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Louise Nealon: "Snowflake"
Die schwere Angst der Schneeflocke

Eine 18-Jährige wechselt in Louise Nealons neuen Roman von einer irischen Dorfschule an das renommierte Dubliner Trinity-College. Doch sie hat Angst: vor ihren Kommilitonen, davor, den Anforderungen nicht zu genügen und davor, unabhängig zu werden.

Von Brigitte Neumann | 05.09.2022
Louise Nealon: „Snowflake“
Louise Nealon: „Snowflake“ (Buchcover: Mare Verlag)
Deborah White ist 18, kommt vom Dorf und hat einen Studienplatz in Literatur am Dubliner Trinity College ergattert. Für sie ist es ein bedeutsamer Übergang, denn nun erst, im Vergleich mit ihren Kommilitonen, wird Deborah klar, aus welch seltsamer Familie sie stammt. Zahlreiche Rückblenden in die Tage ihrer Kindheit kreisen um Mutter, Onkel, Oma, Opa, Nachbarn und Mitschüler. Deborah schämt sich für ihre Familie. Denn von Dublin aus gesehen wirkt sie ziemlich verrückt.

Wahn und Wunder

Mutter Maeve bildet sich ein, dass sie die Träume anderer Menschen träumen muss. Damit sie bei dem Andrang nicht durcheinanderkommt, führt sie Traumtagebücher. Sie ist überzeugt, dass ihre Tochter diese Mission fortführen wird. Maeves Zimmer, genannt der goldene Tabernakel, ist mit mehreren Schichten von Ausrissen aus literarischen Werken tapeziert. Das aber nicht nur, weil Maeve Proust, Heaney, Wilde verehrt, sondern auch als literarischer Abwehrzauber gegen Dämonen in der Wand.
Deborah ist die Alleinerzählerin des Romans. Uns, den Lesenden, schildert sie die Zustände zuhause ohne jeden Groll:
„Mam setzt selten einen Fuß vor die Tür, sie geht nur zur Messe, zum Supermarkt und zum Sozialamt. Billy achtet darauf, dass sie ihr Arbeitslosengeld jede Woche abholt. Er nennt es ihr Kunststipendium.“

Billys Kuhhandel

Der Bruder von Deborahs Mutter, Billy, managt den familieneigenen Milchviehbetrieb, hält Maeve in Schach, wenn sie einen ihrer psychotischen Schübe bekommt und versucht, Deborah von ihrer Mutter zu lösen. Deborah ist die ganze Hoffnung des Onkels. Denn er sagt sich: Wenn er seine Nichte zu Glück und Erfolg führen kann, dann hat er eine schlimme Scharte wieder ausgewetzt, den Tod seiner Mutter, für den er sich die Schuld gibt. Aber seine Rechnung geht nicht auf.
Im Jahr, als Deborah ans Trinity College in Dublin wechselt, spitzt sich die Situation daheim zu. Ohne sie als Objekt der Fürsorge und der Hoffnung, kippt das fragile Gleichgewicht zwischen Maeve und Billy. Aber auch Deborahs Leben läuft aus dem Ruder. In der Uni streift sie umher – Zitat - „wie ein gehemmtes Gespenst“. Sie hat Angst vor fremden Menschen, vor den Anforderungen, vor den eigenen Mängeln. Die Stellen im Roman, in denen die Erzählerin ihre Situation aufrichtig in den Blick nimmt, sind selten und ähneln eher Symptomlisten - wie diese Beschreibung eines typischen Uni-Alltags.
„Zum Verschnaufen gehe ich aufs Klo. Ich erhasche im Spiegel einen Blick auf mich. Blaue Schatten liegen unter meinen Augen. Ich bin erschöpft vom andauernden Herumgemäkele an mir. Seit ich mit dem Studium angefangen habe, schlafe ich deutlich mehr, aber es ist die Art Schlaf, die nur noch müder macht.“

Lesegenese

Der Roman „Snowflake“ wirkt trotz des dramatischen Plots beim ersten Lesen schlicht angenehm. Louise Nealons Stil ist leicht, die Sprache versöhnlich, ihre Dialoge haben moderaten Witz. Ihre Metaphern sitzen. Die Übersetzerin Anna-Nina Kroll hält sich an Ton und Atmosphäre der Vorlage und verwandelt ihrerseits Schwere in Schwerelosigkeit. Aber „Snowflake“ ist mehr als ein intelligenter Feelgood-Roman. Denn mit fortschreitender Lektüre fällt eine gewisse Abwesenheit der Erzählerin auf, obwohl wir erfahren, wie sie in einer Tour säuft, promiskuitiven Sex hat oder sich täglich im Uniklo versteckt, um zu weinen. Sie ist abwesend, denn sie scheint nichts dabei zu fühlen. Außer der Angst, dass sie eine Versagerin sein könnte,  – eine – Zitat -  „verdammte Schneeflocke“. Für Onkel und Mutter hingegen entwickelt sie so viel Empathie, dass die beiden Figuren sehr plastisch werden. Der Roman hat eine leere Mitte. An einer Stelle erkennt Deborah White, dass sie ihr Leben lang versuchte, Anderen angenehm zu sein. Sie formuliert es drastischer:
„Ich lüge, weil ich lieber höflich als ehrlich bin.“

Das gehemmte Gespenst als Medium

Deborahs Verhalten trägt alle Anzeichen einer Depression. Und die Kunst Louise Nealons ist es, die Krankheit ihrer Protagonistin zu evozieren, beim Lesen entstehen zu lassen, ohne sie benennen zu müssen. Die Autorin entwickelte während ihres Literaturstudiums in Dublin selbst eine Depression. Dass ihr Debütroman „Snowflake“ autofiktional geprägt ist, hat sie in Interviews deutlich gemacht.
Wie aber führt Nealon ihre Leser zu der Erkenntnis, dass es die leere Mitte ihres Romans ist, die zählt? Die Abwesenheit der Erzählerin ist ein Rätsel und lockt uns auf eine zweite Ebene des Buchs. Dort ist die dann endlich nicht mehr kaschierte Verzweiflung Deborah Whites wie mit Händen zu greifen. Wer diese Hürde nimmt, für den entfaltet der doppelbödige Roman „Snowflake“ von Louise Nealon eine herrlich wütende Wucht.
Louise Nealon: "Snowflake"
Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Mare Verlag, Hamburg. 346 Seiten, 24 Euro.