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Die Stimme des Jahrhunderts

"Sie hatte den satten, warmen Klang einer Stradivari", sagte Georg Solti über ihre Stimme. Und Dirigent Rudolf Bing nannte sie einmal "eine der größten Sängerinnen aller Zeiten." Von keiner anderen Sängerin ihrer Generation gibt es heute noch so viele CDs im Handel wie von der norwegischen Sopranistin Kirsten Flagstad, die heute 110 Jahre alt geworden wäre.

Von Sabine Fringes |
    An die Met kam gestern eine neue Sängerin, die einen unmittelbaren und unwiderstehlichen Eindruck beim Publikum hinterließ. Keine Sängerin der letzten zehn Jahre hat hier solch eine Wirkung erzielt- durch Stimme, durch Bühnenpräsenz, Intelligenz und dramatische Wahrhaftigkeit.

    So schrieb die New York Times im Februar 1935 über den erstmaligen Auftritt der groß gewachsenen und kräftigen Sopranistin aus Norwegen. Vierzig Jahre alt war Kirsten Flagstad bei ihrem Debüt als Sieglinde an der Metropolitan Opera in New York, von dem überliefert ist, dass der Dirigent bei Einsatz ihres Gesanges vor Staunen den Stab fallengelassen habe.
    Dieser Auftritt und ihre Brünhilde, die sie wenig später auch noch sang, begründeten ihren weltweiten Ruf als eine der größten Wagner-Sängerinnen ihrer Zeit.

    Kirsten Flagstad wurde am 12. Juli 1895 im norwegischen Hamar geboren. Ihr Vater war Dirigent, ihre Mutter Pianistin. Es wurde viel musiziert im Hause Flagstad. Kirsten lernte Klavier und Gesang. Im Alter von zehn Jahren hatte sie bereits ihre erste Rolle einstudiert, die Elsa aus Wagners Oper "Lohengrin".

    Mit 18 Jahren debütierte sie im Nationaltheater in Oslo in der Rolle der Nuri in Eugen d'Alberts Oper "Tiefland". Weitere Auftritte in Göteburg und Helsinki folgten. Insgesamt 20 Jahre lang war sie nahezu ausschließlich an skandinavischen Häusern tätig, wo sie sich im Laufe der Jahre ein großes Repertoire erarbeitete, das von Oper über Operette bis hin zu Musical reichte. Zwischendurch verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt als Pianistin.

    1930 trat sie zum ersten Mal als Isolde in Göteburg auf und wurde bald danach für die Bayreuther Festspiele verpflichtet. Dort sang sie - kaum beachtet - nur kleinere Rollen, bis ein Vertreter der Met auf sie aufmerksam wurde.

    Und dann kam ihr Durchbruch.

    Durch Kirsten Flagstad wurden Wagneropern am Broadway über Nacht zu Kassenschlagern.
    3-4 Mal pro Woche spielte man in dieser Zeit Opern von Richard Wagner.
    Ihre Isolde unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler gilt heute noch vielen als ein unerreichbarer Höhepunkt.

    Der Musikkritiker Lanfranco Rasponi schrieb:

    " Für meine Begriffe stand sie über allen Sängern, die ich je gehört habe. Ihre Stimme war einzigartig in ihrer Grandeur und Flexibilität. Nach einer heroischen Phrase konnte sie die nächste mit bewegender Sanftheit bilden, so zart, als könnte der Ton jede Sekunde reißen - was er nie tat."

    Trotz ihres Erfolgs war die Flagstad alles andere als eine kapriziöse Primadonna.
    Nervenzusammenbrüche waren von ihr ebenso wenig zu erwarten wie anspruchsvolle Launen.
    So strickte sie zum Beispiel gerne in den Pausen von "Tristan und Isolde" Pullover für ihre Enkelkinder, um dann auf Stichwort eine der schwierigsten Partien der Opernliteratur zu singen.
    Glühende Leidenschaft war ihre Sache nicht. Ihre Gesten waren eher konventionell, waren keine tief gehenden Charakterstudien. Die Kunst der Flagstad entfaltete sich viel mehr in ihrer absoluten Hingabe an den Klang, in der Phrasierung, in dem freien Strömenlassen einer außergewöhnlich vollen und kräftigen und zugleich geschmeidigen, glanzvollen Stimme.

    Eine Stimme, auf die sie sich verlassen konnte wie ein Athlet auf seine Muskeln.
    Dennoch erzählt sie in ihren 1952 erschienenen Memoiren von ihrer Sehnsucht nach Ruhe.
    Im selben Jahr, noch auf dem Höhepunkt ihrer Stimmkraft, teilt sie mit, dass sie sich von der Bühne zurückziehen werde.

    " Ich habe doch so lange gesungen, 38 Jahre, und ich möchte doch etwas Ruhe haben. Ich singe sehr gerne, aber es kann auch zu viel werden."

    Und doch konnte sie nicht ganz vom Singen lassen: Kirsten Flagstad gab noch einige Jahre lang weitere letzte und allerletzte Konzerte, bis sie sich schließlich doch endgültig von der Bühne verabschiedete. Sie starb im Alter von 67 Jahren am 7. Dezember 1962 in Oslo.