Freitag, 19. April 2024

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Die Spur des Virus Teil 2
Die Laborhypothese

Das Jahr 2020 hat gerade begonnen. Von China aus wandert das neuartige Coronavirus in Windeseile um den ganzen Globus. Doch ähnlich schnell verbreiten sich Gerüchte um seinen Ursprung in einem Hochsicherheitslabor. Seit damals hat die Laborhypothese an Brisanz gewonnen. Welche Beweise gibt es?

Von Arndt Reuning | 27.06.2021
Das P4 Labor für Epidemiologie in Wuhan, China, Feb. 2017
Das P4 Labor für Epidemiologie in Wuhan, China, Feb. 2017 (AFP / Johannes Eisele )
In der Nähe eines Industriegebiets im Süden von Wuhan liegt ein Komplex aus roten Backsteingebäuden, bis zu sieben, acht Stockwerke hoch. Unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen werden hier Viren erforscht.
"Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Coronavirus eine pandemiefãhige Mutation zufällig genau an dem Ort entwickelt, an welchem an pandemiefähigen Coronaviren geforscht wird?!"
"Koinzidenz ist keine Korrelation – schon mal gehört?"
Das Institut für Virologie Wuhan ist der Ausgangspunkt der Theorie, dass Sars-CoV-2 keine Naturkatastrophe, sondern ein Unfall war. - Mal angenommen, das Virus kam tatsächlich aus dem Labor. Wie soll man es beweisen?
"Die Chinesen haben die WHO eh in der Tasche. Die haben die gekauft. Wir werden die Wahrheit nie erfahren."
"Have you seen anything at this point that gives you a high degree of confidence that the Wuhan Institute of Virology was the origin of this virus?"
WHO: Ursprung im Labor extrem unwahrscheinlich
Die Laborhypothese hat eine steile Karriere hingelegt. Aus den Untiefen der Sozialen Netzwerke bis ins Pressebriefing im Weißen Haus:
"… Yes, I have. Yes, I have."
Im Amt ist damals Donald Trump. Er sagt, er habe Beweise, dass Sars-Coronavirus-2 von den Chinesen im Labor hergestellt wurde. Nur offenlegen will er sie nicht.
"I can’t tell you that. I’m not allowed to tell you that."
Anders als Trump hält die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler nicht viel von der Laborhypothese. Für die Experten der Weltgesundheitsorganisation bleibt sie nach einer ersten Erkundungsmission nach Wuhan extrem unwahrscheinlich.
"The findings suggest that the laboratory incident hypothesis is extremely unlikely."
Doch dann, im Frühjahr 2021, ist der Verdacht plötzlich wieder in den Schlagzelen und beschäftigt Geheimdienste, Forschung und Politik.
US-Präsident Biden: "We don’t know, we haven‘t had access to the laboratories."
US-Präsident Joe Biden vor einer amerikanischen Flagge 
US-Präsident Joe Biden hat eine geheimdienstliche Untersuchung der Laborhypothese angeordnet (picture alliance / AP/ Toby Melville)
Ein Physiker aus Hamburg trägt Indizien zusammen
In Deutschland meldet sich ein Wissenschaftler zu Wort, der keinen Hintergrund hat in Virologie, Molekularbiologie oder Medizin. Ein Physiker:
"Ja, hier ist Wiesendanger von der Universität Hamburg. Ich leite einen Arbeitsbereich im Bereich der Nanowissenschaften im Fachbereich Physik und habe mich gerade im letzten Jahr aber auch speziell um die wichtigste Frage eigentlich der Menschheit derzeit gekümmert, nämlich den Ursprung der Coronavirus-Pandemie."
Wiesendanger hat ein Dokument online gestellt, das von der Pressestelle der Universität Hamburg als "Studie" beworben wird. Das zuständige Dekanat distanziert sich deutlich: Es sei ein nichtwissenschaftlicher Aufsatz, eine Art Meinungsäußerung.
Die Spur des Virus Teil 1 - Aus der Wildnis nach Wuhan
Wie aus dem Nichts war es Ende 2019 auf einem Tiermarkt in Wuhan aufgetaucht, das neuartige Coronavirus. Doch mehr als anderthalb Jahre später liegt seine Herkunft noch immer im Dunkeln. Vieles deutet daraufhin, dass es aus der Wildnis stammt, aber ein Laborunfall ist auch nicht komplett auszuschließen.
Und tatsächlich findet sich darin eine Anhäufung von Indizien, gesammelt sowohl in der wissenschaftlichen Fachliteratur als auch auf Twitter, YouTube oder Medienportalen, die teilweise der Alt-Right-Bewegung zugerechnet werden.
"Ja, es ist ganz wichtig zu sagen, dass es bis jetzt keine harten Fakten, keine harten Beweise gibt, will ich sagen, weder für die Zoonose, also die Übertragung von Corona über Zwischenwirte auf den Menschen, noch für die Laborhypothese. Das heißt, wir müssen uns ganz auf Indizien nun fokussieren. Und da ist es eben so, dass die überwältigende Zahl der Indizien für einen Laborursprung sprechen."
So das Fazit, das Roland Wiesendanger zieht. Welche Indizien existieren denn, die auf einen Laborausbruch hindeuten?
Hochsicherheitslabore für gefährliche Viren
Da ist zum einen die räumliche Nähe des Labors in Wuhan zum Ort des Ausbruchs. Ein anderes Argument lautet: Es ist bereits vorgekommen, dass Viren einem Labor entkommen sind.
"Das Virus kam aus China, da gibt’s keinen Zweifel dran. Mehr werden wir nicht erfahren, die kehren das alles unter den Deckel."
"Ist nicht zum ersten Mal passiert."
"Die #lableak Hypothese haben die Massenmedien von Anfang an ignoriert. Dann muss da ja was dran sein."
Biolabor ist nicht gleich Biolabor. Insgesamt existieren vier verschiedene biologische Schutzstufen. BSL-1 ist die niedrigste, BSL-4 die höchste. Nur vier gibt es in Deutschland. Das älteste, eröffnet Ende 2007, steht ausgerechnet in dem Provinzstädtchen Marburg.
"In Marburg steht es deswegen, weil wir 1967 eben genau das hier in Marburg erlebt haben, dass nämlich es zum Ausbruch kam mit einem Virus, was von Affen damals dann auf Menschen übertragen worden ist. Das war dann das, was man schließlich dann als Marburg-Virus bezeichnet hat und von diesem Zeitpunkt an ist so einer der Schwerpunkte der Marburger Virologie immer gewesen die Untersuchung von hochpathogenen Viren. Und das ist es bis heute."
Stephan Becker, Professor an der Philipps-Universität und Leiter des dortigen Instituts für Virologie. In dem BSL-4-Labor auf den Lahnbergen können selbst solche Erreger erforscht werden, die bei Menschen schwere Krankheiten auslösen, zum Beispiel das Ebola-, das Lassa- und eben auch das Marburg-Virus.
Südliche Grünmeerkatze (Chlorocebus pygerythrus) in Namibia
Südliche Grünmeerkatze (Chlorocebus pygerythrus) in Namibia (dpa/ zb/ Matthias Tödt)

Vollschutzanzug und Unterdruck

"Erreger, gegen die man keine Behandlung hat, gegen die man keinen Impfstoff hat, und die man trotzdem erforschen möchte, weil man eben zum Beispiel Behandlungsmethoden erproben möchte oder Impfstoffe erforschen möchte."
Entsprechend scharf müssen auch die Sicherheitsvorkehrungen sein.
"Und dann hat man einmal die Sicherheit der Personen, die da arbeiten. Das wird gewährleistet dadurch, dass man die in einen Vollschutzanzug steckt, also keinen Kontakt hat zur eigentlichen Laborluft, weil der Vollschutzanzug von außen quasi mit Luft versorgt wird. Und dazu kommt dann natürlich, dass man mit diesen Erregern, mit denen man arbeitet, nur unter ganz speziellen Sicherheitswerkbänken arbeitet."
Auch die Laboreinheiten, in denen mit den Erregern gearbeitet wird, sind nach außen nahezu hermetisch abgeschlossen.
"Und das gewährleistet man zum einen mal durch einen sehr dichten Bau, dass der also fast luftdicht oder gasdicht ist. Aber dann, was noch wichtiger ist: Diese Labore stehen alle unter einem Unterdruck. Das heißt also, die Luft, die da raus geht, die geht nur raus durch ein ausgeklügeltes Filtersystem, das für Viren undurchlässig ist."
Biodiversitätsexperte: Zoonosen entstehen nicht nur auf Wildtier-Märkten
Das Verbot von Wildtiermärkten allein könne nur bedingt vor weiteren Pandemien schützen, sagte der Biodiversitätsexperte Florian Schneider im Dlf. Wenn man Zoonosen verhindern wolle, müsse man die Art und Weise ändern, wie Mensch und Natur zusammenlebten.
Das Marburger BSL-4-Labor besitzt keine Wasserversorgung von draußen. Flüssigkeiten, die hereingebracht werden, müssen in einem Autoklav unter hohem Druck und Hitze behandelt werden, bevor sie das Labor wieder verlassen. Viren werden so inaktiviert.

Die Entwicklung der Pandemie weltweit

"Und das Gleiche gilt dann auch für die Festabfälle, die anfallen, also Sie haben zum Beispiel Zellkulturflaschen oder die Streu von Tieren. Die werden ebenfalls autoklaviert. Und gehen dann durch einen sogenannten Durchreiche-Autoklaven aus dem Inneren des Labors nach außen."
SARS-CoV-1 ist mehrfach aus einem Labor entkommen
Im Marburger Hochsicherheitslabor ist es noch nie zu einem kritischen Vorfall gekommen. Und auch in anderen BSL-4-Laboren passiert so etwas ausgesprochen selten. Dass in der Vergangenheit Pathogene aus Laboren entkommen sind, lässt sich allerdings nicht bestreiten, meist jedoch aus Einrichtungen mit niedrigerer Schutzstufe. Im Jahr 2007 zum Beispiel war an einem britischen Institut in der Grafschaft Surrey der Erreger der Maul-und-Klauenseuche entwischt. Über defekte Rohrleitungen war infiziertes Material nach außen gedrungen und hatte für Ansteckungen unter den Rindern der umliegenden Bauernhöfe gesorgt.
"Es gibt Hinweise darauf, dass eine der Influenza-Pandemien, die von 1977/78, eben durch einen Laborunfall zustande gekommen ist. Dass dieses Virus dann quasi aus einem Labor in Russland entfleucht ist und quasi dann Infektionsketten angestoßen hat, ausgelöst hat."
Das ursprüngliche SARS-Coronavirus aus den Jahren 2002/2003 hat bereits mehrfach ein Labor verlassen. Unter anderem in Peking im Jahr 2004. Zwei Personen am Nationalen Institut für Virologie haben sich damals unabhängig voneinander infiziert und auch andere Menschen außerhalb der Forschungseinrichtung angesteckt.
Das Institut für Virologie in Wuhan, das nun als mögliche Quelle von SARS-CoV-2 unter Verdacht geraten ist, besitzt ein Hochsicherheitslabor, BSL-4. Die Washington Post berichtet im April 2020, dass es Zweifel daran gebe, wie strikt die Vorschriften umgesetzt würden. US-Diplomaten hätten zwei Jahre zuvor nach mehrfachen Besuchen in dem Institut in zwei Depeschen ihre Besorgnis geäußert: unter anderem fehle es an gut ausgebildetem Personal.
"Das ist also eher dieser Punkt, dass die Ausbildung der Mitarbeitenden in den Laboren, dass man da besonders drauf achten muss. Dass man dafür sorgen muss, dass jeder, der da drin arbeitet, sich ganz genau an die Vorschriften hält und auch weiß, wo die Probleme liegen. Man muss wissen, wo sind die Risiken, dass man irgendwas mit nach draußen nimmt oder bringt. Und da drauf muss man gezielt immer die Mitarbeiter eben schulen."
Vor dem virologischen Institut in Wuhan in China stehen Männer in Uniform und mit Mundschutz.
Unter welchen Sicherheitsbedingungen wurde am Virologischen Institut Wuhan mit Coronaviren gearbeitet? (picture allaince / AP / Yomiuri Shimbun)

Unter welcher Schutzstufe wurde in Wuhan mit Coronaviren gearbeitet?

Das Fachmagazin Science hat die chinesische SARS-Expertin Zhengli Shi dazu befragt. Sie räumt ein, dass Forschungsarbeiten mit Coronaviren am Institut für Virologie Wuhan nicht in dem neuen BSL-4-Labor durchgeführt wurden, sondern in BSL-2 und BSL-3-Einrichtungen. Allerdings weist sie auch darauf hin, dass bei den Menschen, die am Institut arbeiten, keine Antikörper gegen SARS-CoV-2 gefunden wurden:
"Wir haben kürzlich die Blutseren all unserer Mitarbeiter und Studenten im Labor testen lassen, und niemand ist infiziert – weder mit SARS-assoziierten Coronaviren noch mit SARS-CoV-2. Bis heute haben wir ‚null Infektionen‘ bei unserem Personal und den Studenten im Institut."
Das hat sie am 15. Juli 2020 erklärt. Mitte Januar 2021 veröffentlicht das US-Außenministerium ein Datenblatt, das explizit dieses Zitat von "null Infektionen" in Zweifel zieht. Ferner heißt es dort:
"Das Außenministerium hat Grund zur Annahme, dass mehrere Forschungskräfte am Institut für Virologie Wuhan im Herbst 2019, noch vor dem Ausbruch der Epidemie, krank geworden sind."
Sie hätten Symptome gezeigt, die vereinbar seien mit Covid-19 – allerdings auch mit einer ganz normalen Erkältung. Gegen Ende Mai fügt das Wall Street Journal unter Berufung auf Geheimdienstunterlagen einige Details hinzu: Es habe sich um drei Forscher gehandelt, die im November im Krankenhaus behandelt wurden.
SARS-CoV-2 und die Anpassung auf Menschen
Das Echo in den Medien und den sozialen Netzwerken fällt gewaltig aus. Besonders als US-Präsident Biden erklärt, er habe US-Geheimdiensten den Auftrag erteilt, den Ursprung der Pandemie zu ermitteln und binnen 90 Tagen einen Bericht vorzulegen.
"Trump hatte damals auch diese Vermutung gehabt, dass es aus einem Labor stammt. und jetzt Biden. Hmm, das gibt zu denken."
"Oh, haben die US-Geheimdienste mal wieder Hinweise auf #weaponsofmassdestruction gefunden. Hüstel, hüstel!"
"Da muss man nicht mehr diskutieren. Da braucht es keine direkten Beweise mehr - die Indizien reichen vollkommen aus."
Dass SARS-CoV-2 aus einem Labor entkommen sein soll, scheint angesichts der Sicherheitsmaßnahmen unwahrscheinlich – aber eben nicht unmöglich. Lassen sich am Virus selbst möglicherweise Hinweise darauf finden, woher es stammt? Der Hamburger Physiker Roland Wiesendanger:
"Motiviert wird insbesondere diese Schlussfolgerung darin, dass letzten Endes dieses SARS-CoV-2-Virus besser an menschliche Zellen jetzt adaptiert ist als an irgendein anderes Tier, insbesondere auch nicht an Fledermäuse, die ja ursprünglich Quelle der Coronaviren sind. Und das muss einem doch zu denken geben, dass SARS-CoV-2 besser jetzt an menschliche Zellen adaptiert ist als an Fledermauszellen."

Laborkonstrukt oder Evolution?

Die kritische Stelle liegt auf dem Spike-Protein, also auf dem Eiweißmolekül, das von der Virenhülle absteht. Wie mit einem Enterhaken dockt das Virus damit an die Zellen seiner Wirte an, und zwar an bestimmte Rezeptormoleküle. Diese ACE2-Rezeptoren unterscheiden sich von einer Wirtsart zur anderen. Menschen besitzen etwas andere Rezeptoren als Fledermäuse oder etwa Katzen. Dass SARS-Coronavirus-2 besonders gut an den menschlichen Rezeptor passt, könne er nicht bestätigen, sagt Tim Skern.
"Wenn man die Daten anschaut, so ist es besser angepasst auf den Rezeptor, auf das Protein, das in Fledermäusen verwendet wird. Und es ist genauso gut angepasst auf Menschen wie auf Nerze, die, wie wir gesehen haben, sehr gut infiziert werden in Dänemark vor sechs Monaten zirka. Also das Virus ist in der Lage, viele Zellen von Säugetieren zu infizieren und daher ist es durchaus möglich, dass diese Fähigkeit durch die Evolution zustande kommen könnte."
Tim Skern arbeitet an der Medizinischen Universität Wien, an den Max Perutz Labs. Er sagt: Seit das neuartige Coronavirus erstmals in Erscheinung getreten ist, hat es sich mehrfach verändert. Es sind Varianten entstanden, die sich besser und schneller ausbreiten als das Ursprungsvirus. Es ist zu wenig perfekt für eine Kreation aus dem Labor.
"Ja, wie gesagt: Es ist nicht optimiert auf Menschen. Das Virus evolviert. Aber ich denke, wenn man das entworfen hätte, hätte man es vielleicht besser machen können."
Illustration neuartiger Corona-Viren


February 3, 2020, Atlanta, GA, United States of America: Illustration created at the Centers for Disease Control and Prevention showing the ultrastructural morphology exhibited by the Novel Coronavirus 2019-nCoV virus which has caused an outbreak of respiratory illness first detected in Wuhan, China in 2019. Note the spikes that adorn the outer surface of the virus, which impart the look of a corona surrounding the virion, when viewed electron microscope. Atlanta United States of America PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY - ZUMAp138 20200203zaap138002 Copyright: xCdc/Cdcx
Lassen sich am Oberflächenprotein von SARS-CoV-2 Hinweise auf einen Laborursprung finden? (imago images / ZUMA Press / Cdc/Cdc)
Die "Sollbruchstelle" am Oberflächenprotein
Und kein Molekularbiologe wäre auf die Idee gekommen, die Kontaktstelle zwischen Spike-Protein und Rezeptor, die Rezeptorbindungsdomäne, gerade so zu designen, wie sie tatsächlich aussieht. Nachträgliche Berechnungen am Computer hätten sogar vorhergesagt, dass beide Moleküle gar nicht zueinander passen sollten.
"Wir haben diese Bindung von SARS-Coronavirus-2 auf den ACE2-Rezeptor gesehen vor einem Jahr, und es war völlig neu. Wir haben so etwas noch nie gesehen. Und daher, wenn wir so etwas noch nie gesehen haben, vielleicht wenn jemand es entworfen hätte, hätten sie nur geraten. SARS-Coronavirus-2 hat uns gezeigt, was möglich ist. Wir haben manche von diesen Sachen vorher nicht gewusst. Und dann, wenn wir das nicht gewusst hätten, wie hätte ein Wissenschaftler, ein Virologe, das überhaupt entwerfen können."
Neben der Rezeptorbindungsdomäne besitzt SARS-CoV-2 aber noch ein zweites auffälliges Merkmal, wendet Physiker und Materialforscher Roland Wiesendanger ein. Eines, das künstlich hinzugefügt sein könnte?
"Eine sogenannte Furinspaltstelle, die es bei dieser Sorte von Coronaviren, sogenannte Beta-Coronaviren, zu denen eben auch SARS-CoV-2 gehört, eben nicht gibt in natürlicher Form. Das heißt, namhafte Virologen haben gesagt, das ist ein 'smoking gun', wie man so schön sagt, das weist ganz eindeutig auf einen nichtnatürlichen Ursprung von diesen SARS-CoV-2-Viren hin."

Die Furin-Spaltstelle ist nicht einzigartig

Von einem "smoking gun" hatte tatsächlich Nobelpreisträger David Baltimore gesprochen, inzwischen ist er aber wieder zurückgerudert: Die nicht-natürliche Spaltstelle am Virus ist wohl doch keine. Zumindest nicht zwingend.
Das Spike-Protein von Coronaviren besteht aus zwei Untereinheiten. An der Kontaktstelle sitzen bei SARS-CoV-2 ein paar wenige zusätzliche Bausteine. Sie bilden eine Art Sollbruchstelle, eben jene Furin-Spaltstelle.
Skern: "Diese Furinstelle erlaubt dem Virus, in die Zelle hineinzukommen. Und das gibt dann dem Virus ein bisschen einen Vorteil gegenüber anderen. Aber es ist nichts Ungewöhnliches bei Coronaviren."
Reuning: "Es sind zwei Merkmale, die erst dieses Verhalten des Virus ermöglichen. Also die Änderungen an der Rezeptorbindungsdomäne und die Furinspaltstelle. Daher kam ja auch der Verdacht: Aha, das ist im Labor eingefügt worden, diese Sequenzen."
Skern: "Nein, es ist möglich, die Evolution kann sehr viele Sachen machen. Und nur dass es zwei ungewöhnliche Ereignisse gibt, heißt nicht, dass es nicht aus der Natur kommen kann. Wir sehen sehr viele Viren, nicht nur Coronaviren, Influenzaviren, HIV, andere Viren, die auf Menschen übergegangen sind, sie haben verschiedene genetische Merkmale, die ungewöhnlich sind, aber die Natur probiert sehr viele Sachen aus, die meisten Sachen sind Sackgassen, aber gelegentlich gibt es einen Treffer mit sehr großen evolutionären Vorteilen, das wäre zum Beispiel das SARS-Coronavirus-2."

Wurden in Wuhan Gain-of-function-Experimente durchgeführt?

Coronaviren verfügen über eine große genetische Vielfalt. Infizieren zwei verschiedene Erreger dieselbe Zelle, können sie einen Teil ihres Erbguts austauschen. Allein die Anwesenheit einer Furinspaltstelle in SARS-CoV-2 muss also nicht bedeuten, dass dieser Abschnitt künstlich ins Genom eingefügt worden ist. Allerdings: Am Institut für Virologie Wuhan seien tatsächlich Coronaviren genetisch verändert worden, sagt Roland Wiesendanger:
"Und das führt eben notwendigerweise jetzt auf die Recherchen, die ich angestellt habe zu sogenannten Gain-of-function-Experimenten, die am Institut für Virologie der Stadt Wuhan durchgeführt worden sind, und zwar über viele, viele Jahre hinweg."
Die chinesische Corona-Expertin Zhengli Shi ist im Jahr 2015 an einer internationalen Studie beteiligt, in der ein hybrides Virus erzeugt wird. Ein Erreger also, der sich aus Teilen verschiedener Viren zusammensetzt. In diesem Fall eine bestimmte Variante des SARS1-Virus. Ihm wird ein verdächtiges Spike-Protein aus einem Coronavirus eingepflanzt, das die Forscher bei wild lebenden Fledermäusen entdeckt haben.
Das neue Mischvirus ist in der Lage, an menschliche Zellen anzudocken und in sie einzudringen. Ein Warnsignal, dass Coronaviren aus der Natur dazu in der Lage sind. Diese Versuche sind in den USA durchgeführt worden. Zhengli Shi hat bloß die RNA-Sequenzen beigesteuert.Zwei Jahre später berichtet sie dann im Fachmagazin PLOS Pathogens von ähnlichen Experimenten, die offenbar in Wuhan stattgefunden haben.
Ein neuer Impfstoff soll vor dem Virus H5N1 schützen.
Durch Gain-of-function-Versuche wurde das Vogelgrippevirus H5N1 leichter übertragbar gemacht (AP)
Potenzial und Risiken der Gain-of-function-Forschung
In einem Interview mit der New York Times betont sie, dass das Virus an sich dadurch nicht gefährlicher geworden sei. Es sei darum gegangen, zu verstehen, wie es den Sprung zwischen verschiedenen Arten schaffen kann. Doch das glaubt Roland Wiesendanger nicht. Er sagt:
"Man wollte damit letzten Endes das Pandemiepotential erforschen, aber hat damit letzten Endes auch eine riesige Gefahr hervorgebracht, die letzten Endes – und so bin ich und viele andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mittlerweile überzeugt – eben diese Pandemie überhaupt erst ausgelöst haben."
Ob es wirklich viele sind, die vom Laborursprung überzeugt sind, ist fraglich. Tatsächlich aber streitet die Fachwelt seit geraumer Zeit über das Potential und das Risiko solcher Gain-of-function-Versuche, bei denen auch Viren neue Eigenschaften verliehen werden.
"Viren im Labor scharfmachen. Nur ein Dummkopf kann glauben, dass das noch lange Zeit "immer wieder gerade nochmal gut" geht."
"Die nächste Pandemie ist vielleicht nur eine Mutation entfernt. Wenn wir GoF aufgeben, gehen wir ihr blind entgegen."
"Hat ja bisher echt gut funktioniert, so eine Art Schutz durch Risiko."

Vor zehn Jahren: Diskussion um Vogelgrippe-Erreger

Vor ungefähr zehn Jahren, als die Diskussion aufkam, drehte sie sich nicht um Coronaviren, sondern um die Vogelgrippe. Zwei Forschungsgruppen hatten mit Erregern der aviären Influenza gearbeitet. Diese Viren werden ab und zu von Vögeln auf Menschen übertragen. Das Ziel war es damals, die H5N1-Viren so zu verändern, dass sie auch den Sprung von Mensch zu Mensch schaffen.
Wildtierhandel - Gefahr für Mensch und Tier
Der Handel mit wilden Tieren ist ein Milliardengeschäft. Exoten werden als Haustiere gehalten, als Lebensmittel verzehrt oder für Medikamente genutzt. Nicht nur Artenschützer kritisieren diesen oft illegalen Handel. Denn er stellt eine Gefahr für den Menschen dar – wie die Corona-Pandemie beweist.
"Dahinter verbirgt sich eigentlich der Wunsch vom Wissenschaftler, zu verstehen wie sich diese Viren tatsächlich an den Menschen angepasst haben. Und um diese Ausbreitung dann schlussendlich festzustellen, was am Schluss dann eine Pandemie dann ausmacht, versucht man natürlich den Viren Eigenschaften zu geben, die diese Ausbreitung vielleicht ermöglicht."
Martin Schwemmle, Professor am Institut für Virologie des Universitätsklinikums Freiburg und Fachmann für hochpathogene Influenza-Viren. An die Gain-of-function-Versuche vor zehn Jahren kann er sich noch gut erinnern. Die Teams um Ron Fouchier vom Erasmus Medical Center in Rotterdam und um Yoshihiro Kawaoka von der Universität von Wisconsin in Madison hatten damals mit gentechnisch leicht veränderten H5N1-Viren Frettchen infiziert. Und nach ein paar Tagen die Viren wieder aus Nase und Rachen der Tiere entnommen, um andere Frettchen zu infizieren. Gut zehnmal führten sie die Prozedur aus. Und im Lauf der Zeit passten sich die Viren an ihre Wirte an.
Der braune Nerz kriecht hinter einem Holzstück hervor und blickt in die Kamera. 
In Nerzen konnte sich das Vogelgrippevirus über mehrere Generationen hinweg an seinen Wirt anpassen (Holger Hollemann / dpa)

Die Übertragbarkeit von H5N1 ließ sich im Labor erhöhen

"Und so kann man versuchen, dann ein Virus hinzubekommen, was dann über den Luftweg übertragen wird. Und das haben die auch geschafft und was sie dann zeigen konnten: Dass es unter anderem zu den Mutationen in dem Hüllprotein geführt hat, die diese Übertragung dann ermöglicht haben."
Damals wurde diese Forschung kontrovers diskutiert. Denn viele Fachleute sahen hier die Gefahr, dass pandemiefähige Erreger entstehen, die versehentlich dem Labor entkommen könnten. Kann sich Martin Schwemmle vorstellen, dass genau das in Wuhan geschehen ist?
"Also vorstellen. Ich kann mir alles vorstellen, ich kann mir auch vorstellen, was der Reporter gerne hören möchte, aber es gibt einfach keine Daten, die sagen, dass es zu einem Unfall gekommen ist, was dann zu einer Übertragung geführt hat. Aber es gibt sehr viele Daten, die bei SARS-Coronaviren deutlich aufzeigen, dass diese Viren in der Natur entwickelt wurden und dann auf den Menschen übergesprungen sind."

Wie ernst hat die WHO-Delegation die Laborhypothese genommen?

"Die WHO-Experten wurden ein Jahr lang hingehalten. Wundert wohl keinen, dass die nichts mehr finden."
"Bloss sich die Finger nicht verbrennen und den Chinesen auf den Schlips treten, ist wohl die Devise."
"Das Daszak zu den Experten berufen wurde, ist lächerlich. Der gute Mann ist durch seine Verknüpfungen mit dem Institut in Wuhan ziemlich befangen."
Es sei extrem unwahrscheinlich, dass das SARS-Coronavirus aus einem Labor stammt. Zu diesem Urteil kommt auch die Taskforce der WHO– eine Gruppe aus Fachleuten, die sich Anfang 2021 in Wuhan auf Spurensuche begibt. Doch schon bald wird Kritik dazu laut: Die USA und dreizehn weitere Länder, unter ihnen Australien, Japan und Kanada, äußern Zweifel an den Ergebnissen. Die Mission sei anfangs erheblich verzögert worden. Schließlich vor Ort sei dem Team der Zugang zu vollständigen, originalen Daten und Proben verwehrt geblieben.
Das Verhältnis der beiden Großmächte USA und China ist angespannt, gegenseitiges Misstrauen und Anklagen erschweren die wissenschaftliche Wahrheitsfindung. Selbst die Weltgesundheitsorganisation steht im Verdacht, politisch verwickelt zu sein. Roland Wiesendanger glaubt, dass die Taskforce gar nicht erst versucht habe, der Laborhypothese nachzugehen.
Roland Wiesendanger: "Im Abschlussbericht dieser gemeinsamen Kommission von chinesischer Seite und WHO sind auch ganze vier Seiten nur dieser Labortheorie gewidmet von einem Gesamtbericht von über dreihundert Seiten. Das zeigt eben schon, dass dieser Laborhypothese überhaupt keine große Beachtung geschenkt wurde."
Blick auf den Tisch mit den Experten, die nur am unteren Bildrand zu sehen sind. Dahinter groß eine blaue Tafel mit weißer Schrift. Darüber drei riesige Leuchter. 
Haben die Fachleute der WHO-Mission die Laborhypothese ausreichend berücksichtigt? (AP)

Waren Teilnehmer der WHO-Mission befangen?

Für den Bericht haben die Mitglieder des Teams Argumente für und wider die Laborhypothese gesammelt und gegeneinander abgewogen. Der WHO-Mitarbeiter Peter Ben Embarek, der vor Ort in Wuhan die Delegation begleitet hat, erklärte selbst, dass diese Methodik nur begrenzt Schlüsse zulasse:
Wir haben in den Laboren keine umfassenden Ermittlungen angestellt und auch keine Prüfung der Unterlagen dort. Daher kommen wir zu keinen anderen Ergebnissen als denen, die wir vorgelegt haben. Die basieren auf stundenlangen Diskussionen mit Kollegen, mit der Belegschaft dieser Labore, mit dem Management dieser Einrichtungen. Und noch einmal: Wir haben nichts dabei entdeckt und auch keine Unterlagen erhalten, die uns nahelegen würden, dass es da eine Spur gebe, der wir weiter folgen sollten.
Auch die Auswahl der Missionsteilnehmer wurde in Frage gestellt - insbesondere die Rolle des britisch-amerikanischen Infektionsepidemiologen Peter Daszak. Er forscht seit über fünfzehn Jahren auf dem Gebiet der Zoonosen und war im Jahr 2005 an der maßgeblichen Veröffentlichung beteiligt, die Fledermäuse als Reservoir des ersten Sars-Virus, SARS-Coronavirus-1, ausgemacht hatte. Mittlerweile amtiert er als Präsident der Nichtregierungsorganisation EcoHealth Alliance in New York, die sich zum Ziel gesetzt hat, Pandemien zu verhindern. Daszak gilt als Zoonosen-Experte und unbestrittener Fachmann auf dem Gebiet der SARS-ähnlichen Coronaviren. Seine Erfahrung und seine Kenntnisse qualifizieren ihn also auf alle Fälle für die WHO-Mission.
Allerdings: Über die Jahre hinweg hat er immer wieder mit Zehngli Shi vom Institut für Virologie Wuhan zusammengearbeitet und sogar Forschungsgelder der US-amerikanischen Nationalen Gesundheitsinstitute NIH für gemeinsame Projekte eingeworben. Wenn er nun ein Urteil darüber fällt, ob SARS-CoV-2 von eben jenem Institut stammt, darf seine Unabhängigkeit wohl zurecht angezweifelt werden.

Warum legt Peking nicht die Laboraufzeichnungen vor?

Der Politologe Roger Pielke Jr. von der University of Colorado argumentiert im Magazin Wired, dass auf diese Weise Verschwörungstheorien der Boden bereitet werde.
"Die Angst vor Verschwörungstheorien sollte uns nicht davon abhalten, unangenehme Fragen zu stellen. Im Gegenteil: Sie sollte uns motivieren, dass wir eines sicherstellen: Dass die Nachforschungen zum Ursprung dieser Pandemie so offen, unabhängig und vertrauenswürdig wie nur möglich geführt werden."
Im Mai hat eine Gruppe von Wissenschaftlern in einem kurzen Brief im Fachmagazin Science ebenfalls gefordert, die Laborhypothese nicht vorschnell abzutun. Und Tim Skern, der Virologe von der Medizinischen Universität Wien, weist auf Daten hin, die sehr schnell für Klarheit sorgen könnten.
"Der größte Punkt von diesem Brief in Science war mehr Transparenz. Also ich bin in Österreich. Ich bin verpflichtet, die Laborbücher und die Daten sieben Jahre zu halten. Diese Daten können Patentanwälte, können Gesundheitsbehörden einsehen, da können auch Fachzeitschriften reinschauen, um zu sehen, was wir gemacht haben. Und ich weiß, in China das Wuhan Institut hat Geld von NIH oder von den Vereinigten Staaten über bestimmte Institutionen bekommen und ich denke, das muss auch möglich sein, dass sie ihre Laborbücher zur Verfügung stellen. Das würde sehr helfen, einen Laborunfall auszuschließen."
Die Suche geht weiter
Sollte das Virus tatsächlich einem chinesischen Labor entkommen sein, werden wir die Wahrheit wohl nie erfahren. Denn auch schon bei der SARS-Pandemie 2003 hat Peking gerade zu Beginn alles daran gesetzt, zu verbergen und zu verschleiern. Sollte das Virus aus der Natur stammen, stehen die Chancen gut, dass irgendwann der Brückenwirt oder das Reservoir gefunden wird, höchstwahrscheinlich eine Fledermauskolonie. Doch das kann Jahre dauern.
Die G7-Staaten haben zuletzt die Forderung erneuert, dass die zweite Phase der WHO-Mission zeitnah und transparent starten soll – geleitet von Experten, gegründet auf Wissenschaft, auch in China. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus versichert, dass dabei alle Thesen eine Rolle spielen werden. Doch Peking sieht in der zweiten Phase vor allem die Spuren außerhalb von China im Fokus.
Die Suche nach dem Ursprung von Sars-CoV-2 ist hochpolitisch. Für die Wahrheitsfindung keine guten Voraussetzungen.
Die Spur des Virus Teil 1 - Aus der Wildnis nach Wuhan
Wie aus dem Nichts war es Ende 2019 auf einem Tiermarkt in Wuhan aufgetaucht, das neuartige Coronavirus. Doch mehr als anderthalb Jahre später liegt seine Herkunft noch immer im Dunkeln. Vieles deutet daraufhin, dass es aus der Wildnis stammt, aber ein Laborunfall ist auch nicht komplett auszuschließen.