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"Die Situation in Hessen ist eine ganz andere als die für mich"

Gesine Schwan, Kandidatin der SPD für das Bundespräsidentenamt, rechnet nicht damit, dass die Neuwahl in Hessen Auswirkungen auf die Wahl des Staatsoberhaupts im Mai hat. Ihr Ziel sei es, auch die Linkspartei "für die Demokratie zu gewinnen". Einen "Kotau" werde sie aber nicht machen, sagte Schwan, die bei der Präsidentenwahl auf Stimmen der Linkspartei angewiesen wäre.

Gesine Schwan im Gespräch mit Christoph Heinemann | 14.11.2008
    Christoph Heinemann: Die Iden des Novembers haben wir schon hinter uns. Die zweite Hälfte des 11. Monats im Jahr beginnt bald. Und nun geht es erfahrungsgemäß schnell: Nikolaus, Weihnachten, Silvester, Neujahr und das heißt 2009. Auf dem politischen Kalender stehen dann eine Bundestagswahl, eine Europawahl, fünf Landtagswahlen, mehrere Kommunalwahlen und die Bundesversammlung. Am 23. Mai wird das künftige Staatsoberhaupt gewählt und ein Thema wird uns ins neue Jahr begleiten, ob wir wollen oder nicht: die Finanzkrise, die nach Einschätzung der Sachverständigen eine Wirtschaftskrise im Schlepptau zieht.

    Am Wochenende treffen sich Spitzenpolitiker aus mindestens 20 Industrie- und Schwellenländern in Washington zum Weltfinanzgipfel, und diese wuchtige Bezeichnung spiegelt das Ausmaß des Problems. Der Blick auf dieses Wochenende bildete thematisch den Beginn eines Gesprächs, das wir vor dieser Sendung mit der Politikwissenschaftlerin Professor Gesine Schwan geführt haben. Ich habe die SPD-Kandidatin für das Amt des Staatsoberhauptes zunächst gefragt, was sie von dem Treffen in Washington erwartet.

    Gesine Schwan: Angesichts dessen, dass verständlicherweise der zukünftige Präsident Obama daran nicht teilnimmt, angesichts dessen auch, dass die Probleme sehr komplex sind, kann das wohl nur ein erstes Beschnuppern werden und ein erstes sich Kennenlernen, was ja auch hilfreich sein kann.

    Vielleicht kann man sich auch dabei überlegen, sofern man noch andere informelle Gespräche führen kann - bei solchen Treffen sind ja auch informelle Gespräche sehr wichtig -, wohin die Reise in den nächsten vier, fünf Monaten gehen kann, bis dann Obama auch richtig daran teilnimmt, an einem wahrscheinlich dann weiteren Treffen.

    Und im Übrigen denke ich, ist es jetzt ein bisschen hoch gegriffen, wenn man von Bretton Woods als Vergleich spricht - einmal, weil da andere Assoziationen sind, das ist eine Währungsfrage gewesen. Gut: Man hat Weltwährungsfonds und Weltbank gegründet, aber jetzt stehen etwas andere Herausforderungen an. Und da wird man Zeit brauchen.

    Heinemann: In groben Zügen: Wohin sollte Ihrer Meinung nach die Reise gehen?

    Schwan: Ich glaube, die wesentlichen Orientierungen, Transparenz dessen, was da geschieht, sowohl auf den Finanzmärkten als auch sonst, wieder größere Nähe der Finanzmärkte und auch dienenden Funktionen der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft, dann diese einzelnen Regelungen, welche Kapitalsicherung bei den Banken sein muss, wie das mit den Rating-Agenturen ist und so weiter - das alles ist da.

    Aber wir brauchen ein international wirksames, koordiniertes System der Transparenz und auch der Regeln. Allerdings glaube ich nicht, dass ein zentralistisches System, zum Beispiel so, dass die gesamte Kontrolle sich konzentriert in einem umzuarbeitenden Weltwährungsfonds, wirklich schon die letzte Lösung sein kann. Das erinnert ja an die Diskussion zu dem, was wir Global Governance nennen, Good Global Governance auch, und wir haben die Erfahrung gemacht, dass vieles eher dezentral als zentralistisch geregelt werden muss - koordiniert, aber dezentral und auch mit anderen Akteuren noch.

    Heinemann: Ordoliberalismus, ist das Ihr Stichwort?

    Schwan: Der Ordoliberalismus, der der eigentliche Neoliberalismus in den 30-er bis 50-er, 60-er Jahren war, ging doch sehr stark vom Nationalstaat aus als demjenigen, der kontrolliert. Und das gemeinsame ist, dass erstens die Kontrolle, die politische Kontrolle der Regeln des Marktes gesichert werden muss, dass der Markt nicht ein Laissez-faire-Markt sein soll. Das war die Absetzung und das, was man dann heute oft als neue soziale Marktwirtschaft gefordert hat oder Deregulierung, war eigentlich ein Zurück zum Laissez-faire, nicht der wirkliche Neoliberalismus.

    Aber zweitens hat der Ordoliberalismus auch unterschiedliche Antworten gehabt in Bezug auf die politischen Akzente, die gesetzt werden müssen. Der Markt gibt für sich keine Akzente in Bezug auf die Umwelt, in Bezug auf Energiepolitik, in Bezug auf Wasser und so weiter, obwohl auch da der Gedanke war, die berühmten externen Effekte der Unternehmen schon in das Unternehmenskalkül hineinzunehmen, das heißt also, nicht zu sagen, ich mache hier Gewinn und was dabei so abfällt an sozialen Kosten, an Umweltschädigung und so weiter, das nimmt der Rest.

    Diese Punkte, diese letzten Punkte, dass Markt allein keine politischen Prioritäten setzt, dass die Weitsichtigkeit von uns Menschen und von der Politik kommen muss - und zwar einer koordinierten -, dieser Gedanke, der zum Teil im Ordoliberalismus da war, der müsste übersetzt werden. Aber das Ganze ist eben nur noch international zu denken, und wie man da Koordination und Zentralisation setzt, ist wichtig.

    Heinemann: Wenn man an das tägliche Gezänke in der Europäischen Union denkt, glauben Sie, dass man das global hinbekommt?

    Schwan: Es war doch interessant, dass für die Vorbereitung dieses amerikanischen Gipfels die Europäer sich doch ganz gut geeinigt haben und relativ schnell, wenn auch ausdrücklich nicht mit ausbuchstabierten Lösungen. Das haben sie vielleicht nicht gemacht, weil sie es nicht geschafft haben; das haben sie vielleicht auch wirklich deswegen nicht gemacht, weil sie, wie sie gesagt haben, Spielraum lassen wollten in dem Verhalten zu den Amerikanern.

    Aber Sie haben genau Recht. Die internationale Koordinierung von Regierungen ist etwas sehr Schweres. Das sehen wir ja auch in der Europäischen Union. Und deswegen brauchen wir, finde ich, das Zusammenspiel von traditioneller Politik in Form von Regierungen oder Regierungszusammenschlüssen oder internationalen Organisationen, dem Privatsektor und der organisierten Zivilgesellschaft, um zum Beispiel zu kontrollieren, ob denn wirklich das mit diesen Rating-Agenturen so gut läuft. Eine große Behörde ist nicht der Traum von allem.

    Heinemann: Frau Schwan, eine Politikerin, ein Politiker benötigt eine Botschaft, die mit der Lebenswirklichkeit der Menschen zu tun hat. Wie lautet Ihre Botschaft jetzt angesichts dieser Finanzkrise und ihrer Folgen für Konjunktur und für Arbeitsplätze, für die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land?

    Schwan: Die Bürgergesellschaft stärken, Sinn für Verantwortung wecken, denn wenn Sie zum Beispiel sehen, dass wir in unseren kleinen und größeren Bereichen oft verantwortungslos handeln, weil wir unter irgendeinem Konkurrenzdruck stehen, dann ist das einer der Irrwege, die wir gegangen sind. Stattdessen Verantwortung üben, Bürgergesellschaft stärken. In dem großen Misstrauen der Banken untereinander, wenn Sie das analysieren, sehen Sie, dass dort gewachsen war: eine Kultur der Verantwortungslosigkeit.

    Heinemann: Und wer seinen Job verliert, denkt nicht an die Bürgergesellschaft.

    Schwan: Genau, das ist das Problem, dass der Konkurrenzdruck so stark war, dass alle dachten, das müssen wir machen, und deswegen müssen wir sehen, dass das eine kulturelle Krise ist, die wir da haben, und dass wir diese Verabsolutierung des Konkurrenzdrucks nicht weiter machen müssen, wenn wir uns nicht selbst zerstören wollen - auch übrigens in ganz anderen Bereichen, Bildung und so weiter.

    Heinemann: Die Bundesregierung hat jetzt ganz konkret ein Konjunkturprogramm oder -paket beschlossen. Frage an die Bürgerin Gesine Schwan: Würden Sie sich ein neues Auto kaufen, nur weil Sie auf diese Weise ein Jahr lang die Kfz-Steuern sparen können?
    Schwan: Also diese ganze Psychologie ist ja immer ein bisschen eine Küchenpsychologie. Die Vermutung, dass das eher Mitnahmeeffekte auslöst, ist natürlich naheliegend. Ich habe den Eindruck, dass vor allen Dingen nicht genügend zukunftsweisende Akzente bisher gesetzt sind in Bezug auf Umwelt und so weiter, denn es geht jetzt nicht nur darum, akut bedrohte Industrien zu stützen, sondern eben da wiederum langfristige Akzente zu setzen.

    Heinemann: Also zu kurzfristig dieses Paket?

    Schwan: Ich habe das Gefühl: ja.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Professor Gesine Schwan, der Kandidatin der SPD für das Amt des Staatsoberhauptes. Frau Schwan, zählen Sie im Geiste täglich die rot-rot-grünen Stimmen der Bundesversammlung zusammen?

    Schwan: Überhaupt nicht! Ich zähle überhaupt keine Stimmen, weil man das erstens im Moment noch gar nicht rational machen kann. Die Basis für das Kalkül ist ja noch gar nicht da. Das wird frühestens im Januar, Februar so weit sein, nicht nur nach den Hessen-Wahlen - das ist sowieso auch eine Station -, sondern auch, weil dann die Volkszählung noch mal durchgegangen sein wird und man genau die Zuordnungen zu den verschiedenen Ländern weiß.

    Aber mein Punkt ist ein anderer. Ich möchte in diesen Monaten das präsentieren, was ich auch als Bundespräsidentin versuchen möchte anzuschieben, nämlich Vorträge, Vorschläge, Perspektiven, auch Einmischung in die Politik, aber nicht kurzfristig, nicht tagespolitisch, nicht so, dass ich Ressentiments gegen Politik schüre, sondern indem ich die langfristigen Perspektiven nenne und die Voraussetzungen unseres Zusammenlebens. Und ich möchte damit eine Graswurzel-Diskussion, wenn Sie so wollen, anstoßen, dass unsere Gesellschaft sich mehr über diese Dinge unterhält, mehr ihre Verantwortung erfährt und dadurch auch wieder mehr Gemeinsamkeit erfährt.

    Heinemann: Vorausgesetzt, Sie werden gewählt. Rechnen Sie damit, dass die Linkspartei aus Wut über die Entwicklung in Hessen der SPD-Kandidatin, also Ihnen in der Bundesversammlung die Gefolgschaft verweigern könnte?

    Schwan: Nein, zumal Oskar Lafontaine das gerade gestern oder vorgestern ausdrücklich gesagt hat.

    Heinemann: Er ist nicht die Partei. So weit sind wir noch nicht.

    Schwan: Nein, aber wenn man in der Linken Vorbehalte gegen die Person auch Gesine Schwan gesehen hat, dann war da ja durchaus auch immer mal der Name Oskar Lafontaine. Also ich habe Anlass anzunehmen, dass das Ganze eher eine politische Wahl ist und nicht eine aus Ressentiments. Das ist übrigens im Mai dann auch vorbei.

    Heinemann: Frau Schwan, wir wollen uns noch mal eben anhören, wie die hessische SPD-Landtagsabgeordnete Carmen Everts ihre Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei begründete.

    "Die Linke ist eine in Teilen linksextreme Partei. Sie hat ein gespaltenes bis ablehnendes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ein problematisches Gesellschafts- und Geschichtsverständnis. Und ihr Ziel ist es, der Sozialdemokratie zu schaden."

    Frau Everts kommt in einer Doktorarbeit, in einer wissenschaftlichen Arbeit, die man nicht mal eben so runter schreibt - Sie sind selbst Wissenschaftlerin -, zu dem Schluss, Die Linke sei eine in Teilen linksextreme Partei. Sie, Frau Schwan, werben gleichwohl um die Stimmen dieser Partei.

    Schwan: Also zunächst muss ich sagen, wenn man schon in einer Arbeit dazu gekommen ist, einer wissenschaftlichen, und dann die ganzen Monate mitverhandelt hat, dann wundert es mich, dass man die Position erst kurz vor zwölf ergreift. Das ist ja eine langfristige Diagnose, wenn sie so ist.

    Zweitens: Die Situation in Hessen ist eine ganz andere als die für mich, denn da sollte eine Regierungsbildung stattfinden, und da musste man in Zukunft gemeinsame Politik machen.

    Drittens: Wie immer Die Linke zusammengesetzt ist konkret, sie ist nicht total - das sagt nicht mal die Abgeordnete -, sie ist nicht total eine linksextreme Partei; da sind erhebliche Anknüpfungspunkte für die Demokratie. Und mein Ziel ist es, eine Partei, die neu, ganz klar und auch eher zunehmend an Gewicht auf dem politischen Parkett angetreten ist, für die Demokratie zu gewinnen. Ich werde nicht irgendwelchen Kotau machen; ich werde meine Vision anbieten und werde versuchen, auf diese Weise zu überzeugen, auch Die Linke davon, dass der Weg, den ich vorschlage, der zuzustimmende ist.

    Heinemann: Das heißt, Sie teilen diese Einschätzung von Frau Everts nicht?

    Schwan: Ich halte das jetzt für eine sehr, sehr pauschale Äußerung. Vielleicht hat sie im Einzelnen das auch differenzierter gemacht.

    Heinemann: In Hessen sind vier Politiker ihrem Gewissen gefolgt und nehmen dafür viele Nachteile, auch Schmähungen in Kauf. Verkörpern die vier nicht genau die Art Volksvertreter, die wir uns nur wünschen können, Leute mit Rückgrat, mit aufrechtem Gang, mit Überzeugung?

    Schwan: Wir brauchen Leute mit Rückgrat, mit aufrechtem Gang und mit Gewissenhaftigkeit, aber auch mit der Fähigkeit, das Prinzipielle vom Politischen zu unterscheiden. Und das heißt zu wissen, wie man verlässlich Politik betreibt - da muss man auch verlässlich sein - und wie früh man sagt, das ist für mich eine Gewissensfrage und das ist keine Gewissensfrage.

    Also, es ist auch ein Problem, wenn man Gewissensentscheidungen auf etwas anwendet, was eigentlich eine Frage der Politik ist. Und Politik ist eine Einschätzungsfrage. Da kann man sich irren oder auch nicht. Gewissen muss sein, aber man muss auch davor warnen, Gewissen für alles in Anspruch zu nehmen.

    Heinemann: Gleichwohl ist da die SPD, zumindest die in Hessen, doch schon eine merkwürdige Partei: Wortbruch hat keine Folgen, Gewissen wird bestraft. Ist das Ihre Vorstellung von Politik?

    Schwan: Als - das muss ich jetzt doch noch mal klar sagen - Kandidatin für das Bundespräsidentenamt muss ich und will ich mich nicht zu einzelnen Parteien und einzelnen Begebenheiten äußern. Ich will auch jetzt nicht im Detail empirisch die hessische SPD untersuchen, und da müsste man sehr viel mehr machen, als drei Sätze darüber zu sprechen. Es hat eine lange Tradition in Hessen, dass es durchaus große Unterschiede schon zwischen SPD und CDU gibt, weswegen die Koalition so schwierig war, und auch innerhalb der Partei, und es ist eben schwer, in einer Gesellschaft, die zerklüftet ist, Koalitionen hinterher zu bilden. Das muss man einfach sehen. Ich glaube, es verlangt das, was Max Weber auch Augenmaß genannt hat, um in einer so schwierigen Situation die Menschen zusammenzuführen zu politischem gemeinsamen Handeln.

    Heinemann: Frau Schwan, was werden Sie am 24. Mai tun?

    Schwan: Wahrscheinlich mich des Lebens freuen.

    Heinemann: So oder so?

    Schwan: Ganz egal.