Ensminger: Herr Ruttig, Sie haben den ersten Verhandlungstag erlebt. Wie ist denn die Stimmung unter den Delegierten?
Ruttig: Die Stimmung ist eigentlich ganz gut. Wir sind sehr erfreut darüber, dass die Delegationen relativ intensiv miteinander sprechen, sozusagen über die Grenzen ihrer Delegationen hinaus. Das ist recht gelöst, wenn es, wie Sie schon angesprochen haben, auch strittige Fragen gibt. Man gibt sich zumindest Mühe, dort nicht etwa gleich Missstimmung aufkommen zu lassen.
Ensminger: Sie haben es erwähnt, die Gespräche laufen auf allen Ebenen. Die Konferenz ging gestern Abend noch ein bisschen weiter. Eine Pressekonferenz gab es aber später dann nicht mehr. Wissen Sie denn etwas, was Sie auch sagen dürfen, was wir noch nicht wissen?
Ruttig: Das ist schwierig zu beantworten. Dass die Pressekonferenz gestern Abend ausgefallen ist liegt daran, dass man sich zwischen den Delegationen geeinigt hat, erst einmal bilateral oder multilateral zwischen den afghanischen Gruppen weiterzureden. Da ist es dann auch ganz schwierig, mit Ergebnissen aufzuwarten. Es war ja nun erst der erste Tag der Konferenz.
Ensminger: Also über den Zeitplan hinaus haben wir noch nichts neues, aber heute geht es ja weiter. Wir haben eben schon mal gesagt, die Stimmung ist relativ gut, wenn auch zum Teil zurückhaltend. "Wir dürsten nach Frieden" soll ein Teilnehmer gesagt haben. Ist das eben das, was auch antreibt, die Kriegsmüdigkeit?
Ruttig: Auf jeden Fall. Die afghanischen Delegationen sind sich bewusst, dass eine große Verantwortung auf ihnen lastet. Das ist eine relativ einmalige Situation, in der wir uns befinden, und möglicherweise sind die Chancen noch nie so groß gewesen wie zur Zeit und werden möglicherweise auch nie wieder so groß sein wie jetzt, den ja seit 23 Jahren schwelenden oder auch offen brennenden Konflikt in Afghanistan zu lösen. Vor allen Dingen sind diese Erwartungen natürlich im Lande selber sehr groß, wo sich die Menschen ja mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert sehen, von der humanitären Katastrophe über die Zerstörung der Infrastruktur des Landes bis hin auch zum Zerfall der staatlichen Institutionen, die wieder aufgebaut werden müssen.
Ensminger: Sieht man darin bei Ihnen auch eine Gefahr, dass jetzt eine Art Flucht nach vorne angetreten wird, damit es ganz schnell zu einer Lösung kommt, die dann hinterher aber vielleicht auch wieder kippen könnte?
Ruttig: Nein, das sehe ich so nicht. Es ist natürlich auf der einen Seite wichtig, jetzt relativ schnell politisch zu Ergebnissen zu kommen. Erst einmal geht es aber darum, einen ersten Schritt zu tun, hin zu einer interimistischen Lösung, die dann den ersten Schritt in einem längeren Friedensprozess darstellt, der von jetzt an gerechnet möglicherweise auf zwei, zweieinhalb Jahre zu rechnen ist.
Ensminger: Sie haben es angesprochen: die Situation in Afghanistan ist nach wie vor gespannt. Die Flüchtlingssituation ist desolat. Es gibt auch durch die Kämpfe bedingt immer noch große Spannungen und Unsicherheiten. Wenn Sie jetzt als Leiter des Büros der UNO-Sondermission in Afghanistan sagen müssten, was glauben Sie, wie schnell kann das installiert werden und wie sicher kann es dann vor Ort sein, auch mit Blick auf das, was in Masar-i-Scharif passiert ist, wie groß ist tatsächlich auch dann noch, wenn eine Übergangsregierung etabliert ist, die Gefahr, dass zum Beispiel wieder Unruhen aufkommen?
Ruttig: Das lässt sich natürlich nie ausschließen. Deswegen ist es nötig, dass auch schon diese erste Interimslösung bis hin dann zu einer ersten provisorischen Regierung, die ja dann nach einer nationalen Versammlung installiert werden soll, auf möglichst breiter Grundlage steht, dass so viel wie möglich politische, aber auch ethnische Gruppen einbezogen werden, dass niemand sich ausgeschlossen fühlt und dann möglicherweise wieder mit Gewalt gegen eine solche Lösung vorgeht.
Ensminger: Muss denn dafür, um das zu garantieren, auch eine Präsenz ausländischer Truppen in Afghanistan stationiert werden?
Ruttig: Soweit ich das sehe sind vor allen Dingen sehr, sehr viele Afghanen im Lande dafür. Sie haben damit überhaupt keine Probleme. Ob das dann eine UN-Truppe ist, die man gemeinhin als Blauhelme bezeichnet, das ist eine andere Frage. Das ist eine technische Lösung, die eher lange dauert, bis man sie auf die Beine gestellt hat. Wir als UN halten es für günstiger, eine multinationale Truppe möglicherweise aufzustellen, so wie wir es in Osttimor hatten, wo dann ein Land - Australien war das in diesem Fall - die Führung übernimmt und andere Länder sich anschließen. Das geht schneller und ist auch von den Kosten einfacher hinzubekommen.
Ensminger: Aber da gibt es ja Bedenken seitens mancher Delegationsmitglieder, aber auch in der Bevölkerung, und zwar vor allen Dingen darauf bezogen, dass es eben ausländische und nicht muslimische Truppen sind. Kann man da eventuell Entgegenkommen zeigen, oder muss man das?
Ruttig: Das sind ja nur Optionen, die ich eben angesprochen haben. Das ist hier in den Gesprächen auch noch nicht behandelt worden, so dass wir dazu momentan noch nicht genau Stellung nehmen können.
Ensminger: Kommen wir noch mal an den UNO-Plan. Die Delegationen vereinbarten zunächst, eine Übergangsverwaltung zu etablieren, die wiederum eine große Versammlung etablieren soll. Dann gab es eine Überraschung. Diese Versammlung soll möglicherweise noch vor dem afghanischen Neujahrsfest, also im Frühjahr des kommenden Jahres einberufen werden. Ist das nicht ein bisschen zu früh?
Ruttig: Zu früh ist es auf keinen Fall. Die Frage ist, ob man das so schnell organisieren kann. Wenn es jetzt relativ schnell zu einer Lösung, zu einer Vereinbarung zwischen den hier anwesenden vier Gruppen kommt, dann kann man natürlich anfangen, mit Volldampf das zu organisieren. Aber es ist natürlich keine leichte Aufgabe in dem zerstörten Land.
Ensminger: Und vielleicht ein wenig zu viel Demokratie?
Ruttig: Zu viel Demokratie kann es eigentlich nicht geben.
Ensminger: Für den Anfang vielleicht?
Ruttig: Auch wiederum aus Afghanistan zu berichten: viele Afghanen wünschen sich sehr stark eine demokratische Mitbestimmung. Sie wollen endlich eine Regierung wieder selber bestimmen. Ich erinnere mich an viele Stimmen von vielen Afghanen, die gesagt haben, als die Taliban über sie herrschten, wir kennen ja noch nicht mal unseres jetziges Staatsoberhaupt Mullah Mohammed Omar. Der hat sich nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Da ist der Druck ganz groß, selbst wieder das Sagen haben zu wollen.
Ensminger: Vielen Dank! So weit erst einmal Thomas Ruttig, Mitglied der UNO-Verhandlungsdelegation. Wir drücken die Daumen.
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