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Die SPIEGEL-Bestsellerliste Belletristik

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk. Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 26.10.2012
    Dieses Gehirn denkt immer mehr über Peinlichkeit als zentrale Kategorie der literarischen Erfahrung nach. Wie peinlich darf, muss, kann oder soll ein Roman sein? Und wie wehrt man sich, ohne peinlich zu werden, gegen ein Übermaß an Peinlichkeit?

    Wieso hat mich heute eigentlich noch keiner der großen Pressesprecher angerufen? Warum versucht denn niemand, auf die literaturkritische Berichterstattung Einfluß zu nehmen? Ist mein Handy kaputt?

    Die aktuelle SPIEGEL-Bestseller-Liste Belletristik:


    Diesmal unter anderem mit Büchern über wiedererwachte Parteiführer mit Imageproblemen, einem britischen Romanen über einen plötzlich freigewordenen Gemeinderatssitz und einem deutschen Roman, der aus der Affenliebe zur britischen Lebensart enstanden ist, sowie einigen lustlosen Serienkrimis aus Dänemark, dem Taunus und Miami.

    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen kapitale 5387 Gramm auf die Waage: zusammen 5271 Seiten.


    Platz 10: Timur Vermes: "Er ist wieder da"(Eichborn, 396 S., 19,33 Euro)

    Am 30. August 2011 erwacht Adolf Hitler auf einem Grundstück in Berlin Mitte, klopft sich den Schmutz von der nach Benzin stinkenden Uniform und macht sich auf, die Massenmedien zu erobern und eine neue Bewegung zu gründen. Ein auf Buchlänge aufgeblähtes Gedanken¬spiel: literarisch dünn, politisch naiv und vor allem von einer grausamen Holzhammerdidaktik durchdrungen. Dieser Roman hört genau da auf, wo Literatur anfangen müsste.


    Platz 9: Ursula Krechel: "Landgericht" (Jung und Jung, 492 S., 29,90 Euro)

    In ihrem sehr zu Recht mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman
    erzählt Ursula Krechel von dem während der Nazizeit nach Kuba geflüchteten jüdischen Deutschen Dr. Richard Kornitzer, einem jener nur fünf Prozent Emigranten, die nach ´45 nach Deutschland zurückkamen. Alles andere als eine dröge Nachhilfestunde in Zeitgeschichte, ist Krechels sublimer Roman die Geschichte einer Rückkehr in eine kalte Heimat und einer berechtigten Erbitterung.


    Platz 8: Jilliane Hoffman: "Argus" (Deutsch von Sophie Zeitz und Tanja Handels, Wunderlich, 496 S. , 19,95 Euro)

    Das Spannendste an diesem gewaltpornographischen Unsinn über einen Club von Frauenmördern in Miami sind die juristischen Spitzfindigkeiten der Autorin, die früher selbst als Staatsanwältin gearbeitet hat. Ansonsten stellt in diesem Buch der Fortsetzungs-Kapitalismus der Autorin ein Bein: Jilliane Hoffmans Bestreben, neben ihren Ermittlern nun auch den aus einem früheren Roman bekannten Mörder Cupido zur fortsetzungsfähigen Marke zu machen, hemmt die Entwicklung der Handlung gewaltig.


    Paltz 7: John Green: "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" (Deutsch von Sophie Zeitz, Hanser Verlag, 287 S. , 16.90 Euro)

    Die ganze Welt sieht in John Green den Messias des Jugendbuchs. Die ganze Welt irrt. Diese Geschichte über zwei krebskranke Jugendliche ist ein unter einer dünnen Literaturtunke getarnter Mitleidsschmarren. Ein typisches Jugendbuch, wie es Eltern, Lehrer und Kritiker lieben. Ich aber liebe es nicht.


    Platz 6: Sebastian Fitzek, Michael Tsokos: "Abgeschnitten" (Droemer, 400 S, 19,99 Euro)

    Dieser Roman liest sich, als hätten die Autoren, ein Rechtsmediziner und ein Thrillerautor, sich das Manuskript per SMS hin und her geschickt:

    "Er hatte sich an die Spielregeln gehalten und auf das System vertraut. Hatte darauf gebaut, dass es einen Schiedsrichter gab, der die Fakten schon richtig bewerten würde. Und wozu hatte es geführt?"

    Leider zu dieser Kümmerprosa und diesem Roman. Hat denn niemand irgendwann diese Leichenschneider-Bücher satt?


    Platz 5: Charlotte Link: "Im Tal des Fuchses" (Blanvalet, 576 S., 22.99 Euro)

    Die Deutschen lieben das Fremde – vorausgesetzt, es kommt in vertrauter, also deutscher Gestalt daher. Diesem Umstand haben etwa Roberto Blanco, Vico Torriani und Wenke Myhrre ihre Karrieren zu verdanken – und auch Charlotte Link, die sich auf pseudo-britische Thriller spezialisiert hat. Links Stil lässt sich als psychologischer Redundanzrealismus beschreiben: wenn etwa einem Entführer klar wird, dass sich sein Opfer befreit hat, dauert dies geschlagene zwei Seiten, angefangen bei

    "Wie war die verdammte Schlampe ihren Knebel losgeworden?"
    Über
    "Er war ein solcher Schwachkopf."
    Bis zu der nach sage und schreibe 65 vorangegangenen Zeilen unfreiwilligen Pointe:
    "All diese Gedanken waren in Bruchteilen von Sekunden durch seinen Kopf gerast, denn für eine langwierige Analyse der Lage blieb keine Zeit."

    Damit ist Charlotte Link, wie der Klappentext verrät, "die erfolgreichste deutsche Autorin der Gegenwart" geworden. Wenn das stimmt, ist es höchste Zeit, dieses belastete Land durch eine literaturkritische Geste im Geiste Willy Brandts Kniefall zu erlösen: Ich schäme mich.


    Platz 4: Jussi Adler-Olson: "Verachtung" (Deutsch von Hannes Thiess, dtv, 544 S., 19,99 Euro)

    Zwangssterilisation an Frauen ist oberflächlich das Thema dieses dänischen Gutmenschenkrimis. Weitere Spannungselemente sind eine Magen-Darm-Grippe im Polizeidezernat sowie das Auftauchen eines dämlichen Cousins von Kommissar Mørck. Ich kann mich an "Hanni-und-Nanni"-Bände mit höherem Nervenkitzelfaktor erinnern. Darf ich dem Autor vielleicht weitere Fortsetzung vorschlagen? Wie wäre es mit "Kommissar Mørks tolle Tante"? Oder mit "Ein Pferd im Sonderdezernat"? "Kommissar Mørks grosser Tag"? Oder "Kommissar Mørk kommt auf den Hund"?


    Platz 3: Ken Follett: "Winter der Welt" (Deutsch von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher, Lübbe, 1024 S. 29,99 Euro)

    Mit seinem Versuch, das ganze blutige 20. Jahrhundert mitsamt seinen mörderischen Ideologien und politischen Phantasmen in die Form eines Romans über drei Familien zu quetschen, scheitert Ken Follett wie schon im ersten Band seiner Saga auf ganzer Linie. Dieser Roman erstickt buchstäblich unter historischem Ballast, seine Figuren werden unter den Geröllhalden des Dekors verschüttet.


    Platz 2: J.K. Rowling: "Ein plötzlicher Todesfall" (Deutsch von Susanne Aeckerle und Monika Balkenhol, Carlsen, 576 S., 24,90 €)

    Weltweit fielen die Literaturkritiken zu Rowlings erstem Erwachsenen¬buch sehr negativ aus. Das hat mich insofern verblüfft, als wer "Harry Potter" tatsächlich gelesen hat, von dieser Autorin kein "Finnegans Wake" erwarten durfte. Tatsächlich ist dieser Roman über den Kampf um einen Gemeinderatssitz in einer englischen Kleinstadt trotz einiger Längen eine zwar nicht umwerfende, immerhin aber unterhaltsame Satire. In seinen besten Passagen erinnert diese Röntgen¬aufnahme der englischen Gesellschaft von der drogen¬süchtigen Prostituierten über den Feinkosthändler und Rechtsanwalt bis hin zum Herrenhausbesitzer an die hochkomischen Schilderungen von Klassendistinktionsmerkmalen eines Tom Wolfe.


    Platz 1: Nele Neuhaus: "Böser Wolf" (Ullstein, 480 S., 19,99 Euro)

    Nele Neuhaus hat sich mit der neuesten Fortsetzung ihrer im Taunus spielenden Regional¬krimis an die Spitze der deutschen Bestsellerliste geschrieben. Als Genreprodukt betrachtet, lässt sich gegen diesen Krimi wenig einwenden: er ist – mässig - spannend, sauber konstruiert und ordentlich geschrieben. Aber: "Böser Wolf" ist dennoch das Gegenteil von Literatur, zu der eben immer auch ein Quentchen Mut gehört: diesem Thriller über Kindesmissbrauch durch vermeintliche Spitzen der Gesellschaft, die sich in einem Päderastenclub organisiert haben, bevölkert von karrieregeilen Staatsanwälten und Talkshowmoderatorinnen, die sich privat als Rabenmutter erweisen, fehlt jeder Funken literarischer Mut. Statt dessen werden unentwegt sperrangelweit offenstehende Scheunentore eingerannt und Stammtischwahrheiten nachgebetet. Manche Menschen, sagt Lichtenberg, lesen bloss, um nicht zu denken. Für solche Menschen ist "Böser Wolf" genau das richtige.