" Die Lage ist schlecht. Ich bin Akademikerin, fast 30 und habe keine Arbeit - keine, für die ich bezahlt werde. Alles in meinem Leben ist unsicher. Ich kann von heute auf morgen auf der Straße stehen. Ich lebe mit meinem älteren Bruder bei meinen Eltern. Der Staat stellt im Augenblick niemanden ein, und hier in Bissau gibt es so gut wie keine anderen Jobs als im Staatsdienst."
Nach ihrem fünfjährigen Soziologiestudium in Russland hat Nadine dos Reis Gomes eine Praktikantenstelle im Tourismusministerium ergattert. Ohne Bezahlung natürlich, aber immerhin. Soziologen, so hatte man ihr beim staatlichen Forschungsinstitut unverblümt erklärt, könne das Land sich derzeit nicht leisten. "N'misti vivi, ich will doch nur leben" klingt es durch die Kneipe, Nadine und ihre Freunde singen leise und etwas wehmütig mit.
Draußen auf der Straße Tristesse pur: Bissau, einst angeblich die sauberste Hauptstadt Westafrikas, versinkt im Dreck. Die Müllabfuhr funktioniert nicht, die Müllmänner bekommen seit Monaten keinen Lohn. Immerhin - nachts sieht man die Abfallberge wenigstens nicht. Es gibt keinen Strom, es stinkt fürchterlich. Etwas weiter unten, auf dem Ché-Guevara-Platz, warten vor dem Café Baiana leichte Mädchen auf Kunden. Irgendjemand wird ihnen schon ein paar Franc CFA geben - ein philippinischer Matrose von dem Schiff, das vorgestern angekommen ist, oder einer der vielen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, der sich gerade einsam fühlt.
Die Republik Guinea-Bissau ist das sechst- oder siebtärmste Land der Welt, niemand weiß das so genau. Den Bürgern Guineas ist es aber auch relativ gleichgültig, auf welchem Platz der Armutsliste Portugals ehemalige Überseeprovinz offiziell steht. Für sie ist wichtig, zu überleben. Irgendwie. Guinea-Bissau, ein Staat etwa so groß wie Baden-Württemberg, liegt südlich der Republik Senegal. Rund 1,5 Millionen Menschen leben im Lande, fast ein Drittel davon in der Hauptstadt Bissau. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt etwas mehr als 150 Euro im Jahr - knapp 40 Cent am Tag. Die Bevölkerung lebt fast ausschließlich von Landwirtschaft und Fischerei.
Beamte und Staatsbedienstete in den größeren Städten werden nur unregelmäßig bezahlt. Darum versuchen sie, sich - mehr schlecht als recht - mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser zu halten. Die Lage ist ziemlich hoffnungslos; rund 800 Millionen Euro Auslandsschulden lasten auf dem kleinen Land.
"N'misti vivi - ich will leben", summt die 28-jährige Soziologin Nadine in der Kneipe vor sich hin. Ihre großen, weit geöffneten, fast schwarzen Augen scheinen in eine ungewisse Zukunft zu blicken:
" Natürlich macht das alles mich böse. Ich habe mich ja nach meinem Studium in Russland entschieden, hierher zurückzukehren. Jetzt muss es doch einen Ausweg aus dieser Situation geben. Vielleicht finde ich ja durch das Praktikum im Tourismusministerium einen Job. In einem Hotel, das vielleicht irgendwann hier aufmacht. Ich brauche irgendeine Arbeit, irgendwie muss ich doch überleben."
Überleben muss auch er - der Lehrer Etiene Mateus Djassi. Der 32-Jährige unterrichtet Portugiesisch an der Jorge-Ampa-Cumelerbo-Schule im Stadtteil Bairro Militar. Portugiesisch ist Amtssprache in Guinea-Bissau und trotzdem Fremdsprache. Im Alltag sprechen die Bürger Guineas Crioulo, eine Mischung aus Portugiesisch und afrikanischen Sprachen. Etiene, schwarze Hose, weißes Hemd, so korrekt wie eben möglich gekleidet, schreibt Aufgaben an die Tafel. 43 Schüler zählt diese 7. Klasse, einige sitzen zu dritt auf klapprigen Schulbänken, die eigentlich nur für zwei gedacht sind. Die Schule ist in einer alten Fabrik untergebracht, Schüler und Lehrer haben selbst die etwa zwei Meter hohen Trennwände eingebaut, die nicht einmal bis zum Wellblechdach der Halle reichen. Einige Tausend Schüler werden hier fast rund um die Uhr im Schichtdienst unterrichtet. Der Lärm ist ebenso unerträglich wie die Hitze und der Gestank. Die Arbeitsbedingungen seien katastrophal, bemerkt Lehrer Etiene:
" Nachts haben wir gelegentlich Strom, um unterrichten zu können. Aber oft gibt es zwei, drei Tage keine Elektrizität. Dann gehen die Schüler wieder nach Hause, haben keinen Unterricht, obwohl sie doch ihre Schulgebühren bezahlen. So verlieren wir sehr viel Zeit. Das ist hart, das ist schwierig."
Die Jorge-Ampa-Cumelerbo-Schule ist ein Spiegelbild des Schulsystems von Guinea-Bissau: Seit langem reicht die alte Fabrikhalle nicht mehr für die Schüler aus. Also wird auch im Freien unter Strohdächern unterrichtet. Schilfmatten trennen die Klassen ab, ein Provisorium, das längst zur Dauereinrichtung geworden ist. Es fehlt an Schulbüchern, an Heften, selbst an Bleistiften. Die Lehrer sind schlecht ausgebildet. Bildung ist, auch wenn die Politiker immer wieder das Gegenteil behaupten, nicht die Hauptsorge der Regierung. Bildung kostet Geld, und das hat der Staat ebenso wenig wie seine Bürger.
Das Ergebnis: Die Einschulungsrate an den Grundschulen liegt nach UNESCO-Schätzungen bei gerade einmal 54 Prozent, mehr als drei Viertel der Menschen in Guinea sind Analphabeten. Wer es sich leisten kann - und das sind nicht viele - , schickt seine Kinder in der Hauptstadt Bissau auf eine der wenigen und teuren Privatschulen. Auch der Lehrer Etiene verdient sich dort ein bisschen nebenbei. In der Mário-Soares-Schule unten an der Hauptstraße:
"32727 Franc bekomme ich. Rund 50 Euro, das ist nicht gerade viel. Leben kann man davon nicht. Man muss irgendwie noch etwas dazuverdienen. Obendrein werden wir nicht regelmäßig bezahlt. Ich habe seit sechs Monaten kein Gehalt bekommen! Das ist doch unglaublich. Wie soll man so leben?"
Etiene lebt, wie die meisten Einheimischen, an der Armutsgrenze. In einem finsteren, fensterlosen Loch, das kaum die Bezeichnung Haus verdient. Das einzige Zimmer teilt er mit seiner Frau und den beiden Kindern. Wasser gibt es nur unten am Brunnen, Strom höchstens ein paar Stunden am Tag. Wenn die hoffnungslos überlastete Energieversorgung von Bissau nicht wieder einmal zusammengebrochen ist, oder die Generatoren des E-Werks nicht aus Brennstoffmangel abgeschaltet sind.
"Bairro Militar" heißt dieses Viertel am Stadtrand von Bissau, und es gehört noch nicht zu den schlimmsten: Während der Kolonialzeit lebten hier die portugiesischen Soldaten, daher der Name. Die alten Reihenhäuser verfallen langsam. Sie waren dem tropischen Klima nicht gewachsen, die Fenster sind eingeschlagen, den Putz hat eine schwarze Moderschicht überzogen.
Hinter den Reihenhäusern aus der Kolonialzeit Neubauten: einstöckige, bunte, wellblechgedeckte Häuser und Häuschen aus Lehmziegeln. Nebeneinander, aneinander, fast aufeinander. Geteerte Straßen gibt es nicht im "Bairro Militar", aber noch ist die rote Erde zwischen den Hütten staubig und fest.
Demnächst, in der Regenzeit, werden sich die Wege in tiefen Morast verwandeln, in einen Brutplatz für Krankheiten. Dann wird es - wie alle Jahre - wohl auch wieder zu einer Choleraepidemie in Bissau kommen, der wieder Hunderte von Menschen, vor allem Kinder, zum Opfer fallen dürften, erklärt Etiene. Er packt seine Hefte zusammen, muss wieder zum Unterricht. Etiene will raus aus dem Elend. Dafür wird er kämpfen, versichert der junge Lehrer zum Abschied:
" Das Leben ist hart, aber ich werde nicht aufgeben. Wir müssen Mut haben, damit Guinea eine Zukunft hat. Wir dürfen nicht alle kapitulieren. Leider erleben wir jeden Tag, wie sich die benehmen, die an der Spitze dieses Landes stehen. Wie die Politiker unsere Heimat zu Grunde gerichtet haben und sie weiter zu Grunde richten. Darum müssen wir, die Jungen, uns anstrengen, um eines Tages die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Das ist die beste Garantie für die Zukunft unserer Kinder. Wir sind stolz auf unsere Heimat und hoffen, Guinea eines Tages zu verändern."
Eines Tages. Denn mit denen, die Guinea-Bissau derzeit regieren, sei Veränderung unmöglich, meint nicht nur Etiene. Vom Staatspräsidenten bis zum Staatssekretär - die meisten Politiker Guinea-Bissaus seien hoffnungslos korrupt und unfähig. Statt um die Interessen des Landes ginge es ihnen in erster Linie um ihr persönliches Wohlergehen, betont der Soziologe João José Silva Monteiro:
" Die Mehrheit unserer Politiker hat nicht einmal einen Beruf! Während die politischen Führer anderer Länder ihre Fähigkeiten bereits in anderen Lebensbereichen bewiesen haben, wollen die Leute hier an die Macht, um zu überleben. Das macht das politische Leben kompliziert, bedroht die Stabilität. Wir leben in ständiger politischer Spannung und in einem Klima der Verschwörungen."
Nicht weniger als 31 Parteien gibt es in dem 1,5-Millionen-Land, aber keine wirklich funktionsfähige Regierung. Nicht nur die Parteien untereinander, auch die Politiker innerhalb der Parteien sind hoffnungslos zerstritten. Die von allen wiederholten ständigen Beteuerungen, man brauche und wolle "nationalen Konsens", sind wenig mehr als Lippenbekenntnisse. Und Staatspräsident João Bernardo Vieira, der im Unabhängigkeitskrieg in den siebziger Jahren als "Comandante Nino Vieira" bekannt geworden ist, nutzt den Zwist, seine Position zu stärken.
Vieira hatte das Land von 1980 bis 1999 als Diktator regiert, war erst am Ende eines fast einjährigen Bürgerkriegs nach Portugal ins Exil gegangen. Guinea-Bissau kam trotzdem nicht zur Ruhe: Ständig wiederkehrende Staatsstreiche und Militärputsche stürzten das Land immer tiefer in die Krise. Seit der Rückkehr und Wiederwahl Vieiras im vergangenen Jahr scheint zumindest etwas Stabilität eingekehrt zu sein. Was sich nach Ansicht des Soziologen João José Silva Monteiro schnell wieder ändern könne:
" Höchst beunruhigend ist, dass alle die, die keine Posten in der Regierung erhalten haben, weiter Verschwörungen aushecken. Ganz nach dem Motto: Die Regierung ist nur gut, wenn ich dazu gehöre."
Irgendwie hatte Amílcar Cabral, Gründungsvater der Republik Guinea-Bissau, sich das ganz anders vorgestellt. 1963 hatte unter seiner Führung der bewaffnete Kampf gegen die Kolonialmacht Portugal begonnen. Ein langer, blutiger Guerillakrieg entbrannte, der auch für die anderen portugiesischen Afrika-Kolonien Symbolcharakter hatte. Schließlich kontrollierten die Dschungelkämpfer der PAIGC - der Afrikanischen Unabhängigkeitspartei Guineas und der Kapverdischen Inseln - fast das ganze Land. Am 24. September 1973 erklärte Guinea-Bissau einseitig seine Unabhängigkeit, die Portugal allerdings erst nach der Nelkenrevolution 1974 anerkannte. Alles sollte besser werden, hofften damals die Führer des jungen Staates.
Heute erinnert eine Steinbüste am Hafen an den 1973 unter nie geklärten Umständen ermordeten Revolutionär Cabral. Sein Traum vom besseren Leben in einem befreiten Guinea hat sich jedoch in einen Alptraum verkehrt: Der Hafen versandet, halbversunkene Schiffswracks rosten vor sich hin. Die Avenida 3 de Agosto, die einstige stolze Uferpromenade von Bissau, ist heute von Schlaglöchern übersät. Ein klappriger Lastwagen versucht, einer riesigen, trüb-braunen Wasserlache auszuweichen. Die einst schmucken Häuser portugiesischer Kolonialbeamter mit ihren hölzernen Balkonen verrotten, die Schaufenster in Bissau-Velho, dem früher pulsierenden Geschäftszentrum, sind leer. Inkompetenz, Korruption sowie mehrere Bürgerkriege haben die Hauptstadt, ja das ganze Land ruiniert. Und während die Politiker fast täglich Besserung versprechen, folgt Regierungskrise auf Regierungskrise.
Darüber, wer zur Regierung gehört, bestimmen letztendlich sie: die "Forças Armadas Revolucionários do Povo", das Militär. Der Oberkommandierende der "revolutionären Volksstreitkräfte", Batista Tagme Na Waia, gilt als starker Mann im Staate. Wenn er und seine alten Dschungelkämpfer aus der Zeit des Befreiungskrieges unzufrieden seien, würden die Stühle der Regierenden wackeln, äußert Soziologe João Monteiro:
" Die politische Instabilität heute ist ironischerweise auch eine Konsequenz unseres erfolgreichen Befreiungskampfes vor mehr als 40 Jahren. Da ist zuerst einmal das große Gewicht der Militärs im politischen Leben des Landes. Zweitens die traditionelle Bereitschaft, zur Lösung der Probleme Waffengewalt einzusetzen. Und drittens die fast permanente Weigerung der Streitkräfte, sich der Exekutive oder den Gerichten unterzuordnen."
Denn die alten Freiheitskämpfer fühlen sich an den Rand gedrängt. Und die Politik weiß nicht, was sie mit ihnen machen soll: Es fehlt das Geld, die Helden von einst in Rente zu schicken, ja es gibt nicht einmal ein Gesetz, das das ermöglichen würde. Also behalten sie ihre Waffen, bleibt dieser von Fachleuten auf rund 5.000 Mann geschätzte "harte Kern" ein Staat im Staate. Immer für einen neuen Staatsstreich gut, auch wenn José Américo Bubo Na Tchuto, der Oberkommandierende der Marine, das Gegenteil behauptet:
" Sicher haben unsere Streitkräfte einen Bürgerkrieg geführt, aber jetzt ist die Armee geeint und garantiert die Stabilität Guinea-Bissaus. Die Streitkräfte wollen den Fortschritt, wollen alle Probleme Guineas gelöst sehen. Da gibt es einen nationalen Konsens. Wir, die Armee wollen Entwicklung und Fortschritt. Wir sind uns einig, dass wir dieses Volk, für dessen Unabhängigkeit wir elf Jahre lang gekämpft haben, schützen wollen. Die Zeit der Querelen ist vorbei, der Bürgerkrieg zu Ende. Niemand will mehr Krieg in Guinea-Bissau."
"Nie wieder Bürgerkrieg", verkündet Bubo beim Morgenappell, zu dem die rund 300 Mann seiner Marine komplett angetreten sind. Bubo, ein Mann wie ein Schrank, dem seine mehr als 60 Jahre nicht anzusehen sind, gibt sich jovial und staatstragend. Er ist beliebt, bekannt für seine Scherze, die er unter Freunden macht. Zum Feind haben - so munkeln Insider beim Militär hinter vorgehaltener Hand - sollte man Bubo allerdings nicht.
Obwohl nicht einmal 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, erscheinen die Intrigen und Machtkämpfe Bissaus den Bewohnern von Bercolom wie Probleme aus einer anderen Welt. Das Dorf liegt am Rio Grande de Buba, ist von Bissau nur mit einer abenteuerlichen Bootsfahrt mit einem alten Außenborder-Kanu oder eine stundenlange Fahrt auf holprigen Pisten zu erreichen.
Bercolom, das ist eine Art Feldweg mit braunen Lehmhütten links und rechts, die besseren mit Wellblechdach, die schlechteren mit Stroh gedeckt. Um den von holländischen Entwicklungshelfern gebauten Brunnen stehen Frauen, holen Wasser. Kinder spielen vor den Häusern, Transistorradios dröhnen, sie sind der einzige Kontakt zur Außenwelt. In Dörfern wie Bercolom, den "tabancas", gelten vor allem die Jahrhunderte alten, überlieferten Gesetze, hat die Staatsmacht wenig zu melden. Den Regionalgouverneur habe er hier noch nie gesehen, erzählt der Dorfälteste Sadjo Ndjai, der Verwalter aus Bolama sei aber immerhin schon ein paar Mal vorbeigekommen.
Sadjo Ndjai sitzt in seinem braunen Kaftan würdevoll auf einem Stuhl, spricht bedächtig-langsam, blickt ernst in die Runde. Er gehört zum Volk der Beafada, ist Muslim, hat drei Frauen und zwölf Kinder. Sein Alter wisse er nicht genau, bemerkt Ndjai, er sei wohl so um die 80. Als Guerrilheiro habe er im Dschungel für die Unabhängigkeit Guinea-Bissaus gekämpft, Amilcar Cabral persönlich kennengelernt, erzählt der hagere Mann stolz, in seinen traurigen Augen blitzt kurz Freude auf. Doch statt besser sei auch in Bercolom alles nur schlechter geworden.
" Ich habe die Hoffnung verloren, dass die Regierung uns hilft, unsere Lage zu verbessern. Die Politiker haben die Ziele unseres Staatsgründers Cabral verraten oder vergessen. Der Staat tut nichts. Ich denke, helfen können wir uns nur selbst, oder in Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen."
Nach ihrem fünfjährigen Soziologiestudium in Russland hat Nadine dos Reis Gomes eine Praktikantenstelle im Tourismusministerium ergattert. Ohne Bezahlung natürlich, aber immerhin. Soziologen, so hatte man ihr beim staatlichen Forschungsinstitut unverblümt erklärt, könne das Land sich derzeit nicht leisten. "N'misti vivi, ich will doch nur leben" klingt es durch die Kneipe, Nadine und ihre Freunde singen leise und etwas wehmütig mit.
Draußen auf der Straße Tristesse pur: Bissau, einst angeblich die sauberste Hauptstadt Westafrikas, versinkt im Dreck. Die Müllabfuhr funktioniert nicht, die Müllmänner bekommen seit Monaten keinen Lohn. Immerhin - nachts sieht man die Abfallberge wenigstens nicht. Es gibt keinen Strom, es stinkt fürchterlich. Etwas weiter unten, auf dem Ché-Guevara-Platz, warten vor dem Café Baiana leichte Mädchen auf Kunden. Irgendjemand wird ihnen schon ein paar Franc CFA geben - ein philippinischer Matrose von dem Schiff, das vorgestern angekommen ist, oder einer der vielen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, der sich gerade einsam fühlt.
Die Republik Guinea-Bissau ist das sechst- oder siebtärmste Land der Welt, niemand weiß das so genau. Den Bürgern Guineas ist es aber auch relativ gleichgültig, auf welchem Platz der Armutsliste Portugals ehemalige Überseeprovinz offiziell steht. Für sie ist wichtig, zu überleben. Irgendwie. Guinea-Bissau, ein Staat etwa so groß wie Baden-Württemberg, liegt südlich der Republik Senegal. Rund 1,5 Millionen Menschen leben im Lande, fast ein Drittel davon in der Hauptstadt Bissau. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt etwas mehr als 150 Euro im Jahr - knapp 40 Cent am Tag. Die Bevölkerung lebt fast ausschließlich von Landwirtschaft und Fischerei.
Beamte und Staatsbedienstete in den größeren Städten werden nur unregelmäßig bezahlt. Darum versuchen sie, sich - mehr schlecht als recht - mit Schwarzmarktgeschäften über Wasser zu halten. Die Lage ist ziemlich hoffnungslos; rund 800 Millionen Euro Auslandsschulden lasten auf dem kleinen Land.
"N'misti vivi - ich will leben", summt die 28-jährige Soziologin Nadine in der Kneipe vor sich hin. Ihre großen, weit geöffneten, fast schwarzen Augen scheinen in eine ungewisse Zukunft zu blicken:
" Natürlich macht das alles mich böse. Ich habe mich ja nach meinem Studium in Russland entschieden, hierher zurückzukehren. Jetzt muss es doch einen Ausweg aus dieser Situation geben. Vielleicht finde ich ja durch das Praktikum im Tourismusministerium einen Job. In einem Hotel, das vielleicht irgendwann hier aufmacht. Ich brauche irgendeine Arbeit, irgendwie muss ich doch überleben."
Überleben muss auch er - der Lehrer Etiene Mateus Djassi. Der 32-Jährige unterrichtet Portugiesisch an der Jorge-Ampa-Cumelerbo-Schule im Stadtteil Bairro Militar. Portugiesisch ist Amtssprache in Guinea-Bissau und trotzdem Fremdsprache. Im Alltag sprechen die Bürger Guineas Crioulo, eine Mischung aus Portugiesisch und afrikanischen Sprachen. Etiene, schwarze Hose, weißes Hemd, so korrekt wie eben möglich gekleidet, schreibt Aufgaben an die Tafel. 43 Schüler zählt diese 7. Klasse, einige sitzen zu dritt auf klapprigen Schulbänken, die eigentlich nur für zwei gedacht sind. Die Schule ist in einer alten Fabrik untergebracht, Schüler und Lehrer haben selbst die etwa zwei Meter hohen Trennwände eingebaut, die nicht einmal bis zum Wellblechdach der Halle reichen. Einige Tausend Schüler werden hier fast rund um die Uhr im Schichtdienst unterrichtet. Der Lärm ist ebenso unerträglich wie die Hitze und der Gestank. Die Arbeitsbedingungen seien katastrophal, bemerkt Lehrer Etiene:
" Nachts haben wir gelegentlich Strom, um unterrichten zu können. Aber oft gibt es zwei, drei Tage keine Elektrizität. Dann gehen die Schüler wieder nach Hause, haben keinen Unterricht, obwohl sie doch ihre Schulgebühren bezahlen. So verlieren wir sehr viel Zeit. Das ist hart, das ist schwierig."
Die Jorge-Ampa-Cumelerbo-Schule ist ein Spiegelbild des Schulsystems von Guinea-Bissau: Seit langem reicht die alte Fabrikhalle nicht mehr für die Schüler aus. Also wird auch im Freien unter Strohdächern unterrichtet. Schilfmatten trennen die Klassen ab, ein Provisorium, das längst zur Dauereinrichtung geworden ist. Es fehlt an Schulbüchern, an Heften, selbst an Bleistiften. Die Lehrer sind schlecht ausgebildet. Bildung ist, auch wenn die Politiker immer wieder das Gegenteil behaupten, nicht die Hauptsorge der Regierung. Bildung kostet Geld, und das hat der Staat ebenso wenig wie seine Bürger.
Das Ergebnis: Die Einschulungsrate an den Grundschulen liegt nach UNESCO-Schätzungen bei gerade einmal 54 Prozent, mehr als drei Viertel der Menschen in Guinea sind Analphabeten. Wer es sich leisten kann - und das sind nicht viele - , schickt seine Kinder in der Hauptstadt Bissau auf eine der wenigen und teuren Privatschulen. Auch der Lehrer Etiene verdient sich dort ein bisschen nebenbei. In der Mário-Soares-Schule unten an der Hauptstraße:
"32727 Franc bekomme ich. Rund 50 Euro, das ist nicht gerade viel. Leben kann man davon nicht. Man muss irgendwie noch etwas dazuverdienen. Obendrein werden wir nicht regelmäßig bezahlt. Ich habe seit sechs Monaten kein Gehalt bekommen! Das ist doch unglaublich. Wie soll man so leben?"
Etiene lebt, wie die meisten Einheimischen, an der Armutsgrenze. In einem finsteren, fensterlosen Loch, das kaum die Bezeichnung Haus verdient. Das einzige Zimmer teilt er mit seiner Frau und den beiden Kindern. Wasser gibt es nur unten am Brunnen, Strom höchstens ein paar Stunden am Tag. Wenn die hoffnungslos überlastete Energieversorgung von Bissau nicht wieder einmal zusammengebrochen ist, oder die Generatoren des E-Werks nicht aus Brennstoffmangel abgeschaltet sind.
"Bairro Militar" heißt dieses Viertel am Stadtrand von Bissau, und es gehört noch nicht zu den schlimmsten: Während der Kolonialzeit lebten hier die portugiesischen Soldaten, daher der Name. Die alten Reihenhäuser verfallen langsam. Sie waren dem tropischen Klima nicht gewachsen, die Fenster sind eingeschlagen, den Putz hat eine schwarze Moderschicht überzogen.
Hinter den Reihenhäusern aus der Kolonialzeit Neubauten: einstöckige, bunte, wellblechgedeckte Häuser und Häuschen aus Lehmziegeln. Nebeneinander, aneinander, fast aufeinander. Geteerte Straßen gibt es nicht im "Bairro Militar", aber noch ist die rote Erde zwischen den Hütten staubig und fest.
Demnächst, in der Regenzeit, werden sich die Wege in tiefen Morast verwandeln, in einen Brutplatz für Krankheiten. Dann wird es - wie alle Jahre - wohl auch wieder zu einer Choleraepidemie in Bissau kommen, der wieder Hunderte von Menschen, vor allem Kinder, zum Opfer fallen dürften, erklärt Etiene. Er packt seine Hefte zusammen, muss wieder zum Unterricht. Etiene will raus aus dem Elend. Dafür wird er kämpfen, versichert der junge Lehrer zum Abschied:
" Das Leben ist hart, aber ich werde nicht aufgeben. Wir müssen Mut haben, damit Guinea eine Zukunft hat. Wir dürfen nicht alle kapitulieren. Leider erleben wir jeden Tag, wie sich die benehmen, die an der Spitze dieses Landes stehen. Wie die Politiker unsere Heimat zu Grunde gerichtet haben und sie weiter zu Grunde richten. Darum müssen wir, die Jungen, uns anstrengen, um eines Tages die Geschicke des Landes in die Hand zu nehmen. Das ist die beste Garantie für die Zukunft unserer Kinder. Wir sind stolz auf unsere Heimat und hoffen, Guinea eines Tages zu verändern."
Eines Tages. Denn mit denen, die Guinea-Bissau derzeit regieren, sei Veränderung unmöglich, meint nicht nur Etiene. Vom Staatspräsidenten bis zum Staatssekretär - die meisten Politiker Guinea-Bissaus seien hoffnungslos korrupt und unfähig. Statt um die Interessen des Landes ginge es ihnen in erster Linie um ihr persönliches Wohlergehen, betont der Soziologe João José Silva Monteiro:
" Die Mehrheit unserer Politiker hat nicht einmal einen Beruf! Während die politischen Führer anderer Länder ihre Fähigkeiten bereits in anderen Lebensbereichen bewiesen haben, wollen die Leute hier an die Macht, um zu überleben. Das macht das politische Leben kompliziert, bedroht die Stabilität. Wir leben in ständiger politischer Spannung und in einem Klima der Verschwörungen."
Nicht weniger als 31 Parteien gibt es in dem 1,5-Millionen-Land, aber keine wirklich funktionsfähige Regierung. Nicht nur die Parteien untereinander, auch die Politiker innerhalb der Parteien sind hoffnungslos zerstritten. Die von allen wiederholten ständigen Beteuerungen, man brauche und wolle "nationalen Konsens", sind wenig mehr als Lippenbekenntnisse. Und Staatspräsident João Bernardo Vieira, der im Unabhängigkeitskrieg in den siebziger Jahren als "Comandante Nino Vieira" bekannt geworden ist, nutzt den Zwist, seine Position zu stärken.
Vieira hatte das Land von 1980 bis 1999 als Diktator regiert, war erst am Ende eines fast einjährigen Bürgerkriegs nach Portugal ins Exil gegangen. Guinea-Bissau kam trotzdem nicht zur Ruhe: Ständig wiederkehrende Staatsstreiche und Militärputsche stürzten das Land immer tiefer in die Krise. Seit der Rückkehr und Wiederwahl Vieiras im vergangenen Jahr scheint zumindest etwas Stabilität eingekehrt zu sein. Was sich nach Ansicht des Soziologen João José Silva Monteiro schnell wieder ändern könne:
" Höchst beunruhigend ist, dass alle die, die keine Posten in der Regierung erhalten haben, weiter Verschwörungen aushecken. Ganz nach dem Motto: Die Regierung ist nur gut, wenn ich dazu gehöre."
Irgendwie hatte Amílcar Cabral, Gründungsvater der Republik Guinea-Bissau, sich das ganz anders vorgestellt. 1963 hatte unter seiner Führung der bewaffnete Kampf gegen die Kolonialmacht Portugal begonnen. Ein langer, blutiger Guerillakrieg entbrannte, der auch für die anderen portugiesischen Afrika-Kolonien Symbolcharakter hatte. Schließlich kontrollierten die Dschungelkämpfer der PAIGC - der Afrikanischen Unabhängigkeitspartei Guineas und der Kapverdischen Inseln - fast das ganze Land. Am 24. September 1973 erklärte Guinea-Bissau einseitig seine Unabhängigkeit, die Portugal allerdings erst nach der Nelkenrevolution 1974 anerkannte. Alles sollte besser werden, hofften damals die Führer des jungen Staates.
Heute erinnert eine Steinbüste am Hafen an den 1973 unter nie geklärten Umständen ermordeten Revolutionär Cabral. Sein Traum vom besseren Leben in einem befreiten Guinea hat sich jedoch in einen Alptraum verkehrt: Der Hafen versandet, halbversunkene Schiffswracks rosten vor sich hin. Die Avenida 3 de Agosto, die einstige stolze Uferpromenade von Bissau, ist heute von Schlaglöchern übersät. Ein klappriger Lastwagen versucht, einer riesigen, trüb-braunen Wasserlache auszuweichen. Die einst schmucken Häuser portugiesischer Kolonialbeamter mit ihren hölzernen Balkonen verrotten, die Schaufenster in Bissau-Velho, dem früher pulsierenden Geschäftszentrum, sind leer. Inkompetenz, Korruption sowie mehrere Bürgerkriege haben die Hauptstadt, ja das ganze Land ruiniert. Und während die Politiker fast täglich Besserung versprechen, folgt Regierungskrise auf Regierungskrise.
Darüber, wer zur Regierung gehört, bestimmen letztendlich sie: die "Forças Armadas Revolucionários do Povo", das Militär. Der Oberkommandierende der "revolutionären Volksstreitkräfte", Batista Tagme Na Waia, gilt als starker Mann im Staate. Wenn er und seine alten Dschungelkämpfer aus der Zeit des Befreiungskrieges unzufrieden seien, würden die Stühle der Regierenden wackeln, äußert Soziologe João Monteiro:
" Die politische Instabilität heute ist ironischerweise auch eine Konsequenz unseres erfolgreichen Befreiungskampfes vor mehr als 40 Jahren. Da ist zuerst einmal das große Gewicht der Militärs im politischen Leben des Landes. Zweitens die traditionelle Bereitschaft, zur Lösung der Probleme Waffengewalt einzusetzen. Und drittens die fast permanente Weigerung der Streitkräfte, sich der Exekutive oder den Gerichten unterzuordnen."
Denn die alten Freiheitskämpfer fühlen sich an den Rand gedrängt. Und die Politik weiß nicht, was sie mit ihnen machen soll: Es fehlt das Geld, die Helden von einst in Rente zu schicken, ja es gibt nicht einmal ein Gesetz, das das ermöglichen würde. Also behalten sie ihre Waffen, bleibt dieser von Fachleuten auf rund 5.000 Mann geschätzte "harte Kern" ein Staat im Staate. Immer für einen neuen Staatsstreich gut, auch wenn José Américo Bubo Na Tchuto, der Oberkommandierende der Marine, das Gegenteil behauptet:
" Sicher haben unsere Streitkräfte einen Bürgerkrieg geführt, aber jetzt ist die Armee geeint und garantiert die Stabilität Guinea-Bissaus. Die Streitkräfte wollen den Fortschritt, wollen alle Probleme Guineas gelöst sehen. Da gibt es einen nationalen Konsens. Wir, die Armee wollen Entwicklung und Fortschritt. Wir sind uns einig, dass wir dieses Volk, für dessen Unabhängigkeit wir elf Jahre lang gekämpft haben, schützen wollen. Die Zeit der Querelen ist vorbei, der Bürgerkrieg zu Ende. Niemand will mehr Krieg in Guinea-Bissau."
"Nie wieder Bürgerkrieg", verkündet Bubo beim Morgenappell, zu dem die rund 300 Mann seiner Marine komplett angetreten sind. Bubo, ein Mann wie ein Schrank, dem seine mehr als 60 Jahre nicht anzusehen sind, gibt sich jovial und staatstragend. Er ist beliebt, bekannt für seine Scherze, die er unter Freunden macht. Zum Feind haben - so munkeln Insider beim Militär hinter vorgehaltener Hand - sollte man Bubo allerdings nicht.
Obwohl nicht einmal 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, erscheinen die Intrigen und Machtkämpfe Bissaus den Bewohnern von Bercolom wie Probleme aus einer anderen Welt. Das Dorf liegt am Rio Grande de Buba, ist von Bissau nur mit einer abenteuerlichen Bootsfahrt mit einem alten Außenborder-Kanu oder eine stundenlange Fahrt auf holprigen Pisten zu erreichen.
Bercolom, das ist eine Art Feldweg mit braunen Lehmhütten links und rechts, die besseren mit Wellblechdach, die schlechteren mit Stroh gedeckt. Um den von holländischen Entwicklungshelfern gebauten Brunnen stehen Frauen, holen Wasser. Kinder spielen vor den Häusern, Transistorradios dröhnen, sie sind der einzige Kontakt zur Außenwelt. In Dörfern wie Bercolom, den "tabancas", gelten vor allem die Jahrhunderte alten, überlieferten Gesetze, hat die Staatsmacht wenig zu melden. Den Regionalgouverneur habe er hier noch nie gesehen, erzählt der Dorfälteste Sadjo Ndjai, der Verwalter aus Bolama sei aber immerhin schon ein paar Mal vorbeigekommen.
Sadjo Ndjai sitzt in seinem braunen Kaftan würdevoll auf einem Stuhl, spricht bedächtig-langsam, blickt ernst in die Runde. Er gehört zum Volk der Beafada, ist Muslim, hat drei Frauen und zwölf Kinder. Sein Alter wisse er nicht genau, bemerkt Ndjai, er sei wohl so um die 80. Als Guerrilheiro habe er im Dschungel für die Unabhängigkeit Guinea-Bissaus gekämpft, Amilcar Cabral persönlich kennengelernt, erzählt der hagere Mann stolz, in seinen traurigen Augen blitzt kurz Freude auf. Doch statt besser sei auch in Bercolom alles nur schlechter geworden.
" Ich habe die Hoffnung verloren, dass die Regierung uns hilft, unsere Lage zu verbessern. Die Politiker haben die Ziele unseres Staatsgründers Cabral verraten oder vergessen. Der Staat tut nichts. Ich denke, helfen können wir uns nur selbst, oder in Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungsorganisationen."