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"Die Revolution ist nicht zu Ende"

Auch wenn das Militär die Revolution derzeit gekidnappt habe, der Transformationsprozess in Ägypten sei in vollem Gange, sagt Cilja Harders, Leiterin der Arbeitsstelle Politik des vorderen Orients der Freien Universität Berlin.

Cilja Harders im Gespräch mit Jürgen Liminski | 03.02.2012
    Christoph Heinemann: Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der ägyptischen Polizei in Sues sind nach Angaben von Ärzten zwei Menschen getötet worden. In Kairo wurden laut Staatsfernsehen über 600 Demonstranten durch Tränengas verletzt, als sie nach den tödlichen Krawallen bei einem Fußballspiel gegen die Militärführung protestierten. Hintergrund der Unruhen sind die Ausschreitungen nach dem Fußballspiel in Port Said, dabei wurden mehr als 70 Menschen verletzt. – Über die Lage in Ägypten hat mein Kollege Jürgen Liminski mit Cilja Harders gesprochen, sie ist Leiterin der Arbeitsstelle Politik des vorderen Orients an der Freien Universität Berlin. Erste Frage: Halten Sie eine Planung der Gewalt in Port Said für möglich?

    Cilja Harders: Planung ist vielleicht übertrieben, aber es gibt doch relativ viele Augenzeugenberichte, die sagen, die Sicherheitskräfte haben unzureichend reagiert, Ausgänge für Fans waren blockiert, andere Türen waren offen, es gab Waffen im Stadion, warum sind da keine Kontrollen durchgeführt worden. Es gibt viele Augenzeugen, die sagen, die Fans, die da waren, waren vielleicht die ja schon häufig und auch früher eingesetzten Schlägertrupps, die Repräsentanten des alten Regimes, sodass man, denke ich, schon davon ausgehen kann, dass hier auf jeden Fall Gewalt in Kauf genommen wurde. Es gibt auch Stimmen, die sagen, die Sicherheitskräfte sind einfach inkompetent und zu wenig, die waren überrascht. Ich finde, auch das kann man vielleicht den Bildern entnehmen. Ich nehme an, dass das zusammengekommen ist und dass das Militärregime aber ein hohes Interesse daran hat, gerade den Ultras, die sehr kritisch gegenüber der Militärregierung sind, zu zeigen, auch euch kann es treffen und es trifft euch da, wo es am meisten schmerzt, nämlich beim Fußball.

    Jürgen Liminski: Die Proteste in Kairo reißen nicht ab, jetzt die Toten von Port Said, auch die Wahlen haben keine Ruhe gebracht. Wohin treibt die Revolution in Ägypten?

    Harders: Die Revolution ist im Moment vielleicht tatsächlich eher quasi vom Militär gekidnappt, gehijackt und hat sich unter der Hand erst mal in Militärherrschaft verwandelt. Aber ich halte das politische Feld in Ägypten für ausgesprochen dynamisch. Die Revolution ist nicht zu Ende, der Transformationsprozess ist im vollen Gange und die Akteure und Ziele sind eben auch nicht klar, das verändert sich. Das Militär muss reagieren, es kann nicht nur einfach regieren. Heute hat das Parlament ja eine Krisensitzung abgehalten, in der Militär und auch Sicherheitskräfte scharf kritisiert wurden. Das wird den Menschen in Port Said jetzt akut nicht helfen, aber das Parlament nimmt da eine Rolle wahr.

    Liminski: Glauben Sie, dass die Muslimbrüder zusammen mit dem Militärrat paktieren?

    Harders: Ja, das wird ja gesagt, befürchtet, vermutet im Grunde seit März. Ich denke, dass die Muslimbrüder im Militär eine Möglichkeit sehen, ihren eigenen Machtanspruch auch umzusetzen. Aber sie haben natürlich auch ein Problem damit, wenn sie vom Militär kontrolliert werden. Also ich glaube, wenn es einen solchen Pakt gibt, dann ist der notwendig brüchig, weil das Parlament, wenn es sich selber auch nur minimal ernst nimmt, auf die Dauer natürlich nicht mit militärischer Aufsicht regieren kann.

    Liminski: Auch in anderen Ländern, Frau Harders, ist der Erfolg des Arabischen Frühlings zweifelhaft, oder stecken geblieben. In Libyen haben Anhänger des gestürzten Regimes eine Stadt zurückerobert, im Jemen hängt alles in der Schwebe, in Syrien herrscht ungleicher Bürgerkrieg, im Irak bekämpft sich die Regierung, kommen täglich Menschen bei Anschlägen um. Beobachten wir gerade das Scheitern des Freiheitserwachens im vorderen Orient?

    Harders: Aus meiner Sicht nicht. In Kuwait gibt es Wahlen und es gibt eine sehr lebendige interessante Opposition, Sie haben jetzt natürlich nicht über Tunesien gesprochen, Marokko ist im Aufbruch. Also ich glaube, niemand hat vor einem Jahr gedacht, zumindest nicht vor Ort, dass das jetzt alles ganz schnell geht und ganz glatt geht und ohne Konflikte und auch eben langfristige Umbruchprozesse vonstatten geht. Tunesien gibt Hoffnung, mir geben die Ägypter auch immer wieder große Hoffnung, weil ich einfach glaube, dass diese Erfahrung eines echten Volksaufstandes für Demokratie und Freiheit, die ist nicht ohne Weiteres zurückzunehmen, was eben nicht bedeuten soll, dass in Ägypten morgen Demokratie herrscht, weil natürlich auch die ökonomischen und sozialen Fragen, die anstehen, groß sind und schwer zu lösen und jede zivile Regierung eine riesige Aufgabe vor sich hätte. Aber ich denke nicht, dass man vom Scheitern sprechen kann, ein Jahr danach. Ich glaube, was man sehen kann ist, dass die Prozesse auch jeweils länderabhängig sind und dass natürlich sich Libyen nicht entwickelt wie Tunesien. Ich glaube, das hat niemand erwartet. Es gibt in Libyen unendlich viele Waffen, das Land hat eine kriegerische Auseinandersetzung hinter sich. Also da geht es, glaube ich, vielleicht erst mal um Frieden und dann um Demokratie. Und so, glaube ich, können wir das auch für den Jemen sagen. Vielleicht haben wir auch ein bisschen hoch gesteckte Erwartungen gehabt.

    Heinemann: Cilja Harders, Leiterin der Arbeitsstelle Politik des vorderen Orients an der Freien Universität Berlin. Die Fragen stellte mein Kollege Jürgen Liminski.

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