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Die Rentenreform

    Gerner: Die CDU startet in diesen Tagen eine Sparaktion der besonderen Art: Um Briefporto zu sparen, sollen Parteimitglieder den rund 7 Millionen Rentnern in Deutschland eigenhändig der Protestbrief aushändigen, mit dem die Union gegen Walter Riesters Rentenpläne angehen will. Das ist eine Gratwanderung - meinen Kritiker. Einerseits betreibt die CDU außerparlamentarische Opposition, andererseits will sie keinesfalls als Reformverweigerer dastehen. Tatsache ist: Die CDU hat die Wahlen auch deshalb verloren, weil 1,7 Millionen Rentner zur Konkurrenz abgewandert sind. Wahrscheinlich ist auch, daß es nach den Ferien einen großen Rentengipfel zwischen Regierung und Verbänden und evtl. auch unter Einschluß der Union geben wird, allerdings herrscht da noch Uneinigkeit über die taktische Marschroute. Am Telefon ist Kurt Biedenkopf, der sächsische Ministerpräsident von der CDU. Einen schönen guten Morgen.

    Biedenkopf: Schön guten Morgen.

    Gerner: Herr Biedenkopf, Sie sind - wenn ich das so sagen darf - in Sachen Rententhematik ein Außenseiter in Ihrer eigenen Partei. Daß Ihr Modell der Bürgerrente - der kapitalgedeckten Rente -, die einen kompletten Systemwechsel von beitrags- hin zur steuerfinanzierten Rente bedeuten würde, wird befürwortet. Allerdings gibt es die große Mehrheit dafür bisher noch nicht in der Öffentlichkeit. Richard von Weizsäcker hat neulich Sie in einem Atemzug mit Walter Riester als ‚Reformer' genannt. Sind Sie vom Prinzip her für Riesters Rentenpläne?

    Biedenkopf: Ich glaube, man muß - wenn man über die Rente diskutiert - einige Grundsatzfragen klären. Und deshalb würde ich auch einen ‚Rentengipfel', von dem Sie eben gesprochen haben, als den letzten, aber nicht als den ersten Schritt ansehen. Wir haben heute eine Alterssicherung - die gesetzliche Alterssicherung -, die im wesentlichen durch die Arbeitseinkommen finanziert wird. Da die Zahl der alten Menschen wächst - durch die demografische Entwicklung findet ja eine Revolution in Deutschland statt: Die alten Menschen werden immer zahlreicher, die jungen Menschen werden weniger zahlreich - und da die Arbeit - jedenfalls die Jahresarbeitsstunden, die geleistet werden - relativ zurückgeht, bedeutet das, daß die Last auf der Arbeit immer größer wird. Deshalb kann man auf die Dauer das Rentensystem, so wie wir es heute haben, nicht mit Abgaben auf das Arbeitseinkommen finanzieren. Das ist, glaube ich, inzwischen sicher, nur wird jetzt darüber gestritten, wie man darauf reagieren soll. Eine Reaktion, die wir bereits haben, ist, daß immer mehr Steuergeld in die Rente fließt. Zur Zeit wird mit Steuergeld noch das bezahlt, was man ‚versicherungsfremde Leistungen' nennt. Das sind Leistungen an die Kriegshinterbliebenen, das sind Leistungen, die im Zusammenhang der Transfers zwischen West und Ost liegen. Aber alle diese versicherungsfremden Leistungen gehen zurück, so daß man die Steuerfinanzierung auf Dauer nicht damit rechtfertigen kann. Wie wollen wir es jetzt? Entweder wir finanzieren trotzdem mit immer mehr Steuern weiter, damit die Beiträge nicht ins Unbezahlbare steigen oder die Rente nicht unter das Sozialhilfeniveau sinkt - oder wir schaffen eine neue Grundlage. Darum wird eigentlich gestritten.

    Gerner: So weit zu Ihrem Modell. Was bedeutet das Ganze für die Aussetzung des Nettolohnanpassung, die Riester plant? Ist das in Ordnung in Ihren Augen?

    Biedenkopf: Man kann die Frage so nicht beantworten. Im Rahmen des gegenwärtigen Systems ist die Nettolohnanpassung gewissermaßen eine der Zusagen an die Rentner. Man hat ja früher sogar die Bruttolohnanpassung gehabt, dann hat man das zur Nettolohnanpassung geändert, weil sonst die Rentenzahlungen die Höhe der Nettoeinkommen der Bevölkerung - früher oder später - erreicht hätten. Das hängt wieder damit zusammen, daß die Abgaben auf die Arbeit immer größer geworden sind. Der Bruttolohn ist also gewachsen, der Nettolohn aber nicht. Jetzt steht man vor der Frage: Können wir das auf die Dauer durchhalten, daß die Nettolöhne die Höher der Rente bestimmen? Da gibt es eine Reihe von Problemen. Nehmen wir mal an, wir würden die Zahlungen für Kinder weiter erhöhen, dann würde der Nettolohn all derer wachsen, die Kinder haben. Soll nun dieser Zuwachs, der durch die Ausgleichsleistungen für die Kinderlast bedingt ist, auch den Rentnern zugute kommen? Da sagen viele ‚nein, der nicht'. Oder nehmen wir an, wir würden jetzt die Arbeitskosten, also die Lohnnebenkosten, verringern, dann würde bei gleichem Bruttolohn auch der Nettolohn wachsen. Soll das jetzt den Rentnern zugute kommen oder nicht? Auch das ist umstritten. Die Nettolohnanpassung war an sich die Idee - genau so wie früher die Bruttolohnanpas-sung -, die Rentner am Zuwachs des Wohlstandes, das heißt der Wohlfahrt, des Wachstums der Wirtschaft zu beteiligen.

    Gerner: Herr Biedenkopf, ich entnehme dem, was Sie sagen, daß Sie zumindest die Aussetzung der Nettolohnanpassung, wie sie Riester plant, nicht in Bausch und Bogen verdammen. Das tut allerdings die CDU mit ihrer Briefkampagne. Kann ich dem entnehmen, daß Sie mit gemischten Gefühlen diese Briefkampagne beobachten?

    Biedenkopf: Ich finde wichtig an der Briefkampagne, daß die CDU sagt, man suche eine gemeinsame Lösung. In dem Brief selbst, den Wolfgang Schäuble geschrieben hat, wird ja zu der Frage der Nettoanpassung nicht ausdrücklich Stellung genommen, sondern was kritisiert wird - und das ist völlig richtig -, ist, daß die Regierung vor der Wahl versprochen hat, sie wolle den sehr viel zurückhaltenderen Eingriff mit einem demokratischen Faktor abschaffen, um die Ungerechtigkeit - wie es hieß - zu beseitigen, und dann wenige Monate einen sehr viel stärkeren Eingriff vorgenommen hat. Das ist eine Täuschung der Rentner, das ist nicht in Ordnung. Im übrigen sagt die Opposition: ‚Wir sind bereit, gemeinsam das Problem zu lösen'. Das ist notwendig.

    Gerner: Das sagt Walter Riester auch, aber er sagt, die Briefkampagne muß zurückgenommen werden, bevor man in Gespräche eintreten kann.

    Biedenkopf: Also wissen Sie, das ist nicht besonders sinnvoll. Die Opposition hat das Recht und sogar die Pflicht, auf tiefgreifende Widersprüchlichkeiten der Regierung hinzuweisen. Die Opposition hat das gemacht. Daß Herr Riester diese Forderung stellt: Ich glaube nicht, daß das die spätere Gemeinsamkeit in den Bemühungen befördert. Man müßte dann gewissermaßen aus der Richtung der Opposition fordern, daß Herr Riester auch seinen Eingriff in die Rentenformel zurücknimmt, also gewissermaßen den alten Status Quo wieder herstellt.

    Gerner: Also doch Kritik an der Nettolohnanpassung. Wo ist überhaupt eine Chance zum Kompromiß? Die CDU besteht ja darauf, daß diese Nettolohnanpassungsaussetzung wieder zurückgenommen wird, Riester besteht auf der Aussetzung der Briefkampagne. Der Bürger kann da schwerlich einen Kompromiß erkennen.

    Biedenkopf: Ja, das ist richtig. Aber ich würde das jetzt mal als vorübergehende Auseinandersetzung mehr im taktischen Sinne sehen, denn beide Seiten erklären, daß sie - wenn es irgend geht - die Frage gemeinsam erörtern wollen. Und das Beste - wenn man etwas gemeinsam erörtern will - ist, daß man zu den Tatsachen zurückkehrt, sich mit der mittel- bis langfristigen Entwicklung der Rente befaßt, einen Weg findet, wie man die Basis für die Rentenzahlung erweitern kann, wie man sicherstellen kann, daß auch die Menschen eine vernünftige Alterssicherung haben, die nur Teilzeit arbeiten, und vor allen Dingen diejenigen, wie Hunderttausende oder Millionen von Frauen, deren wesentliche Lebensarbeit darin beruht, Kinder großzuziehen, die ja auch für das Alterssicherungssystem unverzichtbar sind.

    Gerner: Herr Biedenkopf, die Frage ist ja: Wieviel ist insgesamt zumutbar an Reformen? Ihr Kollege Kurt Beck aus Rheinland-Pfalz hat den Vorschlag gemacht, daß nicht nur Rentner, sondern auch alle Arbeitnehmer eine Nullrunde für zwei Jahre vollziehen sollen. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

    Biedenkopf: Nichts, weil es kein Problem löst. Was ist denn nach zwei Jahren? Nach zwei Jahren geht doch das ganze Theater wieder von vorne los. Ich glaube nicht, daß man jetzt die Arbeitseinkommen und die Entwicklung blockieren soll, weil man sich als unfähig erweist, das eigentliche Problem zu lösen. Die Lösung des eigentlichen Problem ist eben kein zweijähriger Eingriff, sondern eine grundlegende Neuorientierung, die etwa wie folgt aussieht: Es gibt eine Bürgerrente oder eine Grundsicherung. Diese Grundsicherung wird nach einer Umstellungszeit von 15 bis 20 Jahren oder schon schneller ausschließlich aus Steuermitteln finanziert. Das heißt, die gesamte Bevölkerung beteiligt sich an der Finanzierung, insbesondere eben auch die Kapitaleinkommen, die Einkommen der Selbständigen usw. Auf dieser gesetzlich gesicherten, nur mit Zweidrittelmehrheit veränderbaren Grundlage baut der einzelne seine jeweilige zusätzliche Alterssicherung auf, sei es durch Vermögensbildung, sei es aufgrund von Erbschaften, sei es weil er Kinder großgezogen hat, die ihm später helfen, und, und, und . . .

    Gerner: Aber Herr Peffekhoven, immerhin ein Wirtschaftsweiser, hat gemeint, die zweijährige Lohnpause würde 300.000 Arbeitsplätze besorgen, weniger Arbeitslose, und dadurch auch die Probleme der Rentenkasse lösen.

    Biedenkopf: Also, ich halte von solchen Rechnungen nichts, auch wenn ein Wirtschaftsweiser gleich sogar weiß, wieviel neue Arbeitsplätze entstehen. Die Nettolöhne sind schon in den letzten Jahren kaum gestiegen; die Bruttolöhne sind gestiegen. Und das Problem liegt also ganz offenbar nicht daran, daß man die Nettolöhne festsetzt, sondern daß man die Bruttolöhne entlastet. In diese Richtung muß sich das entwickeln. Wenn wir jetzt gewissermaßen das Pferd vom Schwanz aufzäumen, dann ändert sich an den strukturellen Defiziten, denen wir die ganzen Probleme verdanken, überhaupt nichts. Und deshalb sollten wir uns jetzt endlich auf die eigentlichen strukturellen Probleme konzentrieren und versuchen, zu einer wirklich vernünftigen Reform zu kommen - unter Preisgabe aller der Denkbesitzstände, um die jetzt immer noch in allen möglichen Schützengräben gekämpft wird.

    Gerner: Kurt Beck hat auch gesagt: ‚Unser Lebensstandard ist doch so gut, daß wir uns das zumuten können eigentlich, zwei Jahre auszusetzen'.

    Biedenkopf: Ja, dann können wir uns aber doch auch eine vernünftige Reform zumuten. Auch die Reform bedeutet ja, daß alle beteiligt werden. Aber die Beteiligung an den Lasten wird eben auf alle verteilt: Auf die Kapitaleinkünfte, auf die Einkünfte der Selbständigen ebenso, wie auf die Einkünfte der arbeitenden Bevölkerung. Und nur, wenn wir diese Basis verbreitern, beseitigen wir die wachsenden Ungleichheiten, die dadurch entstehen, daß die Arbeitseinkommen immer höher belastet werden für Ausgaben, die eigentlich die Allgemeinheit übernehmen muß, während zum Beispiel der wachsende Anteil der Vermögenseinkommen dafür nicht belastet wird.

    Gerner: Kurt Biedenkopf war das, der sächsische Ministerpräsident. Ganz herzlichen Dank für dieses Gespräch.