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"Die Rubelkrise war sehr viel schmerzhafter"

Der Vorsitzende der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands, Michail Viktorowitsch Schmakow, hält angesichts der Krise soziale Unruhen in seinem Land für unwahrscheinlich. Die Regierung handele bislang sehr viel professioneller als in der Rubelkrise von 1998. Putin selbst reagiere "sehr aktiv auf erste negative Anzeichen", betonte der Gewerkschafter.

Michail Viktorowitsch Schmakow im Gespräch mit Sabine Adler |
    Sabine Adler: Michail Viktorowitsch, wie macht sich die weltweite Krise in Russland bemerkbar? In welchen Städten, in welchen Wirtschaftszweigen bekommen die Menschen sie zu spüren?

    Michail Viktorowitsch Schmakow: Die Betriebe entlassen massenweise ihre Beschäftigten, bis zu 30 Prozent des Personals oder sie schließen ganz. Für kleine Städte, in denen es ohnehin nur ein, zwei Unternehmen gibt, sind die Auswirkungen verheerend. Das Leben kommt zum Stillstand, denn die Sozialhilfe beträgt bei einem Durchschnittslohn von umgerechnet 700 Euro in Russland nur rund 100 Euro. Die Kaufkraft sinkt und damit die Nachfrage, was wieder Produktionskürzungen zur Folge hat. In den großen Städten wie Moskau, Sankt Petersburg, Jekaterinburg, Wladiwostok ist die Krise allerdings weniger zu bemerken. Auch weil ein großer Teil der Beschäftigten in den staatlichen Verwaltungen arbeitet. Am härtesten sind die verarbeitende Industrie betroffen, die Metallurgie und auch die Öl- und Gasfirmen, denn die Nachfrage auf dem Weltmarkt ist dramatisch gesunken.
    Adler: In Russland arbeiten rund zwölf Millionen Arbeitsmigranten, meist aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, inwieweit fühlen Sie sich als Gewerkschaft auch für diese Arbeiter zuständig?

    Schmakow: Von diesen zwölf Millionen Migranten arbeiten nur zwei Millionen legal. Der russische Staat hat den Arbeitskräftebedarf neu geschätzt und um die Hälfte gekürzt. Wir setzen uns für die ein, die sich legal in Russland aufhalten. Die illegal Beschäftigten sind nicht nur für den russischen Arbeitsmarkt eine Bedrohung. Das Schlimmste ist ihre eigene völlig rechtlose Lage. Denn nicht selten bekommen sie für ihre Arbeit keinerlei Lohn gezahlt.
    Adler: Hört die russische Regierung auf Sie als Gewerkschaft?

    Schmakow: Im Anti-Krisenprogramm der Regierung vom November vorigen Jahres sind viele Vorschläge wiederzufinden, die wir als Dachverband unserer 50 Einzelgewerkschaften gemacht haben. Wir vertreten 26 Millionen Mitglieder, 48 Prozent der Beschäftigten in Russland sind bei uns organisiert. Wir haben vorgeschlagen: die Senkung der Quoten der zugelassenen Arbeitsemigranten, die Erhöhung von Sozialleistungen für Arbeitslose, die Umstrukturierung von Krediten derer, die ihre Arbeit verloren haben und Umschulungen während der Arbeitslosigkeit. Wir fordern die Einhaltung des Arbeitsrechts. Bei Entlassungen müssen noch drei Monatslöhne gezahlt werden, bei Kurzarbeit bekommen die Beschäftigten zwei Drittel des Lohnes für die nicht abgeforderte Arbeitszeit.
    Adler: Russland hat ja Erfahrung mit Krisen, wir erinnern uns an den Anfang der 90er-Jahre und die Rubelkrise 1998. Michail Schmakow, als Chef der russischen Gewerkschaftsföderation: Würden Sie sagen, dass die Regierung und die Gesellschaft inzwischen gelernt haben, die Folgen von Krisen besser abzufedern?

    Schmakow: Die Krise Anfang der 90er-Jahre und die Rubelkrise waren sehr viel schmerzhafter. Damals war die Regierung unfähig, den Krisen etwas entgegenzusetzen, zumal die allgemeine Auffassung herrschte, dass das der Markt heilen wird. Dieses Mal hat die russische Regierung frühzeitig reagiert, sie hat den Zusammenbruch des Bankensystems verhindert und sich für Großbetriebe mit tausenden Beschäftigten eingesetzt, in der Autoindustrie zum Beispiel. Auch wenn sie in Deutschland unsere Autos nicht gut finden, arbeitet dennoch rund eine Million unserer Menschen in diesem Wirtschaftszweig. Klar, dass wir dabei die Regierung unterstützen, die Regierung handelt dieses Mal eindeutig professioneller als 1998.
    Adler: Um wie viel Prozent ist die Arbeitslosigkeit gestiegen?

    Schmakow: Sie hat ein zumindest für Russland hohes Niveau erreicht. Immerhin wussten wir vor 15, 20 Jahren nicht einmal, was das ist: Arbeitslosigkeit. Offiziell sind seit vorigem November 2,3 Millionen Arbeitslose mehr registriert. Die Arbeitslosenquote liegt damit bei zehn Prozent, was 7,5 Millionen Menschen entspricht.

    Adler: In Deutschland wird vor sozialen Unruhen gewarnt. Sehen Sie für Russland die Gefahr sozialer Unruhen und daraus folgend sogar politischer Instabilität?

    Schmakow: Natürlich. Wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht schnell gelöst werden, entstehen daraus politische Probleme.

    Adler: Besteht diese Gefahr derzeit?

    Schmakow: Noch gelingt es der Regierung, mit der Situation zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt zurechtzukommen. Aber warten wir ab, was Ende des Sommers, Anfang Herbst wird. Die Industrie hat große Probleme, Kredite zu bekommen. Kredite für Betriebsausrüstungen kosten derzeit 20 bis 25 Prozent. Unserer Meinung nach muss die Regierung die Zinsen für Unternehmen auf rund acht bis zehn Prozent beschränken, sonst müssen die Betriebe aufgeben und dann wird sich die Situation verschärfen.
    Adler: Sie sehen die Verantwortung bei der Regierung. Die Regierung - das ist heute in erster Linie Premier Putin. Fürchten Sie, dass Putin auf soziale Unruhen unangemessen hart reagieren könnte?

    Schmakow: Bis jetzt reagieren die Regierung und Ministerpräsident Putin selbst sehr aktiv auf erste negative Anzeichen. Was die sozialen Unruhen angeht, so hoffen wir doch sehr, dass dieser Kelch an uns vorüber geht. Aber dafür gibt es natürlich keine Garantie.

    Adler: Würden Sie sagen, dass die wilden Zeiten in Russland vorbei sind?

    Schmakow: In Krisenzeiten ist es wohl eher so, dass die wilden Zeiten wieder neu anfangen.