O-Ton Kohl: Es geht doch schlicht und einfach darum, dass ein verbrecherisches Regime auf eine unrechtmäßige Weise Menschen abgehört hat. Damit hat dieses Regime Opfer erzeugt. Helmut Kohl ist ja ein Opfer. Jetzt ist es doch ziemlich absurd, dass Mielke über ein Jahrzehnt nach seinem Abtreten aus der Herrschaft den Triumph hat, dass Ergebnisse seiner verbrecherischen Tätigkeit jetzt in die Politik eingesetzt werden. Das ist eine Frage, die die allermeisten in irgendwelchen Führungsfunktionen, soweit sie für die Stasi interessant waren, in der alten Bundesrepublik betrifft. Es ist der Herr Schily natürlich genauso wie der Herr Schröder. Das ist Oskar Lafontaine, das ist Willy Brandt, das ist Herr Rau. Sie können nehmen wen Sie wollen. Im Moment tut man ja so, das sei eine Sache Helmut Kohls. Das ist überhaupt keine Sache Helmut Kohls. Es käme in keinem Land der Welt jemand auf den Gedanken. Das andere Argument, das ist jetzt höre, das sei ein Unterschied zwischen Ossi und Wessi, das ist besonders lächerlich. Das entscheidende Kriterium ist: ist einer Opfer oder ist er Täter.
Gerner: Helmut Kohl wehrt sich also gegen die Veröffentlichung seiner Stasi-Akten durch die Gauck-Behörde. - Am Telefon ist jetzt Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. Guten Morgen!
Geis: Guten Morgen.
Gerner: Herr Geis, stehen Sie bedingungslos an der Seite Helmut Kohls?
Geis: Ja. Ich bin der Meinung, dass die Stasi-Akten nicht herausgegeben werden dürfen. Wir hatten ja schon einmal eine Entscheidung des Kieler Landgerichtes: 1995 im damaligen Untersuchungsausschuss. Dort ging es um die Akten von Engholm. Auch damals hat das Kieler Landgericht bereits erklärt, die Akten werden nicht herausgegeben, weil sie eben auf verbrecherische Weise erlangt worden sind. Die Informationen sind auf verbrecherische Weise erlangt worden.
Gerner: Das Stasi-Gesetz ist aber eines, das die Regierung Kohl damals erlassen hat. Jetzt beklagt er, wofür er sich selbst früher stark gemacht hat.
Geis: Nein. Das Stasi-Gesetz sagt ja auch gar nicht, dass die herausgegeben werden müssen, sondern das Stasi-Gesetz sagt, dass die Persönlichkeit des einzelnen zu schützen ist. Ich glaube wenn man das Stasi-Gesetz konsequent anwenden würde, dann würde man zu dem Ergebnis kommen, zu dem das Landgericht Kiel 1995 schon gekommen ist - damals gab es ja schon das Stasi-Gesetz -, dass die Akten nicht herausgegeben werden dürfen.
Gerner: Kohl sagt, entscheidend ist der Unterschied zwischen Opfer und Täter. Nun hat die Stasi ja nicht nur verfolgt; sie hat auch protokolliert, was in den Jahren der Trennung zwischen Ost- und Westdeutschen gesprochen worden ist. Marianne Birthler, die neue Leiterin der Gauck-Behörde, sagt, die Aufarbeitung der ausstehenden Akten wird auch im Westen einigen noch weh tun. Fürchten Sie das?
Geis: Das kann durchaus sein, dass dort Informationen vorhanden sind, die weniger Helmut Kohl treffen als andere auf der Seite der jetzigen Regierungspartei, die ja engere Kontakte mit dem Ost-Regime hatten. Aber auch das darf nicht der Fall sein, dass nun ein, wie Kohl richtig sagt, später Triumph der damaligen Herrscher in der DDR zehn Jahre danach stattfindet, die noch Unruhe schaffen können in der Bundesrepublik, und zwar im Osten und im Westen.
Gerner: Warum soll jetzt Schluss sein, wenn es an die westdeutsche Prominenz geht, wo jahrelang Stasi-Akten gegen ostdeutsche Politiker und deren Fälle nachgewiesen wurden?
Geis: Das ist ja nicht der Fall. Nun war Engholm ein westdeutscher Fall, aber das liegt jetzt fünf Jahre zurück. Damals gab es ja eine gerichtliche Entscheidung. Ich bin ganz sicher, dass das Verfassungsgericht nicht anders entscheiden würde, wenn ein Rechtsstreit, sei es der von Helmut Kohl, bis zum Verfassungsgericht käme, weil wir nun einmal eine eindeutige Grundrechtslage haben, dass nämlich der einzelne darüber bestimmen kann, ob Informationen, die auf verbrecherische Weise zu Stande gekommen sind, herausgegeben werden können oder nicht. Ich bin sehr dafür, dass der einzelne darüber entscheidet, ob Gespräche, die unter das Post- und Fernmeldegeheimnis fallen und somit gegen Artikel 10 des Grundgesetzes verstoßen haben, nicht veröffentlicht werden dürfen. Wir haben uns damals große Gedanken gemacht, als wir den Lauschangriff gemacht haben, also den Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis, auch gegen das ganz informationelle Selbstbestimmungsrecht im Sinne des Artikels 2 Grundgesetz. Da ging es aber um Verbrecher, die verfolgt werden müssen. Hier geht es jedoch um Opfer. Kohl ist ein Opfer, Engholm ist ein Opfer, Lafontaine ist ein Opfer. Es gibt wahrscheinlich viel mehr Opfer auf der SPD-Seite als auf der CDU/CSU-Seite.
Gerner: Manfred Stolpe hat gesagt, er sei auch ein Opfer der ganzen Stasi-Akten gewesen. Johannes Rau warnt jetzt davor, mit zweierlei Maß zu messen.
Geis: Johannes Rau sollte etwas vorsichtiger sein. Vielleicht gibt es über ihn auch Akten. Es ist aber richtig: man darf nicht mit zweierlei Maß messen. Nur bei Manfred Stolpe bestand ja der Verdacht, dass er nicht Opfer, sondern auch Täter gewesen ist, genauso wie das bei de Maiziere bestanden hat. Das muss man schon unterscheiden. Es waren nicht alle Opfer, die sich jetzt vielleicht daran stören.
Gerner: Marianne Birthler sagt, die Veröffentlichung der Kohl-Akten könne die innere Einheit voranbringen. Wäre das ein lohnenswertes Ziel?
Geis: Das ist immer ein lohnenswertes Ziel. Nur glaube ich nicht, dass das der Fall ist, dass durch die Freigabe der Akten die innere Einheit vorangebracht wird. Wenn intime Informationen auf verbrecherische Weise zu Stande gekommen sind, wie das der Einheit nutzen soll, das ist für mich sehr fragwürdig.
Gerner: Sie sehen nicht, dass bei Ost- und Westdeutschen zweierlei Maß angelegt wird?
Geis: Ich würde mich dagegen wehren, wenn das der Fall wäre.
Gerner: Viele Kritiker sehen das als gegeben.
Geis: Das halte ich nicht für gegeben. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Man muss unterscheiden: Es gab im Osten viele, die nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren, einfach auch deswegen, weil dort ein verbrecherisches Regime die Leute unter Druck gesetzt hat. Wir wissen das ja. Hier muss man schon ein wenig den Unterschied treffen. Im Westen gab es dies im dem Maße nicht. Es gab allerdings auch im Westen Täter.
Gerner: Vielen Dank. - Das war Norbert Geis, der rechtspolitische Sprecher der CDU im Bundestag. Mitgehört hat Werner Schulz, Wirtschafts- und ostpolitischer Sprecher der Bündnis-Grünen. Ich grüße Sie!
Schulz: Schönen guten Morgen Herr Gerner.
Gerner: Herr Schulz, Sie haben das mitgehört. Was sagen Sie zu dem, was Norbert Geis sagt?
Schulz: Ich muss dem heftig widersprechen, weil zumindest die Definition schon mal nicht stimmt. Helmut Kohl ist kein Opfer im genaueren und engeren Sinne. Dann hätten wir im Grunde genommen Millionen Opfer in Ost und West. Opfer sind vielmehr im Sinne, wie Jürgen Fuchs das definiert hat, die Menschen, die durch die Stasi zu Schaden gekommen sind, die in den operativen Maßnahmeplänen der Stasi auftauchen, gegen die Restriktionen von der Stasi durchgeführt worden sind. Helmut Kohl ist ein Betroffener. Er ist abgehört worden. Das gesamte Material oder das überwiegende Material, was die Stasi zusammengetragen hat, ist natürlich illegal zu Stande gekommen. Das sind Abhörprotokolle aus Telefongesprächen, das ist Wanzenüberwachung, das sind Ohrenzeugen, das sind die sogenannten Spitzelberichte und dergleichen mehr. Das ist natürlich alles Material, was in einem Rechtsstaat so nie zu Stande gekommen wäre. Das war uns bewusst, als wir das Stasi-Unterlagengesetz gemacht haben, und es ist ein Gesetz, das in der Kohl-Ära gemacht worden ist, also 1991. Wir wollten die informelle Macht, das Herrschaftswissen der Stasi brechen und deswegen die Akten offen legen.
Gerner: Was muss Helmut Kohl, was müssen andere Westpolitiker denn befürchten, etwa dass die Blauäugigkeit, eine gewisse Blauäugigkeit westdeutscher Politiker in der Deutschland-Politik der 70er und 80er Jahre zum Vorschein kommt, oder ist da mehr, was auf den Tisch kommen könnte?
Schulz: Das ist möglicherweise wirklich das, was er befürchtet. Man muss ja einmal an den Ausgangspunkt zurückkommen, warum man überhaupt in die Stasi-Akten von Helmut Kohl schauen will. Er steht ja vor einem Untersuchungsausschuss zur sogenannten Parteispendenaffäre. Er scheint also bestimmte Gesetze überhaupt nicht akzeptieren zu wollen, dass sie für ihn gelten. Das gilt für das Parteigesetz und das gilt offensichtlich auch für das Stasi-Unterlagengesetz. Da er keinerlei Hinweise liefert, woher die Gelder stammen, ist in diesem Untersuchungsausschuss der Gedanke aufgekommen, ob man nicht mal in die Stasi-Akte schaut, ob es dort eventuell Anhaltspunkte geben könnte. Daraufhin hat sich Helmut Kohl jetzt auf einen Nebenschauplatz begeben, indem er eine Abwehrschlacht oder ein Ablenkungsmanöver eingeführt hat, indem er sich plötzlich als Opfer aufführt und die Klage gegen die Behörde eingereicht hat.
Gerner: Herr Schulz, würde eine Lex Kohl Gräben zwischen Ost und West neu aufreißen?
Schulz: Es würde das Thema zumindest Turbulenz aufwirbeln, denke ich. Schauen Sie, es gibt ja auch eine Präzedenzfall. 1991/92 ist im Wortlaut ein Telefongespräch zwischen Helmut Kohl und Egon Krenz beispielsweise veröffentlicht worden, was Helmut Kohl im Oktober 1989 mit Egon Krenz geführt hat. Er hat ihm dort alles Gute gewünscht zur Wahl des Staatsratsvorsitzenden und viel Erfolg bei dieser schwierigen Aufgabe. Das ist ein Telefongespräch, das ist in der Deutschland-Politik an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Peinlicheres wird sich kaum in den Akten finden lassen. Ich möchte nur eines nicht, dass dieses Herrschaftswissen, was die Stasi dort angesammelt hat, jetzt nur dem Historiker Kohl zur Verfügung steht, denn der hat in seine Akte hineingeschaut und sagt, jetzt sei ihm klar, wer damals alles innerhalb der CDU gegen ihn intrigiert und gegen ihn gearbeitet hat. Wir sind von Anfang an der Auffassung gewesen, dass für Personen der Zeitgeschichte, gerade um die komplizierten deutsch-deutschen Verhältnisse und die Politik, die damals gelaufen ist, zu rekonstruieren, um sie aufzuarbeiten, um sie historisch auch zugänglich zu machen, Historiker und Journalisten Einsicht in die Akten bekommen. Die persönliche Sphäre, der Intimbereich muss natürlich geschützt sein und wird auch geschützt. Das wird von der Behörde ja strikt eingehalten. Diese Stellen werden geschwärzt.
Gerner: Herr Schulz, nun ist das ganze auch ein regierungsinterner Konflikt. Otto Schily hat seine Absicht bekundet, per Regierungsanweisung Frau Birthler die Veröffentlichung der Kohl-Protokolle zu untersagen. Sie waren gestern bei Otto Schily und haben mit ihm gesprochen. Hält er daran fest?
Schulz: Da wird etwas hochgespielt, was kein Konflikt ist. Darum ranken sich Spekulationen. Otto Schily muss natürlich als Innenminister dafür Sorge tragen, dass die Arbeit der Behörde verfassungskonform und verfassungsgerecht läuft. Es bestehen aber weder in der Bundesregierung noch in der Koalition irgendwelche Absichten, die Aufklärungsarbeit der Behörde zu behindern oder gar einzuschränken.
Gerner: Hat Schily das Wort "Anweisung" Ihnen gegenüber gestern noch in den Mund genommen?
Schulz: Nein!
Gerner: Das heißt für Sie ist das vom Tisch?
Schulz: Das ist für uns vom Tisch. Wir müssen natürlich mit der Klage von Helmut Kohl umgehen, wie wir uns dazu verhalten. Marianne Birthler hat zunächst erst mal - und das halte ich für sehr sinnvoll - festgelegt, dass bis zur Urteilsverkündung keine Informationen im Falle Kohl herausgegeben werden. Je nachdem wie das Urteil ausfällt muss man dann weiterverfahren.
Gerner: Sie gehen aber davon aus, dass Marianne Birthler im Januar eine Erlaubnis für die Veröffentlichung der Protokolle erhalten wird?
Schulz: Bisher sind ähnliche Klagen meines Wissens niedergeschlagen worden. Denjenigen ist so weit nicht Recht gegeben worden. Die Behörde arbeitet hier strikt nach Recht und Gesetz, und das Stasi-Unterlagengesetz gibt die Möglichkeit, dass zu Personen der Zeitgeschichte die Informationen, die von der Stasi zusammengetragen wurden, aufgearbeitet und veröffentlicht werden können.
Gerner: Werner Schulz war das. Wir müssen an dieser Stelle einen Punkt machen. - Ganz herzlichen Dank an den Wirtschafts- und ostpolitischen Sprecher der Bündnis-Grünen.
Link: Interview als RealAudio
Gerner: Helmut Kohl wehrt sich also gegen die Veröffentlichung seiner Stasi-Akten durch die Gauck-Behörde. - Am Telefon ist jetzt Norbert Geis, rechtspolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. Guten Morgen!
Geis: Guten Morgen.
Gerner: Herr Geis, stehen Sie bedingungslos an der Seite Helmut Kohls?
Geis: Ja. Ich bin der Meinung, dass die Stasi-Akten nicht herausgegeben werden dürfen. Wir hatten ja schon einmal eine Entscheidung des Kieler Landgerichtes: 1995 im damaligen Untersuchungsausschuss. Dort ging es um die Akten von Engholm. Auch damals hat das Kieler Landgericht bereits erklärt, die Akten werden nicht herausgegeben, weil sie eben auf verbrecherische Weise erlangt worden sind. Die Informationen sind auf verbrecherische Weise erlangt worden.
Gerner: Das Stasi-Gesetz ist aber eines, das die Regierung Kohl damals erlassen hat. Jetzt beklagt er, wofür er sich selbst früher stark gemacht hat.
Geis: Nein. Das Stasi-Gesetz sagt ja auch gar nicht, dass die herausgegeben werden müssen, sondern das Stasi-Gesetz sagt, dass die Persönlichkeit des einzelnen zu schützen ist. Ich glaube wenn man das Stasi-Gesetz konsequent anwenden würde, dann würde man zu dem Ergebnis kommen, zu dem das Landgericht Kiel 1995 schon gekommen ist - damals gab es ja schon das Stasi-Gesetz -, dass die Akten nicht herausgegeben werden dürfen.
Gerner: Kohl sagt, entscheidend ist der Unterschied zwischen Opfer und Täter. Nun hat die Stasi ja nicht nur verfolgt; sie hat auch protokolliert, was in den Jahren der Trennung zwischen Ost- und Westdeutschen gesprochen worden ist. Marianne Birthler, die neue Leiterin der Gauck-Behörde, sagt, die Aufarbeitung der ausstehenden Akten wird auch im Westen einigen noch weh tun. Fürchten Sie das?
Geis: Das kann durchaus sein, dass dort Informationen vorhanden sind, die weniger Helmut Kohl treffen als andere auf der Seite der jetzigen Regierungspartei, die ja engere Kontakte mit dem Ost-Regime hatten. Aber auch das darf nicht der Fall sein, dass nun ein, wie Kohl richtig sagt, später Triumph der damaligen Herrscher in der DDR zehn Jahre danach stattfindet, die noch Unruhe schaffen können in der Bundesrepublik, und zwar im Osten und im Westen.
Gerner: Warum soll jetzt Schluss sein, wenn es an die westdeutsche Prominenz geht, wo jahrelang Stasi-Akten gegen ostdeutsche Politiker und deren Fälle nachgewiesen wurden?
Geis: Das ist ja nicht der Fall. Nun war Engholm ein westdeutscher Fall, aber das liegt jetzt fünf Jahre zurück. Damals gab es ja eine gerichtliche Entscheidung. Ich bin ganz sicher, dass das Verfassungsgericht nicht anders entscheiden würde, wenn ein Rechtsstreit, sei es der von Helmut Kohl, bis zum Verfassungsgericht käme, weil wir nun einmal eine eindeutige Grundrechtslage haben, dass nämlich der einzelne darüber bestimmen kann, ob Informationen, die auf verbrecherische Weise zu Stande gekommen sind, herausgegeben werden können oder nicht. Ich bin sehr dafür, dass der einzelne darüber entscheidet, ob Gespräche, die unter das Post- und Fernmeldegeheimnis fallen und somit gegen Artikel 10 des Grundgesetzes verstoßen haben, nicht veröffentlicht werden dürfen. Wir haben uns damals große Gedanken gemacht, als wir den Lauschangriff gemacht haben, also den Verstoß gegen das Fernmeldegeheimnis, auch gegen das ganz informationelle Selbstbestimmungsrecht im Sinne des Artikels 2 Grundgesetz. Da ging es aber um Verbrecher, die verfolgt werden müssen. Hier geht es jedoch um Opfer. Kohl ist ein Opfer, Engholm ist ein Opfer, Lafontaine ist ein Opfer. Es gibt wahrscheinlich viel mehr Opfer auf der SPD-Seite als auf der CDU/CSU-Seite.
Gerner: Manfred Stolpe hat gesagt, er sei auch ein Opfer der ganzen Stasi-Akten gewesen. Johannes Rau warnt jetzt davor, mit zweierlei Maß zu messen.
Geis: Johannes Rau sollte etwas vorsichtiger sein. Vielleicht gibt es über ihn auch Akten. Es ist aber richtig: man darf nicht mit zweierlei Maß messen. Nur bei Manfred Stolpe bestand ja der Verdacht, dass er nicht Opfer, sondern auch Täter gewesen ist, genauso wie das bei de Maiziere bestanden hat. Das muss man schon unterscheiden. Es waren nicht alle Opfer, die sich jetzt vielleicht daran stören.
Gerner: Marianne Birthler sagt, die Veröffentlichung der Kohl-Akten könne die innere Einheit voranbringen. Wäre das ein lohnenswertes Ziel?
Geis: Das ist immer ein lohnenswertes Ziel. Nur glaube ich nicht, dass das der Fall ist, dass durch die Freigabe der Akten die innere Einheit vorangebracht wird. Wenn intime Informationen auf verbrecherische Weise zu Stande gekommen sind, wie das der Einheit nutzen soll, das ist für mich sehr fragwürdig.
Gerner: Sie sehen nicht, dass bei Ost- und Westdeutschen zweierlei Maß angelegt wird?
Geis: Ich würde mich dagegen wehren, wenn das der Fall wäre.
Gerner: Viele Kritiker sehen das als gegeben.
Geis: Das halte ich nicht für gegeben. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Man muss unterscheiden: Es gab im Osten viele, die nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren, einfach auch deswegen, weil dort ein verbrecherisches Regime die Leute unter Druck gesetzt hat. Wir wissen das ja. Hier muss man schon ein wenig den Unterschied treffen. Im Westen gab es dies im dem Maße nicht. Es gab allerdings auch im Westen Täter.
Gerner: Vielen Dank. - Das war Norbert Geis, der rechtspolitische Sprecher der CDU im Bundestag. Mitgehört hat Werner Schulz, Wirtschafts- und ostpolitischer Sprecher der Bündnis-Grünen. Ich grüße Sie!
Schulz: Schönen guten Morgen Herr Gerner.
Gerner: Herr Schulz, Sie haben das mitgehört. Was sagen Sie zu dem, was Norbert Geis sagt?
Schulz: Ich muss dem heftig widersprechen, weil zumindest die Definition schon mal nicht stimmt. Helmut Kohl ist kein Opfer im genaueren und engeren Sinne. Dann hätten wir im Grunde genommen Millionen Opfer in Ost und West. Opfer sind vielmehr im Sinne, wie Jürgen Fuchs das definiert hat, die Menschen, die durch die Stasi zu Schaden gekommen sind, die in den operativen Maßnahmeplänen der Stasi auftauchen, gegen die Restriktionen von der Stasi durchgeführt worden sind. Helmut Kohl ist ein Betroffener. Er ist abgehört worden. Das gesamte Material oder das überwiegende Material, was die Stasi zusammengetragen hat, ist natürlich illegal zu Stande gekommen. Das sind Abhörprotokolle aus Telefongesprächen, das ist Wanzenüberwachung, das sind Ohrenzeugen, das sind die sogenannten Spitzelberichte und dergleichen mehr. Das ist natürlich alles Material, was in einem Rechtsstaat so nie zu Stande gekommen wäre. Das war uns bewusst, als wir das Stasi-Unterlagengesetz gemacht haben, und es ist ein Gesetz, das in der Kohl-Ära gemacht worden ist, also 1991. Wir wollten die informelle Macht, das Herrschaftswissen der Stasi brechen und deswegen die Akten offen legen.
Gerner: Was muss Helmut Kohl, was müssen andere Westpolitiker denn befürchten, etwa dass die Blauäugigkeit, eine gewisse Blauäugigkeit westdeutscher Politiker in der Deutschland-Politik der 70er und 80er Jahre zum Vorschein kommt, oder ist da mehr, was auf den Tisch kommen könnte?
Schulz: Das ist möglicherweise wirklich das, was er befürchtet. Man muss ja einmal an den Ausgangspunkt zurückkommen, warum man überhaupt in die Stasi-Akten von Helmut Kohl schauen will. Er steht ja vor einem Untersuchungsausschuss zur sogenannten Parteispendenaffäre. Er scheint also bestimmte Gesetze überhaupt nicht akzeptieren zu wollen, dass sie für ihn gelten. Das gilt für das Parteigesetz und das gilt offensichtlich auch für das Stasi-Unterlagengesetz. Da er keinerlei Hinweise liefert, woher die Gelder stammen, ist in diesem Untersuchungsausschuss der Gedanke aufgekommen, ob man nicht mal in die Stasi-Akte schaut, ob es dort eventuell Anhaltspunkte geben könnte. Daraufhin hat sich Helmut Kohl jetzt auf einen Nebenschauplatz begeben, indem er eine Abwehrschlacht oder ein Ablenkungsmanöver eingeführt hat, indem er sich plötzlich als Opfer aufführt und die Klage gegen die Behörde eingereicht hat.
Gerner: Herr Schulz, würde eine Lex Kohl Gräben zwischen Ost und West neu aufreißen?
Schulz: Es würde das Thema zumindest Turbulenz aufwirbeln, denke ich. Schauen Sie, es gibt ja auch eine Präzedenzfall. 1991/92 ist im Wortlaut ein Telefongespräch zwischen Helmut Kohl und Egon Krenz beispielsweise veröffentlicht worden, was Helmut Kohl im Oktober 1989 mit Egon Krenz geführt hat. Er hat ihm dort alles Gute gewünscht zur Wahl des Staatsratsvorsitzenden und viel Erfolg bei dieser schwierigen Aufgabe. Das ist ein Telefongespräch, das ist in der Deutschland-Politik an Peinlichkeit nicht zu überbieten. Peinlicheres wird sich kaum in den Akten finden lassen. Ich möchte nur eines nicht, dass dieses Herrschaftswissen, was die Stasi dort angesammelt hat, jetzt nur dem Historiker Kohl zur Verfügung steht, denn der hat in seine Akte hineingeschaut und sagt, jetzt sei ihm klar, wer damals alles innerhalb der CDU gegen ihn intrigiert und gegen ihn gearbeitet hat. Wir sind von Anfang an der Auffassung gewesen, dass für Personen der Zeitgeschichte, gerade um die komplizierten deutsch-deutschen Verhältnisse und die Politik, die damals gelaufen ist, zu rekonstruieren, um sie aufzuarbeiten, um sie historisch auch zugänglich zu machen, Historiker und Journalisten Einsicht in die Akten bekommen. Die persönliche Sphäre, der Intimbereich muss natürlich geschützt sein und wird auch geschützt. Das wird von der Behörde ja strikt eingehalten. Diese Stellen werden geschwärzt.
Gerner: Herr Schulz, nun ist das ganze auch ein regierungsinterner Konflikt. Otto Schily hat seine Absicht bekundet, per Regierungsanweisung Frau Birthler die Veröffentlichung der Kohl-Protokolle zu untersagen. Sie waren gestern bei Otto Schily und haben mit ihm gesprochen. Hält er daran fest?
Schulz: Da wird etwas hochgespielt, was kein Konflikt ist. Darum ranken sich Spekulationen. Otto Schily muss natürlich als Innenminister dafür Sorge tragen, dass die Arbeit der Behörde verfassungskonform und verfassungsgerecht läuft. Es bestehen aber weder in der Bundesregierung noch in der Koalition irgendwelche Absichten, die Aufklärungsarbeit der Behörde zu behindern oder gar einzuschränken.
Gerner: Hat Schily das Wort "Anweisung" Ihnen gegenüber gestern noch in den Mund genommen?
Schulz: Nein!
Gerner: Das heißt für Sie ist das vom Tisch?
Schulz: Das ist für uns vom Tisch. Wir müssen natürlich mit der Klage von Helmut Kohl umgehen, wie wir uns dazu verhalten. Marianne Birthler hat zunächst erst mal - und das halte ich für sehr sinnvoll - festgelegt, dass bis zur Urteilsverkündung keine Informationen im Falle Kohl herausgegeben werden. Je nachdem wie das Urteil ausfällt muss man dann weiterverfahren.
Gerner: Sie gehen aber davon aus, dass Marianne Birthler im Januar eine Erlaubnis für die Veröffentlichung der Protokolle erhalten wird?
Schulz: Bisher sind ähnliche Klagen meines Wissens niedergeschlagen worden. Denjenigen ist so weit nicht Recht gegeben worden. Die Behörde arbeitet hier strikt nach Recht und Gesetz, und das Stasi-Unterlagengesetz gibt die Möglichkeit, dass zu Personen der Zeitgeschichte die Informationen, die von der Stasi zusammengetragen wurden, aufgearbeitet und veröffentlicht werden können.
Gerner: Werner Schulz war das. Wir müssen an dieser Stelle einen Punkt machen. - Ganz herzlichen Dank an den Wirtschafts- und ostpolitischen Sprecher der Bündnis-Grünen.
Link: Interview als RealAudio