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"Die Stimmung ist leider in diesem Land momentan so"

Über die Hälfte der Deutschen steht dem Islam kritisch gegenüber, deutlich mehr, als in anderen europäischen Nachbarländern. Hatice Akyün, deutsch-türkische Autorin, bestätigt diese Einschätzung. Sie beschreibt, wie die Vorurteile "immer abstruser" werden.

Hatice Akyün im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Wir sind mal wieder schlimmer als alle anderen in puncto Toleranz, wir die Deutschen, im Gegensatz zu unseren europäischen Nachbarn beispielsweise. Das geht zumindest aus einer aktuellen Studie von Religionswissenschaftlern und Soziologen an der Universität Münster hervor. Demnach sind über die Hälfte der Deutschen dem Islam kritisch gegenüber eingestellt, schreiben dem Islam die Diskriminierung von Frauen, Gewaltbereitschaft und Fanatismus zu.

    Das alles aber in einem viel höheren Maße, als dies die Niederländer, die Dänen oder auch die Franzosen tun. Wer ist also bereit und gewillt zu integrieren? Über welche Seite sprechen wir, über die Deutschen oder über die Ausländer, über die Migranten? – Darüber wollen wir nun sprechen mit der deutsch-türkischen Schriftstellerin Hatice Akyün. Guten Morgen!

    Hatice Akyün: Schönen guten Morgen!

    Müller: Sind wir Deutschen denn wirklich so schlimm?

    Akyün: Nun ja, das ist natürlich so eine gefühlte Stimmung. Momentan habe ich wirklich den Eindruck, dass es wirklich so ist. Es gab Jahre in Deutschland – ich lebe mein ganzes Leben lang schon hier -, da hatte ich diesen Eindruck überhaupt nicht. Also, es ist natürlich immer so eine Fluktuation, wenn jetzt mal wieder so bestimmte Themen in den Zeitungen sind. Dann werden natürlich auch viele Studien dann erhoben und irgendwie ist es so eine gefühlte Stimmung. Und die kriege ich natürlich auch mit, weil die Medien natürlich auch wieder viel, viel häufiger darüber berichten. Und wenn jetzt diese Studie, die das jetzt gerade belegt, rauskommt, bin ich dann doch etwas erschrocken und möchte das eigentlich gar nicht wahr haben. Aber ja, die Stimmung ist leider in diesem Land momentan so.

    Müller: Die gefühlte Stimmung, Frau Akyün, das ist ja die entscheidende Stimmung für den Einzelnen, für das Individuum. Das hat sich auch aus Ihrer Sicht, um da noch mal nachzufragen, definitiv verändert in den vergangenen Jahren?

    Akyün: Ganz bestimmt. Ich merke es alleine schon in meinem Leben. Schauen Sie, ich bin hier geboren, ich bin hier aufgewachsen, ich habe eigentlich mit der Türkei so wenig zu tun, wie andere deutsche Freunde oder deutsche Kollegen auch. Das ist ein Land, meine Eltern kommen daher, und trotzdem bin ich tagtäglich mit den Vorurteilen konfrontiert und muss mich tagtäglich, ob es nun zum EU-Beitritt der Türkei, zum Islam, zu allen Themen irgendwie rechtfertigen. Früher war noch ein Interesse da, dann hieß es, Frau Akyün, erzählen sie doch mal, wie ist das eigentlich. Heute ist es so, ja, aber ihr Türken. Und was mir natürlich auffällt in der Debatte momentan ist: Früher waren wir die Ausländerkinder, irgendwann war ich ein Arbeiterkind, dann waren wir die Migranten und momentan ist es wieder ganz salonfähig, über Ausländer zu sprechen.

    Das finde ich eigentlich ziemlich unverschämt, weil ich bin keine Ausländerin, ich bin Deutsche wie jeder andere auch, ich spreche die Sprache, ich bin hier integriert und vor allen Dingen ich bin hier in Lohn und Brot und zahle hier meine Steuern. Und warum wird mir jetzt wieder dieser Stempel "Ausländer" draufgesetzt. Das ist ja so normal geworden, Sie haben es ja gerade auch gesagt: Ausländer, Migranten, es wird wieder alles in einen Topf geschmissen.

    Müller: Aber sind Sie Deutsche?

    Akyün: Natürlich bin ich Deutsche. Ich bin schon länger Deutsche übrigens als Angela Merkel, weil ich den deutschen Pass schon viel, viel länger habe. Ich bin hier aufgewachsen und ich fühle mich auch als Teil dieses Landes. Das Problem ist aber nur: Viele Leute möchten das gar nicht wahr haben. Es gibt natürlich Menschen, die sagen, na ja, aber du siehst ja nicht deutsch aus. Und das ist eben das Problem hier in Deutschland, dass man, wenn man dunkle Haare hat, dunkle Augen hat, eben nicht dazugehört. Darüber sprachen Sie ja auch, dieses dazugehören, dieses Gefühl vermittelt zu bekommen, ja, wir wollen euch auch integrieren.

    Auf jeden Fall: Integration ist auch eine Bringschuld. Ich war auch immer die, die am lautesten gerufen hat, Migranten, ihr müsst was tun für euer Leben, ihr habt hier die Chancen, ihr könnt die Chancen nutzen, eure Kinder auch der Bildung näherbringen, aber es muss auch von der anderen Seite eine Offenheit da sein.

    Müller: Frau Akyün, jetzt sei das mal dahingestellt, ob Sie wirklich den Pass länger haben als Angela Merkel. Das wollen wir nicht weiter vertiefen. Aber wenn wir noch einmal auf dieses gewandelte Bild zurückkommen: Sie sagen, Sie fühlen das seit ein paar Jahren, vielleicht seit ein paar Monaten auch anders. Wir haben einerseits den 11. September gehabt als Einschnitt irgendwo, als Zäsur weltweit, zumindest in der westlichen Welt. Jetzt speziell Deutschland, Thilo Sarrazin. Spüren Sie auch davon was?

    Akyün: Tagtäglich leider Gottes und es wird immer abstruser. Es wird immer komischer die Stimmung. Ich bin Schriftstellerin, ich habe Bücher geschrieben, ich bin auf Lesereisen und bisher war ich es immer gewöhnt, über Integration zu sprechen, über die kleinen türkischen prügelnden Jungs in U-Bahnen, über alle möglichen Themen. Und letztens hat mich tatsächlich eine Frau – die ist aufgestanden – gefragt, Frau Akyün, wie stehen Sie denn eigentlich zur weiblichen Beschneidung. Dann schaute ich sie an und sagte, wie kommen sie denn jetzt darauf. Und dann sagte sie, aber das ist doch ein muslimisches Problem. Da habe ich gesagt, nein, das ist ein afrikanisch traditionelles, von mir aus auch was weiß ich für ein Problem, aber in der Türkei gibt es das nicht. Also wir haben wirklich viele Probleme in der Türkei, was heißt wir, aber die Türkei hat viele Probleme, an denen sie arbeiten muss, aber sicherlich nicht die weibliche Beschneidung.

    – Da sehen Sie, wie die Vorurteile immer mehr werden, immer wachsen, immer wachsen und irgendwann so abstrus werden, dass man dann wirklich nur noch da steht und staunen kann, was die Leute oder was in den Köpfen dieser Leute vorgeht.

    Was mich sehr, sehr beängstigt ist: Es werden irgendwelche Dinge behauptet, es wird eine Stimmung erzeugt, natürlich auch durch die Sarrazin-Debatte. Und auf der anderen Seite werden dann Gegenbeispiele genannt, es wird sogar durch Studien belegt, dass das eigentlich alles gar nicht stimmt, dass die meisten der türkischen Migranten jetzt integriert sind, aber da hört keiner mehr hin. Die Leute wollen immer nur das hören, was sie hören möchten. Was ich sehr, sehr schlimm finde und sehr beängstigend finde, ist, dass Leute wie ich, die wirklich ihr ganzes Leben lang hier gelebt haben, die sich als Deutsche fühlen, wenn die sich sogar zurückgewiesen fühlen, wenn die sich beleidigt fühlen durch diese ganze Debatte. Wie fühlen sich dann die "normalen" Leute, die normalen Leute, die jetzt vielleicht nicht so sehr in der deutschen Gesellschaft sind. Und wenn ich sogar schon mit dem Auswanderungsgedanken spiele und jetzt nicht nur einmalig oder zweimalig, sondern wirklich konkret darüber nachdenke, ob ich das meinen Kindern hier antun möchte, diese Stimmung, dann möchte ich nicht wissen, wie die anderen, wie meine Eltern zum Beispiel, die erste Generation, darüber denken. Die ja auch ein Teil zum Wohlstand in diesem Land beigetragen haben. Und ich kenne sehr viele Türkischstämmige in meinem Umfeld, die hier geboren sind, die hier studiert haben, übrigens von deutschen Steuergeldern, und die ihr Studium abgeschlossen haben, worauf die deutsche Wirtschaft auch wirklich zurückgreifen sollte. Und die dann sagen, nein, ich habe einfach Probleme, eine Wohnung hier zu finden aufgrund meines türkischen Namens, ich habe Probleme, einen Job hier zu finden. Und ich werde jetzt in das Land meiner Eltern zurückgehen. Da gibt es wirklich mittlerweile Hunderte, die das gemacht haben und die jetzt sozusagen aufgrund dieser Stimmung, von der wir gerade gesprochen haben, das tun.

    Müller: Frau Akyün, jetzt schildern Sie das so, dass mir die Fragen entfallen beziehungsweise ich gar keine Frage mehr gestellt habe. Jetzt haben wir auch nicht mehr viel Zeit. Aber auf einen Punkt wollte ich noch mal kommen. Sie sagen, es gibt verschiedene Studien. Die einen sagen sogar, immer mehr Türken sind tatsächlich integriert. Ist das denn so aus Ihrer Beobachtung?

    Akyün: Wenn Sie mich direkt aus meiner Beobachtung fragen, auf jeden Fall. Das kann ich sogar mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Die Frage ist doch, was bedeutet für Sie Integration, was bedeutet für mich Integration. Ist für Sie eine Frau, die Kopftuch trägt, integriert oder nicht? In meinem Fall schon. Wenn sie die deutsche Sprache beherrscht, wenn sie hier dafür sorgt, dass ihre Kinder in die Schule gehen, hier eine Bildung bekommen und am aktiven Leben teilnehmen, dann ist die für mich integriert. Aber es gibt Leute da draußen, die sagen, nein, sie trägt ein Kopftuch und für mich ist die nicht integriert. Und wir müssen, glaube ich, erst mal klären den Begriff Integration. Der ist nämlich so schwammig, dass man ihn gar nicht greifen kann.
    Schauen Sie, der Gemüseverkäufer, der hat einen kleinen Laden in Kreuzberg, spricht vielleicht nicht so gut Deutsch, hat aber 15 Angestellte, zahlt Steuern. Ist der integriert oder nicht? In meinen Augen ist er integriert.

    Müller: Frau Akyün, genau diese Frage müssen wir beim nächsten Mal diskutieren und weiter vertiefen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch. Bei uns im Deutschlandfunk die deutsch-türkische Schriftstellerin Hatice Akyün. Vielen Dank!

    Akyün: Danke schön.