Steven Uhlys Roman basiert auf einem perfekten Racheplan. Erst in der Besucherkabine einer Haftanstalt wird der Angeklagte begreifen, wer ihn über Wochen hinweg mit Worten sexuell erregt und zur körperlichen Drangsalierung eines minderjährigen Chorknaben verführt hat. Der Hauptspielort dieses brillant geschriebenen Buches ist eine Kirche in einem ärmlichen Außenbezirk von Madrid. Fast täglich kommt ein Mann dorthin zur Beichte. Er hat den Beichtvater ausgespäht und beobachtet, welches Kind in das Beuteschema des von Sevilla nach Caracas und in weitere Städte versetzten Pfarrers passen könnte. In Madrid, dem – so Uhly – „Vatikan der spanischsprachigen Welt“, genießt der Padre Schutz. 20 Jahre zuvor hat er den Beichtenden in Lima missbraucht. Dieser will den Priester in eine Falle locken und dafür braucht es ein Opfer.
„‘Ich habe gesündigt, Padre […] in Gedanken habe ich gesündigt, und ich fürchte mich vor dem, was den Gedanken entspringen kann.‘ […] ‚Die Wahrheit wird dich befreien‘, sagt der Padre und weiß im Moment nicht, aus welchem Evangelium er zitiert. ‚Die Wahrheit‘, sagt die Stimme auf der anderen Seite bitter. ‚Die Wahrheit hätte mich vielleicht davon befreit, als ich noch ein Kind war, Padre. Aber heute schmeckt sie vergoren auf meiner Zunge, weil sie so lange dort gelegen hat.‘ Mein Gott, denkt der Padre, ein neunmalkluger Poet. Dann verbietet er sich jeden weiteren abschätzigen Gedanken und versucht, mit dem Herzen zuzuhören. ‚Du weißt nicht, was geschieht, wenn sie einmal ausgesprochen ist‘, versucht er den Sünder zu animieren. Er will jetzt endlich das Vergehen hören.“
Sich an der Schuld des Anderen schuldig machen
Minutiös, dabei knapp, beschreibt Uhly, wie es dem Geistlichen immer weniger gelingt, Provokationen des Beichtenden mit Bibelzitaten und Doktrin zu parieren, wie der Kleriker sich allmählich in sexuellen Fantasien verliert und sich sogar zu einer verdeckten Beichte hinreißen lässt über Begierden, die „dem falschen Objekt“ galten. Das Wort Objekt verrät den Mann. Er ist ein „Schläfer“, der sich einredet, Sex mit Minderjährigen sei nur der Versuch, eine „kindliche Form der Liebe“ wiederzufinden.
„Die Summe des Ganzen“ spielt auf den Predigervers 12 an. Der definiert „die Summe aller Lehre“ als das Gesetz, Gott zu fürchten und seine Gebote zu halten. Steven Uhlys Protagonisten brechen das Gesetz fortwährend. Der Pfarrer, weil er nach vier Jahren der Selbstbeherrschung rückfällig wird und danach verlangt, einen Minderjährigen genital zu berühren - und der Beichtende, weil er von der Idee besessen ist, er könne sich aus seiner Opferrolle nur befreien, wenn er selber schuldig wird. Erschreckend echt täuscht er Leidenschaft für einen Jungen vor, der im Chor des Padre singt, und nimmt in Kauf, dass dem Kind Gewalt angetan werden könnte. Uhly zeigt die moralische Schwere der Verführung zu einem kriminellen Vergehen auf, aber er enthält sich des Urteils über den in sich gefangenen, einst missbrauchten Mann.
Wie trockenes Unterholz im Sommer
„Lucas Fernandez verlässt die Kirche wie jemand, der auf der Flucht ist. [...] Er müsste jetzt eigentlich eine Beichte über die Beichte ablegen. Die Sünde ist auf dem Weg, denkt er gehetzt, sie ist auf dem Weg und nichts kann sie aufhalten. Er denkt an den Knaben […], nie wird er gutmachen können, was er im Begriff ist, ihm anzutun.“
Steven Uhly zeigt, wie fatal es ist, permanent mit verstellter Stimme zu sprechen. Wie auf seinen „Henker“ wartet der Geistliche im dunklen Gehäuse des Beichtstuhls auf das Erscheinen des gesichtslosen Sünders. Das Besondere dieses Romans ist, dass der Autor ihn als doppeltes Selbsterkennungsdrama angelegt hat. Pädophile, kriminelle Priester wissen nicht, was Liebe ist und können Sünde, so Uhly, „nur denken, aber nicht fühlen“. Ihre durch die Institution Kirche so oft gestützte seelische Armut und Verkommenheit ist der Schlund, in den der Autor blicken lässt. Gleichzeitig verbietet er sich, Rachefantasien zu bedienen.
Das Ende seiner Mission bringt dem Rächer keine Erlösung. Er ist ein Täter, den niemand vor Gericht bringen kann, denn er hat nur anonyme Worte gesprochen. Worte fehlen ihm bitter, als er nach dem Besuch im Gefängnis darum ringt, zu verstehen, wohin sein Leben treibt. Und der bedrängte Junge? Er scheint mit einem Schrecken davongekommen zu sein. Dass er sich nicht schamvoll verbirgt und bereit ist, auf dem Polizeirevier auszusagen, ist der Hoffnungsschimmer in diesem komplexen, hochliterarischen, dabei politisch aktuellen Roman.
Steven Uhly: „Die Summe des Ganzen“, Secession Verlag, Berlin, 156 Seiten, 22 Euro.