Montag, 29. April 2024

Gesellschaft ohne Wärme
Die Renaissance der Gemeinschaftsideologie

Je zersplitterter die Gesellschaft, je individualistischer die Lebensführung, desto stärker das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach einer echten und tragenden Verbindung zwischen Individuen. Diese verständliche Sehnsucht hat jedoch auch Schattenseiten.

Von Stefan Kühl | 14.04.2024
Lagerfeuer mit Menschengruppe als Silhouette in der Dämmerung
Im Laufe ihres Lebens suchen Menschen das Gefühl der Zugehörigkeit und der Geborgenheit in unterschiedlichen Gemeinschaften (IMAGO / Panthermedia / gue36)
Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus erteilte die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft dem Traum großer Gemeinschaften eine Absage - durch ihren Rückzug auf die Kleinfamilie, Freundeskreise und Nachbarschaften.
Wenn derzeit nun wieder unter dem Label der „Remigration“ von der ethnischen Säuberung der deutschen Gesellschaft geträumt wird, scheint die Idee der Gemeinschaft eine Renaissance zu erleben.
Das wohlige Wir-Gefühl, das von dieser Idee ausgeht, ist aber wohl nur um den Preis des vollständigen Aufgehens des Individuums in der Gemeinschaft zu haben. Ob das in der Spätmoderne wünschenswert sein kann?
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zugleich berät er Unternehmen, Verwaltungen und Ministerien in Fragen der Organisations- und Strategieentwicklung. Zuletzt sind von ihm u.a. die Bücher „Der ganz formale Wahnsinn: 111 Einsichten in die Welt der Organisationen“ (Vahlen Verlag) und „Ganz normale Organisationen – Zur Soziologie des Holocaust“ (Suhrkamp Verlag) erschienen.

Ein kleines Rädchen in der Arbeitswelt, ein bloßer Gegenstand der Verwaltung, ein Wesen, auf sich zurückgeworfen in der Wahl seiner Freizeitinteressen, für das es zudem immer weniger verbindliche soziale Strukturen oder oft nur auf Dauer gestellte intersubjektive Nahbeziehungen und Bindungen gibt. In der modernen Gesellschaft kann sich der Mensch leicht verloren fühlen. Und überfordert. Mit der Industrialisierung zogen im 19. Jahrhundert immer mehr Menschen von den Dörfern mit ihren engen persönlichen Bindungen in die Städte mit ihrer höheren Anonymität. Die auf Privateigentum basierende Wirtschaftsordnung verlangte eine immer stärkere Mobilität ihrer Arbeitskräfte. Die traditionellen Großfamilien wurden dabei durch Kleinfamilien ersetzt. Die vertrauten Milieus der Ständegesellschaft lösten sich auf.
Die kapitalistische Wirtschaftsordnung, so schon die Kritik von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest, hätte in Gestalt der Bourgeoisie die „buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘“. „Sie“, so Marx und Engels, „hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmuth in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“ Also nur die kalte Welt des Kapitalismus?
Gewiss – man kann die Entwicklung der modernen Gesellschaft auch deutlich positiver lesen. Dem Menschen bieten sich – jedenfalls wenn er in den demokratischen Staaten lebt – bis dahin nicht gekannte Freiheiten. Anders als in der Feudalgesellschaft hat er die Möglichkeit, unterschiedliche Rollen miteinander zu kombinieren. Er kann im Unternehmen als dominanter Macher auftreten, sich gleichzeitig in einer völkischen Partei engagieren, sich im Sportverein vom Trainer antreiben lassen, in seiner Familie an der Bockigkeit der eigenen Kinder verzweifeln und sich in außerehelichen sexuellen Beziehungen an devoter Unterwerfung erfreuen.
Einige diese Rollenkombinationen mögen begründungspflichtig sein. Die Mitgliedschaft in einer völkischen Partei ist heutzutage nicht ohne weiteres oder jedenfalls noch nicht mit einer prominenten, öffentlichen Unternehmensrolle vereinbar. Sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe sind in den meisten Fällen immer noch begründungspflichtig. Aber insgesamt fällt auf, wie frei der Mensch bei der Kombination seiner unterschiedlichen Rollen ist. Das Motto der modernen Gesellschaft scheint zu sein: „Nimm dir das Leben, das du wirklich willst“. So lautet der Titel eines populären Sachbuchs, das auffordert, weniger zu arbeiten und mehr Spaß zu haben. Und wer will das nicht? Angesagt sind Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Authentizität. Individualisierung ist der inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangene soziologische Fachbegriff für die immer weiter wachsenden Möglichkeiten zur Zusammenstellung eines ganz eigenen Rollenmixes.
Aber auch die Kosten dieser Freiheit sind hoch. Beim Basteln an der eigenen Identität kann man leicht heimatlos werden. Als Reaktion darauf wird alle paar Jahre der Ruf nach mehr oder einer erneuerten Gemeinschaft angestimmt. Aber warum genau ist das so? Was steckt hinter der Popularität dieser Idee von Gemeinschaft? Welche Formen werden propagiert? Welche Gefahren sind mit diesem Konzept verbunden?
Zunächst werden mit der Idee der Gemeinschaft aus der Perspektive moderner ausdifferenzierter Gesellschaften vielfältigste Hoffnungen verbunden. Frei nach dem Motto: Früher war ohnehin alles besser. In Gemeinschaften würden Menschen nicht mehr nebeneinanderher leben, sondern sich verbunden fühlen und sich gegenseitig unterstützen. Anstatt verhärteter Konflikte im Inneren käme es in Gemeinschaften zu Konfliktlösungsmechanismen, die auf Vertrauen basieren und das Leben für alle leichter machen würden. Die Menschen seien zwar auch in der Gemeinschaft nicht alle gleich, aber die Zugehörigkeit zu ihr würde die Statusunterschiede nivellieren und so den Menschen eine gemeinsame Heimat bieten. Dadurch entstände eine innere Geschlossenheit, die es ermögliche, nach Außen mit kollektiver Stärke aufzutreten.
Schon bei dieser Beschreibung setzt ein Gefühl von Wohligkeit ein. ‚Gemeinschaft‘ gehört, so der Soziologe Zygmunt Bauman, zu den Worten, die neben einer Bedeutung auch ein Gefühl vermitteln. Gemeinschaft lässt die Sehnsucht nach tiefer Geborgenheit, nach Gemütlichkeit aufkommen. Sie ist, so Bauman, das Dach, unter dem man bei starkem Regen Schutz sucht, der Feuerplatz, an dem man sich in frostigen Tagen die Hände wärmt. Kurz: Es fühlt sich gut an, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Schon in den ersten sozialwissenschaftlichen Ausarbeitungen des Gemeinschaftsbegriffs werden die Verheißungen einer warmen Gemeinschaft in der Gegenüberstellung mit den Konturen einer kalten Gesellschaft geschärft. Gesellschaft wird, so schon die kritische Betrachtung des Journalisten und Soziologen Siegfried Kracauer, „als anorganisches Getriebe entseelter Menschen“ in einer „durch Kapitalismus und Technik mechanisierten Welt“ gesehen. Die Gemeinschaft wird bei ihm dagegen als die Summe „sinnvoller Beziehungen zwischen voll entfalteten Menschen“ dargestellt. Die Gesellschaft, die „wirtschaftliche und technische Interessen in den Mittelpunkt“ stelle und „lediglich äußere Verbindungen zwischen den Gesellschafts-Atomen“ zuließe, werde mit der Gemeinschaft kontrastiert, in der sich Mitglieder mit ihrer „gesamten Existenz“ einbringen und daraus „Kraft und Bedeutung“ ziehen könnten.
Früh gab es in den Sozialwissenschaften Versuche, Gemeinschaft und Gesellschaft lediglich analytisch gegenüberzustellen und sich einer Wertung zu enthalten. Max Weber beschrieb mit den Begriffen der Vergemeinschaftung und der Vergesellschaftung zwei Entwicklungslinien des Sozialen, die zwar gegensätzlich seien, aber gleichzeitig stattfinden könnten. Während die Vergemeinschaftung auf eine durch Tradition oder Emotion ausgelöste, subjektiv gefühlte Zusammengehörigkeit ziele, setze die Vergesellschaftung auf einen Interessensausgleich zwischen rational agierenden Akteuren. Aber diese soziologischen Kämpfer für eine lediglich analytische Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft blieben einsame Rufer.
Im Diskurs dominierten mehr oder minder stark in der Wissenschaft verankerte Zeitdiagnostiker, die Gemeinschaft als Antwort auf die verheerenden Effekte einer zunehmenden kühl-rationalen Vergesellschaftung begriffen. Selbst beim Soziologen Ferdinand Tönnies, der die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts prominent machte, sind deutliche Sympathien für das Konzept der Gemeinschaft zu erkennen. Diese entstehe, so die Verfechter der Idee, organisch und sei deswegen im Prinzip gut, während die Gesellschaft künstlich geschaffen werde und deswegen als schlecht zu bewerten sei. Konsequenterweise beklagen sie die Zerstörung der Gemeinschaft durch die anonymisierenden Mechanismen der modernen Gesellschaft und fordern eine Rückkehr zu gemeinschaftlichen Prinzipien.
Der Gedanke der Gemeinschaft bedient sich der Vorstellung, dass das Zusammenleben in kleinen sozialen Gebilden eine besondere Erfahrungsqualität besitzt. Familien, Verwandtschaften, Freundschaften, Nachbarschaften, Sippen und Stämme basieren auf einer genauen Kenntnis der anderen Personen und können sich so über personenbezogene Erwartungen stabilisieren. Man kennt seinen Liebespartner, seine beste Freundin, seine Eltern oder seine Kinder jeweils als Person mit all ihren Eigenheiten und stellt sich mehr oder minder gut auf diese ein. Im Hintergrund mögen immer wieder breit geteilte Vorstellungen durchschimmern, wie man sich als Liebespartner, Freundin, Elternteil oder als Kind zu verhalten habe. Aber das regelmäßige Wiedersehen ermögliche es, sehr spezifische, personenbezogene Erwartungen aufzubauen.
Immerhin wäre es ja möglich, sich die Gesellschaft als eine Ansammlung von solch kleinen Gemeinschaften zu erträumen, damit die tiefen sozialen Bindungen in der Gesellschaft aufgehoben sind. Man stellt sich die Gesellschaft dann als eine Ansammlung unterschiedlicher Formen von Kleinfamilien, Freundesgruppen oder Liebesziehungen vor, in denen der Mensch seine Heimat finden kann.
Die Verlockung ist groß, die Idee der Gemeinschaft nicht nur in kleinen sozialen Gebilden zu suchen, sondern sie als Leitbild auf größere Systeme zu übertragen. Die Idee der Gemeinschaft wird dann nicht mehr nur in Vorstellungen von Liebesbeziehungen, Kleinfamilien oder Freundesgruppen gesucht, sondern findet sich als Zielvorstellung in Protestbewegungen, religiösen Zusammenschlüssen, ethnisch homogenen Nationen, patriarchal geführten Unternehmen, selbstverwalteten Betrieben, sozialistischen Parteien oder faschistischen Staaten. Man braucht sich, so die Vorstellung, gar nicht persönlich zu kennen, um ein Gefühl von Gemeinschaft zu empfinden. Damit ist eine entscheidende Transformation dieser Idee verbunden.
In der deutschsprachigen Diskussion wurde die Idee der Gemeinschaft früh mit dem Konzept des Volkes verknüpft. Die Volksgemeinschaft war nach diesem Verständnis nichts anderes als das „Volk in Gemeinschaft“. Gemeinschaftsgedanke und Volksgedanke fielen faktisch zusammen. Mit dem Ersten Weltkrieg wurde der Begriff der Volksgemeinschaft in Deutschland zu einem inflationär gebrauchten, häufig irrational aufgeladenen Begriff. Die Volksgemeinschaft wurde zu einer politischen Sehnsuchtsformel, mit der die Hoffnung auf ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden werden konnte.
Als beherrschende politische Deutungsformel war das Konzept der Volksgemeinschaft dabei an eine Vielzahl von politischen und religiösen Diskursen anschlussfähig. Es wurde von fast allen politischen Parteien und religiösen Richtungen in der Weimarer Republik genutzt. Anarchisten, Sozialdemokraten und Liberale verwendeten es wie Konservative und Nationalsozialisten auch.
Der Grund für die Anschlussfähigkeit an unterschiedliche politische und religiöse Diskurse war die Unbestimmtheit des Begriffs der Volksgemeinschaft. Die Bedeutung sowohl des Begriffs Volk als auch des der Gemeinschaft sind so nebulös, so flottierend, dass damit unterschiedlichste Vorstellungen assoziiert werden können und diese von Situation zu Situation, von Kontext zu Kontext unterschiedlich benutzt werden können.
Die Nationalsozialisten waren letztlich nur diejenigen, die den Begriff der Volksgemeinschaft am konsequentesten in ihrer eigenen Ideologie verankerten. „Nationalsozialistische Volksgemeinschaft“ sei, so der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, die „erzielte Verständigung der Volksgenossen untereinander, mithin der Ertrag sozialistischen Denkens.“ Im gleichen Sinne betonte der Staatssekretär im Reichsministerium des Inneren Wilhelm Stuckart, die Volksgemeinschaft sei „vom Nationalsozialismus in den Mittelpunkt allen Seins gestellt worden“. Man betrachte sie als die „einzige menschliche Gemeinschaft, die umfassend und selbständig ist, die für sich besteht und sich aus sich selbst erneuert“. So Wilhelm Stuckart.
Die nationalsozialistische Ideologie baute auf der Definition der Volksgemeinschaft als – wie es damals hieß – „rassisch bestimmter Blutsgemeinschaft“ auf. Voraussetzung für das Recht, in der Gemeinschaft leben zu können, sei, so die Vorstellung der Nationalsozialisten, die Einheit des Blutes und der Rasse. Wenn die Volksgemeinschaft als Rassegemeinschaft verstanden wird, fallen automatisch alle Personen aus dieser Volksgemeinschaft heraus, die den mehr oder minder willkürlich bestimmten Rassekriterien nicht entsprechen.
Bei der rassistischen Aufladung des Konzepts der Volksgemeinschaft findet sich die für die nationalsozialistische Ideologie typische Verknüpfung von ethnischem und eugenischem Rassismus. Der ethnische Rassismus richtete sich gegen Personengruppen, die nach willkürlich eingegrenzten Kriterien als „rassisch andersartig“ definiert wurden. Zu den rassisch Andersartigen wurden im NS-Staat – einer eigenwilligen Interpretation von Rasse –  auch Personen gezählt, deren Eltern oder Großeltern jüdischen Glaubens gewesen waren. Der eugenische Rassismus richtete sich gegen Personen, die von Nationalsozialisten zwar zur eigenen Rasse gezählt, die aber aufgrund von körperlichen und geistigen Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder sexuellen Orientierungen als genetisch minderwertig betrachtet wurden.
Sehr früh war in dieser durch ethnischen und eugenischen Rassismus geprägten Ideologie der Volksgemeinschaft der Gedanke angelegt, dass Personen, die nicht den vorgegebenen Rassenkriterien entsprachen, eliminiert werden müssten. „In der eigenen Volksgemeinschaft“, so schrieb der Soziologe Helmut Schelsky im Jahr 1934 durchaus charakteristisch für das Denken in der NS-Zeit, zeige sich der nationale Sozialismus „als Liebe zum Ganzen, nicht aber als Mitleid mit dem einzelnen Menschen“. „Wahrer Sozialismus“ sei es, so Schelsky, „Leute, die für das Volk ihre Leistung nicht erfüllen oder es gar schädigen, auszuschalten oder sie sogar zu vernichten“.
Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war die Idee der Volksgemeinschaft in Deutschland für Jahrzehnte diskreditiert und Schelsky wurde zum Vordenker der bundesrepublikanischen so genannten „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“.
Der Gedanke der Volksgemeinschaft wirkte lediglich in Form der Erinnerung an die – wie es oft hieß – „schöne Zeit“ während des Nationalsozialismus, der Verklärung des NS-Staats als eine Erfolgsgemeinschaft, aber auch dem gemeinsamen Erleiden der Kriegsfolgen in der Schicksalsgemeinschaft und Opfergemeinschaft nach. In den Debatten um Wiedergutmachungszahlungen für Verfolgte des NS-Regimes, die Rückkehr jüdischer Emigrierter in die Bundesrepublik und den Kampf für die Wiederaufnahme von NSDAP-Parteimitgliedern in den Staatsdienst schimmerte dennoch immer wieder die Ideologie der Volksgemeinschaft durch. Vereinzelt ließen sich auch Einflüsse des Gemeinschaftsgedankens in der Gesetzgebung zum Arbeits- und Eigentumsrecht in der Nachkriegszeit finden. Im Arbeitsrecht der Bundesrepublik Deutschland etwa wurde das Arbeitsverhältnis als „personenrechtliche Gemeinschaft“, als „gemeinschaftsbegründender Vertrag“ oder „als Vertrag mit Elementen einer Gemeinschaft“ betrachtet. Und beim Eigentumsrecht findet sich, wie es heißt, die „Brücke zum Gemeinschaftsdenken“ in der Idee, dass Eigentum das Wohl der Allgemeinheit im Blick behalten muss. Insgesamt aber herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung eine auffällige Zurückhaltung, den Gemeinschaftsgedanken offensiv zu propagieren.
Diese Zurückhaltung betraf nicht nur die durch die Nationalsozialisten rassistisch aufgeladene Idee der Volksgemeinschaft, sondern auch allgemeinere Vorstellungen von Gemeinschaft. Interessant ist beispielsweise, wie in der sowjetisch besetzten Zone und später in der DDR die Vorsilbe „Volk“ mit allen möglichen Worten nur nicht mit dem der Gemeinschaft kombiniert wird – Volksarzt, Volksbeamter, Volksdemokratie, Volkskongress, Volkskontrolle, Volkspartei, Volkspolizei, Volksrichter, Volksschule, Volksstaat.
Die Gefahr, als Verfechter einer Idee von Gemeinschaft mit der nationalsozialistischen Vorstellung der Volksgemeinschaft in Verbindung gebracht zu werden, war so groß, dass in der Nachkriegszeit der Gemeinschaftsbegriff nur zurückhaltend verwendet wurde.
In der Bundesrepublik Deutschland war der Rückzug in die Kleinfamilie, die Pflege des Freundeskreises und die Verankerung in der Nachbarschaft Ausdruck einer Distanzierung vom Traum großer Gemeinschaften. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde zwar die Idee der Gemeinschaft unter sozialistischen Vorzeichen reaktiviert und propagiert, dass sich die Bürger erst in der klassenlosen Gesellschaft wieder als Menschen gegenübertreten könnten und sich so echte Gemeinschaftsgefühle ausbilden könnten. Es gehört aber zu den großen Widersprüchen der Geschichte der DDR, dass sich starke Gefühle von Gemeinschaft und Zusammenhalt in den Nachbarschaften, Freundeskreisen und Betrieben ausbildeten, weil sie wichtig waren, um die Effekte einer staatssozialistischen Mangelwirtschaft auszugleichen. Die Wiedervereinigung der beiden Staaten wurde deswegen vielfach als Zerstörung der Geborgenheit und Sicherheit bietenden Gemeinschaft durch die nur an Geld orientierte westliche Gesellschaft verstanden. Die Folge dessen hat schnell ein Label bekommen: Ostalgie.
Man kann die weitgehende Diskreditierung der Gemeinschaftsidee in der Nachkriegszeit aber eben auch als enormen Zivilisationsgewinn betrachten. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatte es vereinzelte Stimmen gegeben, die vor den Verlockungen der Gemeinschaft warnten. Der Soziologe Helmuth Plessner erhob bereits in den 1920er Jahren die Stimme gegen die „romantische Zivilisationsflüchtigkeit“ der Verfechter der Gemeinschaftsidee. Er äußerte Zweifel an Utopien von Lebensgemeinschaften, die lediglich auf – wie er sagte – bis „zur Weißglut erhitzten zwischenmenschlichen Beziehungen“ basieren.
Helmuth Plessners immer noch aktuelle Frage war, ob die „menschliche Seele“ überhaupt die unmittelbare „Direktheit“ in einer Gemeinschaft ertrage. Wird für den Menschen die Nähe in der Gemeinschaft nicht zwangsläufig zur bedrückenden Enge, die ihm keine Luft mehr zum Atmen lässt? Führt die Distanzlosigkeit der Gemeinschaft nicht letztlich zu einer Übergriffigkeit, die dem einzelnen Menschen jede Freiheit raubt?
Für den modernen Menschen sei, so die Antwort Plessners, das Gesellschaftswesen mit seiner Kühle unverzichtbar. Distanz befreie vom Zwang, das Selbst freilegen zu müssen. Takt im Umgang miteinander diene dazu, dass der Mensch sich nicht dem Diktat der Authentizität ausgesetzt fühlen müsse. Er könne eine Maske aufsetzen, die das „reale Ich“ geschützt halte. Letztlich war Plessners Plädoyer aber nicht mehr als ein Lob der Anonymität, der Distanz, gerichtet gegen die Ideologie der Gemeinschaft. Aber wie es immer so ist, was der eine lobt, das beklagen die anderen.
Es ist deswegen überhaupt nicht überraschend, dass in regelmäßigen Abständen der Ruf nach Gemeinschaft laut wird. Eine Rückkehr zur organischen Gemeinschaft der vorindustriellen, ländlichen Gesellschaft wird dabei selbst von den Verfechtern der Gemeinschaftsideologie als naiv betrachtet. Stattdessen lässt man einige alte Ideen, die wie Orte für Gemeinschaftsbildung in einer modernen Gesellschaft aussehen könnten, reaktivieren.
Die intellektuell am wenigsten anspruchsvollste Variante ist die schlichte 1:1‑Reaktivierung der alten Idee der Volksgemeinschaft. Wenn unter dem Begriff der „Remigration“ erneut von einer ethnischen Säuberung der Bevölkerung geträumt wird, handelt es sich lediglich um eine Renaissance des rassistischen Traums einer Volksgemeinschaft. Es wird ein Untergang des Abendlandes prognostiziert, wenn der – wie es heißt – Überfremdung und „Entartung“ der Bevölkerung keine Grenze gesetzt werde. Auf der Vorderbühne geht es um den Schutz der eigenen Identität, auf der Hinterbühne wird mit den alten Unterscheidungen anhand von Blut und Rasse hantiert.
Eine ganz, ganz andere Variante von Gemeinschaft wird unter dem Label „New Work“ reaktiviert. Als ein möglicher Ort für die Gemeinschaftsbildung werden die Organisationen benannt, in denen Mitarbeiter alltäglich ihr Geld verdienen. Weil die üblichen persönlichen Bindungen in der modernen Gesellschaft wegfielen, müsste, so die Vorstellung, das Gefühl der Gemeinschaft in den Arbeitsorganisationen entstehen, die sich mit der Industrialisierung ausgebildet hätten. In einem Unternehmen oder einer Verwaltung müssten, so früh schon der Managementvordenker Peter F. Drucker, vom höchsten Boss bis zum niedrigsten Arbeiter alle Verantwortung füreinander übernehmen, um so das Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen zu lassen, das sich früher von alleine in Kommunen, Nachbarschaften und Großfamilien ausgebildet hätte. So würden in Organisationen Netzwerke gegenseitiger Verpflichtungen entstehen, in denen man anderen bei der Zielerreichung helfe und so eine Atmosphäre von Harmonie und Vertrauen entstände. Die Gemeinschaft der Fabrik und die Gemeinschaft des Arbeitsplatzes könnten, so die in der Diskussion über New Work reaktivierte Hoffnung, zu Orten werden, wie Peter F. Drucker sagt, „die dem einzelnen Status verleihen und ihm eine sinnvolle Funktion zuweisen“. Aber die Hire-and-Fire-Politik vieler Organisationen, das Interesse von Mitarbeitern an einem schnelleren Arbeitsplatzwechsel und die wachsende räumliche Mobilität der Menschen tragen dazu bei, dass Unternehmen nur noch sehr begrenzt das Bedürfnis nach langjährigen, engen Beziehungen befriedigen könnten. Was am Ende nur noch im besten Falle eine Schrumpfform von Gemeinschaft bedeutet und im schlechtesten Falle nur ein kapitalistischer Trick ist, um die Mitarbeiter emotional bei der Stange zu halten.
Deswegen ist es wichtig, einen weiteren Ort der Gemeinschaftsbildung in den Blick zu nehmen. Weil in der modernen Gesellschaft das Bedürfnis des Menschen nach einem sinnvollen Leben und nach persönlichen Beziehungen befriedigt werden müsse, würden, so der Vorschlag, Menschen nach der Gemeinschaft in Organisationen außerhalb des Arbeitsplatzes suchen. Zentrale Orte der Gemeinschaftsbildung seien nicht, so das Argument der besonders im US‑amerikanischen Diskurs prominenten Kommunitaristen, profitorientierte Unternehmen, sondern Vereine, denen es anstelle von Gewinn um Sinnstiftung und Gemeinschaftsbildung ginge. Es sind die Sportvereine, Pfadfinder oder Megakirchen, die den Menschen die Gemeinschaft bieten sollen, die sie in dörflichen Gemeinschaften und Familien nicht mehr finden können. Die Idee der Gemeinschaft soll hier offenbar in den Freizeitbereich abgeschoben werden, als Spa-Ressort in einer interessengetriebenen modernen Arbeitsgesellschaft.
Nun, es spricht viel dafür, dass Menschen Orte für Gemeinschaft brauchen. Gerade weil sich in der modernen Gesellschaft mit der Wirtschaft, Erziehung, Politik und Gesundheit soziale Felder ausgebildet haben, in denen der Mensch nur als Rollenträger – als Käufer, Lernender, Wähler oder Patient – interessiert, besteht ein echter Bedarf nach sozialen Räumen, in denen der Mensch noch ganzer Mensch sein kann. Interessant wird es, wenn das Gefühl der Gemeinschaft nicht alleine in diesen kleinen Kreisen erfüllt werden soll, sondern die Erfahrungen in größeren sozialen Gebilden gesucht werden.
Bei den Versprechungen großer Gemeinschaften ist – wie wir schon gesehen haben – stets Vorsicht geboten. Das so genannte Wir-Gefühl, das evangelikale, islamische, völkische, nationalistische, sozialistische oder feministische Bewegungen bieten, ist verlockend. Die Identifikation mit einem übergeordneten Sinn hat seinen Reiz, aber er ist auch das Einfallstor für eine Gemeinschaftsbildung über die Identifikation mit einer großen Sache. In letzter Konsequenz wird auch von Partnern, Kindern und Freunden verlangt, dass sie sich dieser großen Sache unterzuordnen haben, wenn sie Partner, Kind oder Freund bleiben wollen.
Problematisch ist die Gemeinschaftsbildung also immer dann, wenn Gemeinschaften den Zugriff auf die Personen in all ihren Lebenslagen anstreben. Nähe und Geborgenheit wird in ihnen dadurch produziert, dass man außerhalb keine Rollen mehr einnehmen sollte. Man kann diese Effekte der Gemeinschaftsbildung bei marxistischen K-Gruppen, evangelikalen Sekten oder islamistischen Terrorgruppierungen beobachten. Gemeinschaften, die sich dem gegenüber lediglich über ähnliche Lebensziele oder ähnliche ästhetische Ausdrucksformen bilden, haben dagegen in den wenigsten Fällen solche Totalitätsansprüche. Man kann gleichzeitig Mitglied in einer Gruppe alter Schulfreunde, einem Gebetskreis, einem Lesekreis für neuere Literatur, einem Volleyballverein und einem Swingerclub sein, ohne dass man sich dafür zu rechtfertigen hat.
Und da erkennen wir schon: Heikel sind immer Gemeinschaften, die versuchen, Mitglieder von der Wiege bis zur Bahre für sich exklusiv zu gewinnen.
Und das muss ja gar nicht sein, ist auch nicht unbedingt die Befriedigung des Bedürfnisses nach Gemeinschaft. Denn gerade in der modernen Gesellschaft bilden sich viele Gemeinschaften, in denen man nur während einer Lebensphase aktiv ist. Die Zugehörigkeit zur Skater-, Sprayer- oder Skins-Szene kann in der Phase der Ablösung vom Elternhaus eine wichtige Funktion haben, sie ist aber in den allermeisten Fällen zeitlich befristet. Es würde auch in der Szene skurril wirken, wenn ein Rentner mit Skateboard, Spraydose oder Baseballschläger durch die Straßen ziehen würde. Im Laufe seines Lebens sucht der Mensch deswegen das Gefühl der Zugehörigkeit und Geborgenheit in unterschiedlichen Gemeinschaften.
Letztlich laufen die Anforderungen an Gemeinschaften in der modernen Gesellschaft auf ein Paradox hinaus. Einerseits kann ein tiefes Gefühl von Gemeinschaft nur entstehen, wenn das Gefühl vermittelt wird, sich als ganzer Mensch dauerhaft geborgen zu fühlen, andererseits droht immer die Gefahr, als Mensch komplett in der Gemeinschaft aufzugehen. Statt nach großen Gemeinschaften zu suchen, in denen man sein ganzes Leben lang und mit allen Rollen aufgehen kann, wird alternativ zwischen einer Vielzahl von Gemeinschaften gewechselt. Für den Einzelnen ist es anspruchsvoll, immer wieder neue Gemeinschaften zu finden, die das Bedürfnis nach Nähe befriedigen, aber es macht weniger abhängig von einzelnen Gemeinschaften. Zugleich könnte das aber auch eine gesellschaftliche Fortschritts- oder Lernerfahrung sein, dass die Idee der Gemeinschaft doch am besten in gesellschaftlichen Nischen aufgehoben ist.