Sonntag, 26. März 2023

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"Die Stimmen für Joachim Gauck werden nicht abreißen"

Wulff oder Gauck? Das Kandidatenkarussell für das Amt des Bundespräsidenten dreht sich nur noch um zwei Namen. Der Schriftsteller Lutz Rathenow fordert generell, dass Kandidaten für den Posten von parteipolitischen Zwängen und Empfehlungen befreit werden.

Lutz Rathenow im Gespräch mit Stefan Heinlein | 07.06.2010

    Stefan Heinlein: Christian Wulff oder Joachim Gauck – Ende Juni fällt die Entscheidung, wer künftig als Bundespräsident ins Schloss Bellevue einzieht. Eigentlich eine klare Angelegenheit, denn in der Bundesversammlung hat Schwarz-Gelb die notwendige Mehrheit. Doch das Rennen um die Nachfolge von Horst Köhler könnte doch noch einmal spannend werden. An diesem Wochenende gab es zahlreiche Stimmen von ostdeutschen Politikern, von Union und FDP für den Oppositionskandidaten Joachim Gauck. Sie halten ihn ganz offen für den besseren Kandidaten. Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Schriftsteller und ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Lutz Rathenow. Guten Morgen, Herr Rathenow!

    Lutz Rathenow: Ja, guten Morgen!

    Heinlein: Glauben Sie, dass die Bundesversammlung tatsächlich noch einmal spannend werden könnte?

    Rathenow: Das ist möglich, denn die Stimmen für Joachim Gauck werden nicht abreißen. Wenn ich die Diskussion unter Bürgerrechtlern und auch diversen Vereinen und Vereinigungen da im Netz verfolge, werden mehrere Aufrufe für Joachim Gauck vorbereitet, die übrigens nicht unbedingt gegen Christian Wulff gerichtet sind, der sicher ein guter Kandidat wäre. Aber vielleicht stellt man sich dann doch die Frage, warum muss es in dieser Situation, bei diesem Amt zu parteipolitisch zugehen. Warum könnte man sich nicht auf jemand einigen oder zwei gegeneinander antreten lassen, die beide geeignet wären? Und da hat Joachim Gauck sehr große Sympathien.

    Heinlein: Aber warum brauchen wir denn einen ostdeutschen Präsidenten, wir haben doch schon eine ostdeutsche Kanzlerin?

    Rathenow: Ja, ich würde auf das Ostdeutsch auch gar nicht so sehr legen. Joachim Gauck ist nicht der Präsident der ostdeutschen Herzen. Viele mögen ihn hier auch nicht, und das hat ja mitunter auch gute Gründe. Aber ihm gelingt es wie ganz wenigen anderen, also ich kenne keinen anderen, dem es so gut gelingt, in der Bundesrepublik und in anderen Staaten in Reden, Diskussionen die Situation des Postkommunismus der Zeit danach oder Zeit damals plausibel zu machen und auch für die Integration Richtung Osteuropa, die Einbahnung der kommunistischen Vergangenheit, eben bis nach Russland hinein Schwerpunkte zu setzen, Diskussionen zu führen, die das eigentlich als europäisch integrierendes Moment begreifen. Also das, was sich jetzt zwischen Polen und Russen kurze Zeit abgespielt hat, über den Gräbern von Katyn, und was als Impuls der Vereinigung, der Annäherung hoffentlich weiterwirkt, ist etwas, was Joachim Gauck wirklich verkörpern kann, auch durch sein Amt, durch die Analyse dieser Staatssicherheitsakten, die ja weit mehr sind als irgendwelche Akten, sondern er kann das Erbe der kommunistischen Vergangenheit plausibel machen, verständlich machen – und er ist brillant.

    Heinlein: Herr Rathenow, ich habe beim Beginn Ihrer Antwort gerade hingehört, welche guten Gründe gibt es denn, Joachim Gauck nicht zu mögen?

    Rathenow: Ja, es gibt sicher für Menschen, die in der Staatssicherheit waren und die das nach wie vor für richtig halten, gute Gründe, weil er wie andere Bürgerrechtler sie sozusagen in ihren schädlichen Ausführungen für die Gesellschaft analysiert und in einem gewissen Sinn auch entlarvt hat. Aber gerade die Linkspartei – sprechen wir es doch mal ganz offen an –, die sich gegen ihn ausgesprochen hat, hätte jetzt eine große Chance, über ihren Schatten zu springen und einige der Vorbehalte, auch von Joachim Gauck, aus dem Weg zu räumen, indem sie sagt, er mag uns zwar nicht, aber wir wählen ihn trotzdem, da im Großen und Ganzen, aus der Distanz betrachtet, die Arbeit der Stasiunterlagenbehörde, auch die, die von Marianne Birthler fortgeführt wird, eine versöhnende Arbeit ist. Das besteht nicht nur darin, dass ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit die Bestätigung für ihre berufliche Ausübung für die Rentenberechnung von dieser Behörde bekommen. Daran sollten sich dann auch manche erinnern.

    Heinlein: Herr Rathenow, Joachim Gauck hat erklärt, er hätte sich auch von Union und FDP als Kandidat nominieren lassen. Spricht das für seine politische Unabhängigkeit oder für politische Beliebigkeit?

    Rathenow: Also es steht bestimmt nicht für politische Beliebigkeit. Es ist natürlich ein sehr cleverer Schachzug gewesen, der Grünen und der SPD, sich auf einen Kandidaten zu einigen, der ihnen punktuell sicher nahesteht, aber in anderen Punkten auch unberechenbar ist und der eben von CDU und gerade auch von vielen FDP-Menschen gemocht wird, der für Bürgerrechte steht und für andere programmatische Dinge. Und das hat sich ja in den letzten Jahren auch in vielen Diskussionen auch gezeigt. Ich fände es sehr gut und eigentlich für die deutsche Demokratie in dieser Situation für eine fast bisschen erlösende Geste, dass man diese Bundespräsidentenwahl aus der parteipolitischen Auseinandersetzung herausnimmt. Ich weiß nicht, ob Angela Merkel und die anderen, die jetzt Christian Wulff gewählt haben – und vielleicht auch Christian Wulff selbst –, ob es da noch eine Geste geben könnte, dass man zum Beispiel sagt, wir stellen die Abgeordneten von den parteipolitischen Zwängen und Empfehlungen frei. Wir haben hier zwei geeignete Kandidaten, und beide haben gute Chancen und unterschiedlich gut ausgeprägte Fähigkeiten, dieses Amt auszufüllen. Und wenn es Christian Wulff nicht werden sollte, ist er ja in der Politik eigentlich seines Landes also hinreichend beschäftigt.

    Heinlein: Bitte kurz zum Schluss, Herr Gauck, mit Blick auf die Uhr: Hat denn aus Ihrer Sicht, Sie kennen Joachim Gauck, hat er das notwendige dicke Fell für den Politikbetrieb, das ja Horst Köhler offensichtlich fehlt?

    Rathenow: Ich denke schon. Also das hat man sich in der Behörde schon angewöhnen müssen, dazu war die Arbeit in vielen Punkten dann auch zu unangenehm.

    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen der Schriftsteller und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Lutz Rathenow. Ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin!

    Rathenow: Ja, besten Dank!