Müller: Darf die SPD tatsächlich schon wieder Mut schöpfen aus den Ergebnissen von gestern?
Müntefering: Mut schöpfen ja, zu Siegesfeier kein Anlass. Ich sage aus Nordrhein-Westfalen natürlich auch Glückwunsch in Richtung Bremerhaven. Das ist ein gutes Ergebnis. In Nordrhein-Westfalen hatten wir aufzubauen auf den Schock vom 12. September, und das ist uns Gott sei Dank in den 14 Tagen doch gelungen. Die Partei war mutig. In einigen Städten haben wir es drehen können, nicht überall.
Müller: Bleibt der Denkzettel von vor zwei Wochen noch eine Lehre für die SPD an Rhein und Ruhr?
Müntefering: Ja, natürlich. Es gibt auch eine ganze Menge aufzuarbeiten, sowohl was die Fehler vor Ort und die Situation der Partei vor Ort angeht. Nicht alles was wir jetzt auszuhalten haben ist von anderswo über uns gekommen, sondern wir haben auch selbst Fehler gemacht. Zum zweiten geht es natürlich auch um den großen Einfluss der Bundespolitik auf diese Kommunalwahl, und die Botschaften, die wir dort haben, müssen wir natürlich auch von Nordrhein-Westfalen in die Bundespolitik transportieren. Diese beiden Aufgaben werden vor uns sein, wobei wir uns nicht ganz lange damit aufhalten können, denn die Landtagswahl für nächstes Jahr Mai kommt ja näher.
Müller: Herr Müntefering, welche Botschaften wollen Sie denn von Düsseldorf oder von Nordrhein-Westfalen in die Bundesrepublik und zur Bundesregierung transportieren?
Müntefering: Nun, wir sind ja in den verschiedenen Gremien dabei. Es kommt darauf an - und das war ja das Manko, was wir so drastisch erfahren haben -, das was wir bundespolitisch tun auch als Gesamtkonzept erkennbar zu machen. Die Menschen wollen besser erkennen können, wie denn das mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und mit der sozialen Gerechtigkeit gemeint ist. Da hat es schon Schwächen gegeben in unserer Politik.
Müller: Ist das Ergebnis von gestern, dass es nicht noch einmal zu einem großen Desaster für die SPD kam, darauf zurückzuführen, dass die Bundespolitik wohl bei den Stichwahlen eine kleinere, geringere Rolle gespielt hat, denn hier standen ja Personen, die man vor Ort kennt, im Mittelpunkt?
Müntefering: Ja, klar, und darauf haben wir auch großen Wer gelegt. Wir haben das sehr personalisiert. Wir haben se sehr auf die Situation vor Ort geholt. Wir haben auch als Landespartei keine großen Kundgebungen mehr gemacht, sondern sind auf den Straßenwahlkampf und auf den Wahlkampf von Tür zu Tür gegangen und haben darauf hingewiesen, es geht um eine kommunalpolitische, personalpolitische Entscheidung. Das war sehr hilfreich, denn die Enttäuschung über manche bundespolitischen Entwicklungen sind noch nicht weg.
Müller: Der Wähler hat vor zwei Wochen zu einem Gutteil entschieden über die Lage der SPD an Rhein und Ruhr. Vieles wurde als verknöchert, verfilzt angesehen. Was tun Sie denn als Landeschef in den kommenden Monaten, um die SPD in Nordrhein-Westfalen von dem Ruf des Filzes, der Selbstzufriedenheit zu befreien?
Müntefering: Ja, da hat es Fehler gegeben. Da hat es auch Gründe gegeben für das, was die Menschen dort empfunden haben. Ungerecht ist natürlich, die Partei gewissermaßen in Sippenhaft zu nehmen, denn insgesamt haben die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen auch in den vergangenen Jahrzehnten für ihre Städte gute Arbeit geleistet. Wir haben uns vorgenommen, so etwas wie Verhaltensregeln, einen Ehrencodex auszuarbeiten, und darüber wird in den nächsten Wochen konkretisierend zu sprechen sein. Dafür gibt es aber im Wahlkampf keine große Zeit. Wir müssen hier ganz deutlich machen, ohne jedes Missverständnis: Wir sind für die Städte da und für die Menschen, für eine gute Politik und nicht umgekehrt, das Land und die Städte gehören nicht uns, sie gehören auch keiner anderen politischen Partei, sondern wir haben als Politiker zu dienen. Das muss wieder erkennbar sein in jedweder Situation.
Müller: Also das waren mehr als Einzelfälle, die Affären und Skandale, Ergebnis: das alles, wenn man jahrzehntelang alleine an der Macht ist, alleine dann über Pfründe entscheiden kann?
Müntefering: Es gab zwei große Ereignisse in Köln und in Dortmund. Da weiß ich nicht, wie man die als Partei aufhalten und verhindern kann. Da ist schon ganz andere Energie dahinter gewesen. Insgesamt aber noch einmal: Das Bild, was manche jetzt wegen solcher Sachen malen können und ungerechtfertigterweise die Partei dafür insgesamt in Haft nehmen können, das muss korrigiert werden. Da muss klar sein: so sind Sozialdemokraten nicht. Wir wollen gute Politik für unsere Städte und fürs Land machen und sind kein Selbstbedienungsladen.
Müller: Die SPD bemüht sich nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern natürlich im Bund, sich wieder aufzurappeln. Da meldet sich jetzt ausgerechnet in dieser Situation der frühere Parteivorsitzende, Finanzminister Oskar Lafontaine über ein Interview in der "Welt am Sonntag" zurück. Das geht jetzt die nächsten Tage und Wochen weiter, mit weiteren Interview-Auftritten und vor allen Dingen der Buchpräsentation von Lafontaines "das Herz schlägt links" am 13. Oktober. Geht jetzt die Abrechnung Oskar Lafontaines mit Gerhard Schröder los?
Müntefering: Weiß ich nicht. Das ganze ist so angelegt, aber jede Sache hat ihr Schlusskapitel, und das hat er nun mit diesem Buch selbst geschrieben.
Müller: Ist das das Schlusskapitel? Wir werden jetzt in den nächsten Wochen - und Sie auch -, die SPD und Sie, im Willy-Brandt-Haus in Berlin intensiv mit Lafontaine auseinandersetzen müssen.
Müntefering: Da irrt er sich sehr. Man kann sich auseinandersetzen mit seinem Verhalten, und das ist nicht von der besten Art. Ein Parteivorsitzender, zumal der SPD, geht nicht auf solche Art und Weise. Man schreibt seinen 800.000 Mitgliedern nicht "ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit, mit freundlichem Gruß", und schon gar nicht schickt man ihnen die Begründung für sein Verhalten dann nachher in einem Buch, das die Mitglieder dann für teueres Geld kaufen sollten. Das ist nicht in Ordnung, und Oskar Lafontaine ist sich sicher bewusst, dass er mit seinem Verhalten uns, der Partei, schwer geschadet hat in diesem Sommer. Er hat die Statik ziemlich durcheinander gewirbelt, und ein Teil der Probleme, mit denen wir fertig zu werden haben, hängen mit seinem Verhalten zusammen.
Müller: Wäre die Serie von Wahlniederlagen nicht so drastisch ausgefallen, wenn Lafontaine nicht den Kram hingeworfen hätte?
Müntefering: So ist das, ja.
Müller: Was wäre dann anders gewesen, anders gekommen: andere Politik?
Müntefering: Man muss sehen: Wenn ein Parteivorsitzender geht, einer wie Oskar Lafontaine, der für die Partei und in der Partei ganz wichtig ist, dann verändert das das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit der Partei zu kämpfen. Die Menschen überall im Land haben, wenn so etwas passiert, den Eindruck, dass die Politiker nun mal so sind. Diese Art von Beliebigkeit und von beleidigter Leberwurst sein und weggehen das ist etwas, was uns allen dann zugerechnet wird. Das ist für das Ansehen einer Partei nicht gut. Ich glaube - und das ist eine der wichtigen Erfahrungen, die wir auch in diesem Wahlkampf gemacht haben -, dass es eigentlich weniger die Einzelheiten unserer Bonner und jetzt Berliner Politik sind, die die Menschen aufregen, sondern eher der Stil, mit dem wir uns bewegen, und da hat Oskar Lafontaine kein gutes Beispiel gegeben.
Müller: Da sagt Lafontaine, Beliebigkeit gibt es bei Gerhard Schröder. Er kritisiert vehement den Kurswechsel, der unter Schröder vorgenommen worden sei. Wenn man seine Politik fortgesetzt hätte, so er gestern im Interview, dann hätten die Wahlniederlagen vermieden werden können. Ist der Kurswechsel zu abrupt erfolgt?
Müntefering: Da bitte ich um Verständnis. Ich lasse mich auf die inhaltliche Diskussion Lafontaines nicht ein, sondern ich bleibe bei seiner Verhaltensweise. Er ist nun weggegangen. Nun werden wir das ganze ohne ihn zu verantworten haben und zu bestehen haben. Ich habe keine Absicht, mit ihm eine Debatte zu führen über die Inhalte von Politik. Wenn er das wollte, dann hätte er dabei bleiben können. Dann hätten wir viel diskutieren können.
Müller: Ist das der Grund, warum Sie beispielsweise in 14 Tagen, wenn Lafontaine in der ARD auftritt, keinen aktiven SPD-Politiker in den Ring schicken?
Müntefering: Was heißt in den Ring schicken. Ich begrüße sehr, dass keiner bereit ist, sich dort hinzusetzen und eine inhaltliche Debatte mit ihm zu führen. Das wäre auch nicht angemessen, denn noch einmal: Es ist schlecht, dass er weggegangen ist, und wir müssen nun gucken, wie wir klar kommen.
Müller: Lafontaine rückt ja, so scheint es, nur scheibchenweise mit seiner Kritik heraus. Gestern ist er im allgemeinen geblieben. Befürchten Sie einige pikante Details in 14 Tagen, die Schröder schaden könnten?
Müntefering: Nein, aber ich verstehe ein bisschen was von PR. Das ist nicht scheibchenweise, was dort gemacht wird, sondern das ist der Versuch, ein Buch besonders interessant zu machen und es möglichst oft zu verkaufen. So simpel ist das.
Müller: Bleibt Lafontaine ein ständiger Unruheherd? Er will sich ja künftig mit Statements in die Politik einmischen.
Müntefering: Ja, das kann er ja. Ich kümmere mich lieber um die Ortsvereine und die Unterbezirke. Wir müssen die Partei aufbauen und sie wieder handlungsfähiger machen, als sie in den letzten Monaten gewesen ist. Ich habe etwas anderes zu tun als das Buch zu lesen.
Müller: Sie werden es nicht lesen?
Müntefering: Nein!
Müller: Wirklich nicht?
Müntefering: Nein.
Müller: Sie hatten ja mal einen guten Draht zu Oskar Lafontaine, mit ihm eng zusammengearbeitet. Ist das völlig abgebrochen?
Müntefering: Ja, klar. Das ist auch nicht vergessen. Seine ganzen Verdienste um die Partei gelten. Da trete ich nicht nach. Aber seit dem 11. 3. haben wir uns nicht mehr gesprochen.
Müller: Sehen Sie die Gefahr, dass ein bisschen was von Oskar-Nostalgie an der Basis übrig bleibt, dass dort doch viele sagen, na ja, unter Lafontaine hat doch alles wunderbar funktioniert?
Müntefering: Kann ich nicht erkennen, nein. Die meisten begreifen sehr wohl, was dort passiert ist. Das war ein schlimmer Einbruch für die SPD. Dass wir anderen auch unsere eigenen Fehler haben und auch Fehler machen, das ist unbestritten. Ich will uns damit jetzt nicht sauberwaschen. Er hatte aber die Chance, an verantwortlicher Stelle mitzuhelfen in einer außerordentlich schwierigen Phase. Dass nach dem 27. 9. letzten Jahres das ganz schwierig werden würde, in Bonn und Berlin zu regieren, das wussten wir alle, und da läuft man nicht weg.
Müller: Herr Müntefering, was soll eigentlich der Wähler davon halten: Vor der Wahl ist immer die Gemeinsamkeit von Lafontaine und Schröder beschworen worden. Jetzt sagt Lafontaine, er konnte nicht mit Stil und Inhalt der Politik Schröders leben. Das hat er ja nun auch schon vor der Wahl gekannt. Ist der Wähler getäuscht worden?
Müntefering: Das ist ja genau das Problem. Das muss man jetzt aber Lafontaine fragen. Dass wir unterschiedliche Menschen sind, dass jetzt Schröder und Oskar Lafontaine sich unterscheiden, weniger eigentlich in der großen politischen Linie, denn dort hat es Zuordnungen gegeben, die so gar nicht gerechtfertigt sind, das ist klar, dass wir unterschiedlich sind. Dass aber nun in solcher Weise eine Distanzierung stattfindet, die es ja faktisch nicht gegeben hat - -Ich bin ja viele Male dabei gewesen und habe erlebt, wie man miteinander agiert und spricht. Deshalb ist das so unverständlich, sich im Nachhinein sauberwaschen zu wollen. - Nein, nein, das war nicht nur der Eindruck, den er draußen vermittelt. Es war ganz praktisches Handeln der beiden. Sonst wäre das auch gar nicht so erfolgreich gewesen im Wahlkampf. Das ist auch Lafontaines Verdienst, dass wir gewonnen haben, überhaupt keine Frage. Deshalb ist es für mich um so unverständlicher, wie der Abgang ist. Offensichtlich ist dort nicht verarbeitet worden, dass wenn man regiert der Kanzler der wichtigste Mann in der Partei ist, unabhängig davon, wer welche Funktion hat. Nun ja, das ist dann seine Reaktion darauf gewesen.
Müller: Franz Müntefering, Landesvorsitzender der SPD von Nordrhein-Westfalen und designierter SPD-Generalsekretär. - Danke Herr Müntefering und auf Wiederhören!