbar. Wir hatten ja noch Einfluss, auch nachdem ich nicht mehr Bundesvorsitzender war. Aber das änderte sich dann und es kam zu diesem Niedergang. Und die jungen Liberalen wurden dann gefördert, und das war schon schmerzhaft und nicht vergessen.

    Burchardt: Es heißt, ein Erbe von Erich Mende setzte sich 20 Jahre später durch?

    Baum: Ja gut. Dann kamen ganz andere Menschentypen auch in die Politik. Wir haben eigentlich nie an unsere Karriere gedacht. Wir wollten etwas politisch durchsetzen, wir waren von politischen Überzeugungen getragen, wir gingen auf Parteitage, um was zu verändern.

    Hier in Köln habe ich einen Film über die KZ-Gräuel Sonntragfrüh in einem Kino gezeigt. Das führte zum Aufstand der FDP, die das nicht wollten als Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, neue Ostpolitik, Umweltpolitik, das waren unsere Themen. Und jetzt kamen dann doch eher Menschen, die nicht so, würde ich mal sagen, irgendwo besessen waren von Politik, sondern kühle Pragmatiker.

    "Baum: Vieles ist falsch gemacht worden, aber im Grunde gab es keine Alternative."

    Einsatz für Freiheit in Einheit und für Menschenrechte

    Burchardt: Deutsche Einheit ist das nächste Stichwort. Ende der 80er-Jahre, 1989 fiel die Mauer. Der Hallenser Genscher war sicherlich einer, der sich am meisten da gefreut hat. Wenn man jetzt mal zurückdenkt aus dieser Sicht, deutsche Währungseinheit im Juli bereits, 1990, und dann tatsächlich das Einheitsdatum, die Wahl im Dezember, 3. Oktober wurde zum Einheitstag gewählt. Ist das alles nach dem Motto "Deutschland eilig Vaterland" falsch gelaufen?

    Baum: Ja, es ist vieles falsch gelaufen. Ich habe in der Zeit, wo ich in der FDP eigentlich nicht mehr gebraucht wurde mit meinem Freund Hirsch, haben wir uns auf das Menschenrechtsfeld konzentriert. Wir sind nach Südafrika gefahren, in den Nahen Osten, wir haben Militärdiktaturen besucht in Südkorea, in der Türkei und eben auch in der DDR. Wir waren an den Montagsdemonstrationen dabei. Wir haben Freundschaften aufgebaut mit den Dissidenten und bis dann eben zur Einheit.

    Ich werde nie vergessen, wie ich neben Genscher auf dem Hallenser Marktplatz stand vor einer unübersehbaren Menschenmenge und dann Genscher als Hallenser in seiner Heimatstadt begrüßt wurde. Das waren wunderbare Erlebnisse. Vieles ist falsch gemacht worden, aber im Grunde gab es keine Alternative.

    Burchardt: Auch die Geschwindigkeit war richtig?

    Baum: Nein, gab es nicht.

    Burchardt: Die Liberalen sind da ein bisschen verschwunden so in der öffentlichen Wahrnehmung. Und war das Ihre Chance, auch dann außerhalb der Politik, außerhalb von Mandaten zu sagen, ich kümmere mich jetzt um Menschenrechte, ich kümmere mich um das Verhindern des Ausrastens der inneren Sicherheit und dergleichen Dinge mehr? Sie sind ja auch UNO-Menschenrechtsbeauftragter gewesen.

    Baum: Ja, ich war sechs Jahre in einem zentralen UNO-Gremium der deutsche Delegationsleiter der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Und das war sehr, sehr interessant und wichtig. Ich bin sehr viel gereist, war mitunter ein Vierteljahr nicht in Deutschland, sondern im Sudan. Ich war da später auch noch Sonderberichterstatter für den Sudan. Das hat mich sehr erfüllt und trägt mich auch heute noch in vielen Aktionen bei Amnesty und Human Rights Watch. Ich habe mir dann andere Betätigungsfelder gesucht, bis hin zu den Verfassungsbeschwerden, die wir jetzt...

    Burchardt: Kommen wir gleich noch drauf.

    Baum: ... in Serie, in Serie ...

    Burchardt: Aber doch noch mal vielleicht zu den Menschenrechten. Gerade die Menschenrechtskommission, die nun alljährlich in Genf tagte, hat Sie das nicht auch irgendwie verzweifeln lassen, dass man eigentlich immer wieder feststellte, außer Spesen nichts gewesen? Denn die Lage der Menschenrechte hat sich ja eher verschlechtert als verbessert?

    Baum: Nein, es war nicht zu verzweifeln. Ab und zu musste man gegen Resignation ankämpfen. Genf ist jedes Jahr ein Forum von vielen, vielen Menschen aus einer ganzen Welt, die sich um die Menschenrechte bemühen. Auch wenn die Beschlüsse schwierig sind, klare Beschlüsse sind schwierig, die Täter haben die Mehrheit gegenüber den Opfern, auch in diesen Gremien.

    Aber ich habe mich immer als Verbündeter derjenigen empfunden, die in unterdrückten Gesellschaften für die Freiheit kämpfen und die brauchen uns. Genf war auch immer eine Ermutigung derjenigen, die auf uns gesetzt haben. Allein ein Bericht, in dem minutiös aufgelistet worden ist, wer wann gefoltert worden ist, war schon wichtig für die, dass sie wahrgenommen wurden in ihrer Lage. Also, diese Gremien haben durchaus eine Funktion.

    Burchardt: Sie haben ein Stichwort eben genannt, Herr Baum, und da muss ich Sie einfach sozusagen im Wortsinne beim Wort nehmen: Freiheit. Das war ja gerade nach der Einheit für die ehemaligen DDR-Bürger nun das goldene Juwel, das man sah, das glänzende Juwel.

    In der Praxis sah es dann für viele viel anders aus. Sie hatten die Freiheit, arbeitslos zu werden, sie hatten die Freiheit, in Hartz IV zu gehen und haben offensichtlich auch zunächst mal sehr viel Probleme gehabt, sich mit dem System zurechtzufinden und in dem System zurechtzufinden. Hat man Sie da allein gelassen?

    Baum: Ja und nein. Die Ausgrenzung beispielsweise derjenigen, die das System mitgetragen haben, habe ich bis heute nicht für richtig angesehen. Was ich sehr bedauert habe, auch bei denen, die zur FDP gekommen sind, dass sie in einem Obrigkeitsdenken verhaftet blieben. Die deutsche Geschichte ist ja gekennzeichnet seit Luther, dass die Obrigkeit eine gewisse Rolle spielt. Es gab eine Tendenz, im 19. Jahrhundert glaubte man, die Freiheit im Obrigkeitsstaat verwirklichen zu können.

    Diese obrigkeitsstaatliche Gesinnung, die mir völlig fremd ist, hat sich da fortgesetzt. Sie waren für einen Rechtsstaat, liberalen, waren die DDR-Liberalen keine Hilfe, muss ich mal sagen. Und wenn ich das jetzt rückblickend sage, muss ich bei aller Kritik, die ich an der heutigen Situation habe, an der Erosion der Grundrechte sagen, zum ersten Mal haben wir in den letzten Jahrzehnten nach dem Kriege eine wirklich geglückte Demokratie aufgebaut, die wir leben.

    Burchardt: Das ist ja ganz interessant, wie Sie die Liberalen der DDR nach der Einheit betrachten. Vor der Einheit galt ja die LDP eigentlich als das Freiheitsliebendste, was es in der DDR offensichtlich gab. Haben wir da vom Westen aus eine falsche Sicht gehabt?

    Baum: Offenbar. Die Freiheitsleute waren diejenigen, die in der evangelischen Kirche parteiungebunden, Dissidenten waren. Und mit denen hatte ich dann vielen Kontakt, und die habe ich heute noch zu Freunden.

    "Baum: Ich sehe in der Praxis der Politik Grundrechte gefährdet."

    Die Sicherung der Verfassungsgrundlagen

    Burchardt: Herr Baum, Sie haben eben die Verfassungsbeschwerden genannt. Und da sind auch, wenn ich das so formulieren darf, die alten Kämpfer, die alten, kennt man, wieder unterwegs, Burkhard Hirsch, haben Sie auch genannt, Hildegard Hamm-Brücher, die, ich sage es jetzt einfach mal überspitzt, die wahren Liberalen.

    Baum: Frau Leutheusser-Schnarrenberger nicht zu vergessen.

    Burchardt: Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Und es ging da ja um das Luftsicherheitsgesetz beispielsweise, es ging um den großen Lauschangriff. Und in den meisten Fällen haben Sie ja Recht bekommen, zumindest auch in den Zwischenstationen. Sehen Sie denn aktuell Grundlagen der inneren Sicherheit durch überzogene staatliche Reglementierung gefährdet?

    Baum: Ja, absolut. Wir sind auf dem Wege in einen Überwachungsstaat durch eine Vielzahl von Maßnahmen, nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Administration. Also, wenn man jetzt in den Zeitungen ganz aktuell liest, dass zum Beispiel die Amerikaner die Laptops abtasten, die Einreisende mit sich führen und dann die Informationen weit gestreut werden, warum verhindern wir das nicht in Abkommen mit den Amerikanern?

    Aber wir haben selber hier eine sicherheitspolitische Aufrüstung ohnegleichen in den letzten Jahrzehnten gehabt ohne Rücksicht auf die Bürgerrechte. Es ist nicht abgewogen worden, ob ein Sicherheitsgewinn wirklich mit einer Maßnahme verbunden ist und ob er gerechtfertigt ist angesichts des Verlustes an Freiheit. Und wir haben versucht, das zu korrigieren mit diesen Verfassungsbeschwerden und der zuständige Richter am Verfassungsgericht hat jetzt einmal gesagt: "Wir haben nur punktuell etwas erreicht." Denn die ganze Tendenz setzt sich fort. Übrigens sind wir auch auf dem Wege in Überwachungsbürokratien durch private Firmen, immer mehr. Die Freiheit ist die Freiheit der Privatheit.

    Burchardt: Also auch der Datenklau?

    Baum: Ja. Die Freiheit der Privatheit, ohne die eine freie Gesellschaft überhaupt nicht vorstellbar ist. Der Mensch muss gewiss sein, dass es Zonen gibt, wo er nicht überwacht wird, das ist alles in Gefahr. Und wir haben da versucht, gegenzuwirken mit der Beschwerde gegen den Lauschangriff, der gesagt hat, es gibt einen Kernbereich in der Wohnung, wo der Staat nichts zu suchen hat, gegen die Online-Durchsuchung, also die Privatheit der Festplatte, haben wir Erfolg erzielt und beim Luftsicherheitsgesetz ging es um den Abschuss von Passagiermaschinen.

    Dahinter steht ein wunderbarer Grundsatz unserer Verfassung, der Schutz der Menschenwürde, und der ist nicht abwägbar, der darf nicht relativiert werden. Das ist die Botschaft.

    Burchardt: Darf ich daraus schließen, dass Sie unsere Grundrechte gefährdet sehen?

    Baum: Ich sehe in der Praxis der Politik die Grundrechte gefährdet. Unsere Politik erprobt die Belastbarkeit der Verfassung, die sehr gezielt die Konsequenzen aus den Katastrophen gezogen hat, die Verfassungsväter und -mütter haben das sehr genau gemacht. Und in der Politik geht das jetzt flöten zum Teil, wir leben mit Angstszenarien, es wird der Ausnahmezustand suggeriert, dann im Ausnahmezustand wird eben das Recht nicht mehr voll angewendet, es wird Kriegsrecht eingeführt werden. Wir betrachten die Terroristen nicht mehr als Kriminelle, sondern als Feinde. Diese Tendenzen gibt es. Und dem müssen wir entgegenwirken, sonst nimmt unsere Gesellschaft Schaden - und sie hat schon Schaden genommen.

    Burchardt: Es gab ja nun zwei Ihrer Nachnachfolger, die dafür stehen, nämlich Otto Schily, SPD, und Wolfgang Schäuble, CDU. Die FDP ist im Moment in der Opposition, versucht dort, sich auch zu positionieren. Gibt es eigentlich für die FDP aus Ihrer Sicht heute einen akzeptablen Koalitionspartner? Es könnte ja für die Bundestagswahl auf eine sozialliberale Koalition hinauslaufen, zumindest Frau Merkel will ja Schwarz-Gelb und Herr Westerwelle offenbar auch.

    Baum: Das Naheliegendste ist natürlich nach wie vor eine Koalition mit den Christdemokraten bei allem, was uns trennt, das muss man auch sagen.

    Burchardt: Würden Sie das auch befürworten?

    Baum: Ja, ich würde sagen, da gibt es eine gewisse Priorität, aber keine Ausschließlichkeit.

    Burchardt: Warum?

    Baum: Ich wehre mich gegen diese Ausschließlichkeiten. Ja, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt es diese in der Innen- und Rechtspolitik schon nicht.

    Burchardt: Aber das ist doch ein Wahnsinnskonfliktfeld, Sie haben es ja gerade beschrieben.

    Baum: Es wird ja immer das Trennen zur SPD betont. Und das Trennen der CDU wird aus Sicht mancher in der FDP einfach unter den Tisch gekehrt. Da gibt es natürlich auch sehr vieles, die Außenpolitik, es mit der SPD genauso zu machen, und die Innen- und Rechtspolitik. Realistischerweise sage ich, gibt es eine gewisse Priorität auch in der nächsten Bundestagswahl. Aber ich wehre mich mit Entschiedenheit gegen dieses Lagerdenken, gegen diese Ausschließlichkeit. Ich meine, die FDP hat sich jetzt schon wieder gebunden, Herrn Köhler zu wählen.

    Dieses Lagerdenken, dass dann zu den hessischen Zuständen führt, wo keiner mehr mit dem anderen kann, ist verheerend. Diese Feindbilder zwischen den Parteien müssen abgebaut werden. Und die FDP muss ihre Unabhängigkeit beweisen, auch mit anderen Koalitionen.

    Burchardt: Sie haben vorhin ja in einem kleinen Nebensatz gesagt, Sie wehren sich auch dagegen, dass man das Alterbe, ich sage es ganz deutlich, die Linken waren da sicherlich gemeint von Ihnen aus der DDR, immer wieder ausgrenzt. Gibt es für Sie ein vorstellbares Szenario der Integration? Ich meine, in der SPD gibt es im Moment ja quasi einen Existenzkampf wegen der Positionierung zu den Linken.

    Baum: Die FDP hat keine Probleme mit den Abgeordneten und den Politikern aus dem Osten, jedenfalls nicht mehr als sonst. Ich plädiere für einen differenzierten Umgang mit der Linkspartei, so wie Frau Schwan das etwa in Diskussionen macht. Diese totale Ausgrenzung halte ich für völlig falsch.

    Burchardt: Würden Sie denn der FDP sagen: "Wählt Frau Schwan"?

    Baum: Ja, für mich ist sie eine akzeptable Kandidatin. Jedenfalls kommt sie für mich auch in Betracht. Sie ist eine Frau, die mir politisch imponiert.

    Burchardt: Vielen Dank, Herr Baum!