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Die Sorgen der anderen

Nur Margaret Thatcher, die Premierministerin in London, sagte vor 20 Jahren offen, dass sie wenig von einer deutschen Wiedervereinigung hielt. Frankreichs Francois Mitterrand drückte die Bremse eher verdeckt. Doch in Europa knisterte es, als die Mauer fiel.

Von Ursula Welter | 09.11.2009
    Eurosklerose. Europa leidet an sich selbst, im Herbst 1989. Fischfangquoten und Binnenmarkt beschäftigen die zwölf Staaten, die Süderweiterung wird gerade verdaut, da gehen die Ostdeutschen auf die Straße. Frankreich hat den EG-Ratsvorsitz inne, im Élysée-Palast sitzt Francois Mitterrand: ein Freund Helmut Kohls. 1984 noch hatten beide den "Geist der Brüderlichkeit" beschworen, sich die Hand gereicht über den Gräbern von Verdun. Fünf Jahre später wird die Freundschaft auf die Probe gestellt.

    Mitterrand hält nicht viel von Wiedervereinigung und sagt das, wenn auch diplomatisch verpackt, am 3. November 1989 - die europäische Atmosphäre knistert da bereits:

    "Vor einer Wiedervereinigung habe ich keine Angst, der Wunsch der Deutschen ist legitim, und wenn sie es wollen und wenn sie es können, wird Frankreich seine Politik anpassen. Aber Frankreich wird auf die Wahrung seiner Interessen und der Interessen Europas achten."

    Mitterrand sieht Preußen und Sachsen auferstehen, sieht das große Deutschland auf der Landkarte, den einstigen "Erbfeind", und tritt auf die Bremse.

    "Unsere europäischen Nachbarn und Partner waren geschockt", sagt Helmut Kohl später, "der Mauerfall kam ihnen ungelegen." Die ehrlichste von allen sei noch Margaret Thatcher gewesen, die Premierministerin in London:

    Thatcher: "Im Falle der Wiedervereinigung würde die deutsche Bevölkerung auf 80 Millionen ansteigen. Sie hätte dann eine beherrschende Stellung, sowohl der Zahl nach ,als auch durch ihre wirtschaftliche und politische Macht. Und das beunruhigt mich."

    "Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen, jetzt sind sie wieder da!", fügt die Eiserne Lady wenig später hinzu.

    Nur Spaniens Ministerpräsident, Felipe Gonzalez, steht ohne Vorbehalte an der Seite Helmut Kohls, als dieser auf Wiedervereinigung setzt und nicht müde wird, Deutschlands Verankerung in Europa zu betonen:

    "Die deutsche Einheit und die europäische Einigung müssen zusammen erstrebt werden, Deutschland ist unser Vaterland, Europa unsere Zukunft."

    Das Recht der Deutschen auf Einheit hatte in vielen Papieren und europäischen Deklarationen gestanden. Jetzt wird die Sache konkret - und wirkt für Deutschlands Nachbarn bedrohlich, aus politischen aber auch aus handelspolitischen Gründen. Die Regeln eines europäischen Binnenmarktes, der für das Jahr 1993 angepeilt ist, sind auf offene Grenzen zwischen den deutschen Staaten nicht ausgerichtet. Wie stark wird Deutschland sein, wenn es sich auch ökonomisch gen Osten ausrichtet , wie zuverlässig?

    Die Zeitungen der Nachbarn reagieren entsprechend. Die Londoner "Times" zitiert Oskar Lafontaine, der im "Spiegel" vor "unbedachten Wiedervereinigungsparolen" gewarnt hat; "La Stampa" in Italien titelt: "Ein Gespenst geht um in Europa".

    Die alte Ordnung hat Risse. Mitterrand betont in Paris wieder und wieder, die Grenzen in Europa müssten Bestand haben, nicht zuletzt die Oder-Neiße-Linie.

    Mitte November ruft er die EG zu einem Sondergipfel nach Paris, Anfang Dezember zu einem ordentlichen Gipfel nach Straßburg. Die Gipfeldeklaration enthält einen kräftigen Anteil Argwohn:

    "Die Stärkung der Westeuropäischen Union ist die beste Garantie, um ein eventuelles nationalistisches Abgleiten Deutschlands zu verhindern, das sich voll Freude in einem Prozess der Wiedervereinigung befindet."

    Immerhin, Washington, das vorher und nachher wenig Interesse an europäischen Institutionen zeigt, bezieht die Europäer mit ein. George Bush hält Jacques Delors, den EG-Kommissionspräsidenten, persönlich über den Stand der Beratungen mit der Sowjetunion auf dem Laufenden.

    Der Zug rast, aber Francois Mitterrand steht weiter auf der Bremse. Auf Kohls Zehnpunkteplan zur Deutschen Einheit reagiert er mit einer symbolträchtigen Reise. Ein Jahr, bevor die Mauer fiel, war für Erich Honecker in Paris der rote Teppich ausgerollt worden. Und jetzt, ausgerechnet im Dezember 89 nimmt Mitterrand die Gegeneinladung an:

    "Zunächst erwarte ich von diesem Besuch, dass ich mit den führenden Persönlichkeiten über eine Situation, die wirklich außerordentlich und in vollem Wandel begriffen ist, sprechen kann, und für mich wird es sehr bereichernd sein zu erfahren, was diejenigen sagen, die heutzutage die führende Position innehaben."

    Die führende Position - in der DDR. Mitterrand setzt auf zwei Staaten, das Resultat seiner Reise im Dezember 89 ist ein Wirtschaftsabkommen mit der DDR - Planungszeitraum fünf Jahre!

    Helmut Kohl schreibt, von Francois Mitterrand sei in jener Zeit manch unfreundliches Wort gekommen. Es wird einige Wochen dauern, bis im März 1990 der französische Außenminister, Roland Dumas, nach West-Berlin geschickt wird, um dort zu sagen: Frankreich unterstützt die Wiedervereinigung. Die Europatreue Deutschlands wird da von den Nachbarn bereits auf einem Spezialfeld getestet: Zu diesem Zeitpunkt laufen die Arbeiten an der Europäischen Währungsunion in Paris und Bonn bereits auf Hochtouren.