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"Die SED solidarisierte sich sehr offen mit diesen Massenmördern"

Vor 20 Jahren ließ die chinesische Führung die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig zerschlagen. Das Massaker in Peking habe damals in der DDR zu einer Mobilisierung der Opposition beigetragen, erinnert sich Werner Schulz, Gründungsmitglied des Neuen Forums und heute Europapolitiker der Grünen. Man sei nicht bereit gewesen, sich die "chinesische Lösung" bieten zu lassen, die aber ständig über den Regimegegnern geschwebt habe.

Werner Schulz im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 04.06.2009
    Tobias Armbrüster: Herr Schulz, als die chinesischen Soldaten vor 20 Jahren in Peking auf die Studenten geschossen haben, wie haben Sie das damals in der DDR erfahren?

    Werner Schulz: Über Westfernsehen natürlich haben wir diese Bilder gesehen. Das war schrecklich, das war Schockstarre auf uns. So hat das jedenfalls gewirkt, und ich habe das nicht für möglich gehalten, weil es war ja ein Jahr oder eine Situation, wo man das Gefühl von demokratischem Aufbruch im sozialistischen Lager verspürte - Frühling in Moskau, Glasnost, Perestrojka, dann die chinesischen Studenten auf dem Tian'anmen, was für uns überraschend kam, weil wir von China relativ wenig wussten. Es war ja hermetisch abgeschlossen, dieses kommunistische Reich, und plötzlich dort eine demokratische Studentenbewegung. Das waren für uns alles Anzeichen, dass dieses 89er-Jahr ein Jahr des demokratischen Aufbruchs oder Durchbruchs sogar werden könnte. Und dann diese Bilder!

    Armbrüster: Wie haben denn die Medien in der DDR berichtet?

    Schulz: Die Medien in der DDR haben relativ schnell die chinesische Position sich zu eigen gemacht. Die SED-Führung feierte schon am 5. Juni in einer Überschrift ihres Zentralorgans, des "Neuen Deutschlands", dass die Befreiungsarmee Chinas den konterrevolutionären Aufruhr niedergeschlagen hat, und die SED solidarisierte sich damit sehr offen mit diesen Massenmördern.

    Armbrüster: Hat Ihnen das damals Angst gemacht?

    Schulz: Ohne Zweifel! Das hat uns zunächst erst mal doch ganz schön zu schaffen gemacht, weil wir das Gefühl hatten, jetzt greift man durch, jetzt schlägt man zurück, jetzt wird es hart, jetzt wird nicht mehr diskutiert oder zugeführt und verhaftet, jetzt ist man zum Äußersten bereit. Das hat uns ja dann auch Egon Krenz zu verstehen gegeben, der sich ja beeilt hat, sofort mit Hans Modrow nach China zu fahren, um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, und dann ja volles Einverständnis mit dem Vorgehen der chinesischen Genossen geäußert hat. Aber wir haben uns davon eigentlich nicht deprimieren lassen. Wir waren ja gerade in der Situation, dass wir die gefälschten Kommunalwahlen nachgewiesen hatten, am 7. Mai, und planten für den 7. Juni, also nur drei Tage nach diesem Massaker in China, eine Demonstration vom evangelischen Konsistorium in der Neuen Grünstraße zum Staatsratsgebäude, um dort eine Petition zu übergeben. Das wäre die erste große, nicht genehmigte Demonstration gewesen. Das ist abgewendet worden, ein Sicherheitsaufgebot sondergleichen, etwa 1000 Stasi-Leute, die in Berlin im Einsatz waren, die das verhindert haben, und ein Großteil von uns, etwa 300, haben sich in die Sophienkirche zurückgezogen und haben dann dort von der Sophienkirche aus noch mal versucht, eine Demonstration zu starten. Die sind dann in der Großen Hamburger Straße, dieser Straße, wo es in der NS-Zeit die Judendeportationen gab, verhaftet und deportiert worden.

    Armbrüster: Heißt das, diese Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die haben für eine Art Aufbruchstimmung gesorgt in der Bürgerrechtsbewegung?

    Schulz: In einer gewissen Weise ja. Es hat zu einer Mobilisierung beigetragen, weil die Opposition der DDR sich protestierend zu diesen Ereignissen in China geäußert hat. Es gab dann ein Trommelfasten in der Berliner Erlöserkirche, es gab einen großen Mahngottesdienst und Klagegottesdienst in der Samariterkirche, wo etwa 2000 Leute zusammenkamen, und es kam zu einer zusätzlichen Mobilisierung. Das Wort "Demokratie" in den chinesischen Schriftzeichen wurde als Aufkleber in der Opposition herumgereicht, mutige Autofahrer haben das an ihre Trabbis und Wartburgs geklebt. Es ging durchs ganze Land. Wir waren nicht bereit, uns die chinesische Lösung bieten zu lassen, und dennoch hat sie ständig über uns geschwebt.

    Armbrüster: Wenn wir jetzt von der Bürgerrechtsbewegung 1989, im Juni 1989 sprechen, wie müssen wir uns das heute vorstellen? Haben Sie damals Westfernsehen geguckt, wie Sie es beschrieben haben, und sich dann sofort mit Freunden getroffen, um zu diskutieren was Sie da gesehen haben?

    Schulz: Westfernsehen konnte man ja allenthalben bis auf wenige Regionen in der DDR empfangen. Man war so weit im Bilde. Der Besuch von Gorbatschow im Mai in Peking - das war ja seit 1959 das erste Gipfeltreffen wieder zwischen China und der Sowjetunion - hatte als Nebenerscheinung, dass Hunderte von Westjournalisten ja mit nach Peking gekommen sind und über diesen Studentenprotest berichtet hatten. Wir wussten Bescheid und die Opposition war relativ gut vernetzt, nicht so wie man sich das heute vorstellen kann, mit Handys und dergleichen, sondern es war mehr oder weniger eine Mund-zu-Mund-Propaganda. Es gab in allen evangelischen Kirchen Umweltgruppen, Friedensgruppen, Frauen-, Menschenrechtsgruppen und dergleichen. Wir kannten uns über das jährlich stattfindende Treffen "Frieden konkret" und insofern haben dann diese Proteste gegen das Massaker in Peking eine Flächenausdehnung bekommen. Das gab es also nicht nur in Berlin, sondern ich weiß auch in Leipzig kam es zu Demonstrationsversuchen. Das waren die Vorläufer der Montagsdemonstrationen. In der Dresdener Kreuzkirche gab es ein Trommelfasten für Peking und dergleichen mehr.

    Armbrüster: Jetzt haben Sie schon gesagt, dass einige dieser Aktionen auch unterbunden wurden von der DDR-Führung. Hatten Sie damals den Eindruck, die Behörden werden nervös?

    Schulz: Ich hatte den Eindruck - und den habe ich mit vielen anderen geteilt -, die Behörden - das ist ja ein sehr milder Begriff für so ein System -, der Staatsapparat und die Staatssicherheit, also das Schild und Schwert der Partei, waren zu allem entschlossen, und Egon Krenz machte das ja auch deutlich, auch übrigens die Haltung von Hans Modrow, der heute Ehrenvorsitzender der Linken ist - wofür weiß man offenbar nur in dieser Partei -, denn es hat ja dann auch am Dresdener Bahnhof brutale Übergriffe gegeben. Die signalisierten der DDR-Opposition: Wenn ihr das ausdehnt, wenn ihr solche Unruhen hier organisiert, dann sind wir auch bereit, durchzugreifen und notfalls auch mit der Waffe in der Hand die chinesische Lösung ... Es gibt ja eine Äußerung von Margot Honecker, die sie auf dem pädagogischen Kongress am 13. Juni noch gesagt hat, dass es also eine kämpferische Zeit ist, die eine Jugend braucht, die bereit ist zu kämpfen, und notfalls auch mit der Waffe in der Hand. Das gab begeisternden Beifall. Ich würde heute gerne die Pädagogen mal fragen, die auf diesem Kongress waren, was sie bewogen hat, das zu applaudieren damals.

    Armbrüster: Können wir dann also sagen, Herr Schulz, dass die Ereignisse vom Platz des Himmlischen Friedens den Mauerfall in der DDR beschleunigt haben?

    Schulz: Es ist sicher mit ein Riss, der darauf zurückzuführen ist. Es sind verschiedene Kräfte, die gewirkt haben: natürlich der Runde Tisch in Polen, den es '89 gegeben hat. Aber schauen Sie, die DDR ist von Anfang an nie demokratisch legitimiert gewesen. Jegliche Versuche zu einem demokratischen Sozialismus wie '68 in Prag sind erstickt und niedergewalzt worden. Es gab immer Widerstand, es gab immer Gegenbewegungen, und insofern haben all diese Partikularkräfte dazu beigetragen, dass letztendlich die Mauer durchbrochen werden konnte, sicher auch dieses Fanal in Peking. Es war klar: Die Krise ist allenthalben im gesamten sozialistischen Lager spürbar, und die vor allen Dingen junge Generation hält es nicht mehr aus, sie ist gewillt, ihre Selbstbefreiung zu betreiben.

    Armbrüster: Sie kandidieren jetzt für das Europaparlament. Wenn Ihnen damals jemand gesagt hätte, dass Sie in 20 Jahren nicht mehr DDR-Opposition machen, sondern Europapolitik, was hätten Sie geantwortet?

    Schulz: Ich hätte gesagt, das ist ein wahnsinnig schöner Traum. Ich kann es kaum glauben. 20 Jahre ist zwar eine lange Zeit, aber es ist nicht vorstellbar. Ich hätte mir das damals noch nicht mal erträumen können. Wir haben eigentlich sehr, sehr kleine Brötchen in der Hand gehabt und haben gedacht, dass wir dieses Land zumindest etwas auflockern können, reformieren können. Aber dass wir so schnell diese Republik abwählen werden, die ja nie eine war, sondern DDR steht für mich für ein "Deutsches Diktatur-Regime" und nicht für eine "Deutsche Demokratische Republik" - das war es nur im letzten halben Jahr -, dass wir dieses überwinden und dass wir ein geeintes Deutschland erreichen können und letztendlich auch einen Aufbruch nach Europa hinbekommen und eine europäische Erweiterung, das ist also mehr als ein wunderschöner Traum, der da in Erfüllung gegangen ist.