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Die Theater in ihrer Pracht erhalten

Mit moderner Bühnentechnik will Ansgar Haag, Intendant des südthüringischen Staatstheaters Meiningen besonders die jüngere Generation in sein Theater holen. Für ihn ist "das tatsächliche Erlebnis auf der Bühne" die eigentliche Kunst und die Pracht des Theaterbaus genauso wichtig wie die Institution selbst.

Ansgar Haag im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.12.2011
    Christoph Heinemann: Johannes Brahms, der Beginn seiner Vierten Symphonie. Der Komponist dirigierte 1885 die Uraufführung dieses Werks in Meiningen, einem kulturellen Leuchtturm im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Hans von Bülow hat hier dirigiert, Richard Strauss, Fritz Steinbach, Max Reger, sie alle zog es nach Meiningen. Diese Geschichte und Tradition und selbstverständlich auch die des Schauspiels schwingt mit, wenn sich heute Abend die Türen wieder öffnen – nach zwei Jahren des Umbaus. – Am Telefon ist jetzt Ansgar Haag, der Intendant des südthüringischen Staatstheaters in Meiningen. Guten Morgen!

    Ansgar Haag: Guten Morgen.

    Heinemann: Herr Haag, eröffnet wird das Haus heute mit William Shakespeares Schauspiel "Maß für Maß". Inwiefern passt dieses Werk zum Ereignis?

    Haag: Man muss das so verstehen: Meiningen ist ja eine Traditionsstadt, und die Tradition beruht auf diesem großen Georg Zwei Und dieser Georg Zwei mit seiner Meiniger Theatertruppe war ja entscheidend an der Shakespeare-Renaissance beteiligt. Goethe, Schiller, Weimar hat eigentlich Shakespeare nicht mehr gespielt, bis diese neue Naturalismus-Ästhetik mit Prospekten und Statistenheeren und politischen Kämpfen kam. Und als er dann zum Beispiel den Julius Cäsar europaweit gespielt hat, war plötzlich Shakespeare bekannt. Max Reinhardt, der hier war, die jungen Schauspieler, Adele Sandrock, Bassermann gingen nach Berlin und dann kam sein "Sommernachtstraum" von Max Reinhardt in Berlin, und plötzlich war Shakespeare der Autor des 20. Jahrhunderts. Dann wollen wir daran erinnern, und zum anderen ist ja die Eröffnung nicht nur das Schauspiel, sondern eben auch Richard Wagner, der ja hier eng befreundet war mit dem Herzog und der ja auch "Parsifal" sogar hier aufführen wollte, bis der Herzog sagte, hier inszeniere ich und mache die Bühnenbilder. Dann ging es dann doch nicht.

    Heinemann: Jetzt haben wir in einer Antwort schon ungefähr 200 Jahre Kulturgeschichte zusammengefasst. – Bevor wir zu Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen kommen – das war der Georg Zwei, von dem Sie gesprochen haben -, kurz noch mal zu "Maß für Maß". Es geht um Macht, es geht um Interessenskonflikte und um Bunga-Bunga, also im Grunde sehr zeitgemäß.

    Haag: Ich würde sagen, ja. Wenn man heute sieht, dass zehn Prozent der Ärmeren achtmal so wenig verdienen als zehn Prozent der Besserverdienenden, wenn man dann sagt, da gibt es noch Hartz IV und es gibt noch Milliardäre, dann fragt man sich natürlich, ob Deutschland das Grundgesetz noch mit gleichem Maß vor jedem Bürger hat. Also das Auseinanderdriften gefährdet unsere Demokratie, und eine Idee zu haben, die nach gerechten Gesetzen für alle ist, das ist, glaube ich, sehr aktuell. Und diese Hauptrolle in diesem Stück ist ja der sogenannte Stellvertreter, was wir ja heute ganz modern haben, denn unsere Parlamentarier sind ja Deputies, also Stellvertreter für den Souverän des Volkes. Und wenn der Stellvertreter mit Doppelmoral regiert, dann passieren eben Probleme, und die Doppelmoral hat man ja hier in vielfältigem. Wenn Menschen sagen, Euro, könnte man den nicht zweigeteilt sehen, lassen wir doch Griechenland weg, dann gilt nicht mehr "Maß für Maß" für jeden Europäer. Oder wenn wir zum einen hinschauen, dass der Terrorismus Islam ist und links ist das schlimmste, und zehn Jahre schaut man nicht, dass der Rechtsterrorismus gerade auch in dieser Region hier ganz extrem ist, dann ist Doppelmoral im Spiel.

    Heinemann: Sie sind der Meister der Aktualisierung historischer Stoffe, das hört man gleich heraus. Sie haben jetzt schon die gesamte Politik abgegrast. – Gehen wir noch mal in die Geschichte. Es gab viel kunstsinnige Fürsten in Europa und in Deutschland. Der Herzog Georg von Sachsen-Meiningen hat persönlich im Schauspiel Regie geführt, und zwar sehr erfolgreich. Sie haben das eben gesagt. Inwiefern hat Meiningen Theatergeschichte geschrieben?

    Haag: Es hat Theatergeschichte geschrieben, indem man sagt, das Regietheater wurde hier erfunden und dann wirklich institutionalisiert.

    Heinemann: … und das müssen Sie kurz erklären, Regietheater.

    Haag: Regietheater heißt, dass nicht wie bei Schiller und Goethe der Autor sein Stück mit Schauspielern einstudiert. Mozart komponiert und dirigiert die Eröffnung selber. Lessing schreibt ein Stück und studiert es mit Schauspielern ein. Es gibt den Autor und den Schauspieler, den Komponist und den Sänger. Und jetzt gibt es zum ersten Mal einen Sekundärkünstler: den Bühnenbildner, den Regisseur, der als dritter da ist, der nicht der Autor ist und der nicht der primäre Schauspieler ist, sondern der ist Sekundärkunst. Und das war so neu, dass der schon erwähnte Max Reinhardt sofort von der Schauspielkunst dann Regisseur werden wollte. Danach hat sich dies in kürzester Zeit durchgesetzt, dass es den Sekundärkünstler als Regisseur zwischen Autor und Täter, Sänger, Schauspieler gab, und das war bahnbrechend und prägt eigentlich das Regieverständnis heute auf allen Bühnen Europas. Und wenn wir jetzt so weit gehen, dass das Wort Regietheater sogar schon zum Schimpfwort wird, wie wir vor einiger Zeit ja bei der Rede in Salzburg erleben durften, …

    Heinemann: Welche Rede?

    Haag: Ja von Herrn Kehlmann, der gesagt hat, die jungen Regisseure, das Regietheater vertreibt das Publikum. - Dann sage ich, jetzt wird es gefährlich. Das Wichtigste unserer Errungenschaft ist der denkende Regisseur, jetzt wird er zum Schimpfwort. Meiningen war eben der Ursprung von dieser Idee, und darauf baut sich eine große Tradition jetzt auf.

    Heinemann: Noch mal zur Salzburger Rede. Das war der Schriftsteller Daniel Kehlmann, der das gesagt hat.

    Haag: Ja, Daniel Kehlmann.

    Heinemann: Ganz wichtig für den Herzog war die Ensemble-Leistung. (Das gilt übrigens auch für Radioprogramme: klappt nur, wenn Redakteure und Techniker so gut zusammenarbeiten wie zum Beispiel bei uns.) Inwiefern war das damals etwas Neues?

    Haag: Was hier so besonders war ist, dass hier eine ganz junge Truppe über lange Zeit zusammen blieb und nicht, wie es im großen Theater war. Da war Herr Keintz der große Star und der reichste und dann wurden welche dazuengagiert. Es wurde hier zur Tugend gemacht. Es gab diese Idee der Schauspielertruppen. Shakespeare selber war ja auch so einer. Das gab es, aber hier hat der Herzog die Verbindung mit einem festen Haus, mit einem festen Regisseur, der Chronegk, der die ganzen Jahre quasi Intendant des Theaters war und Organisator der Reisen. Das war, heute würde man sagen, so das richtige etablierte institutionalisierte Reise- und Standorttheater, das war neu. Und die Truppe – das waren immerhin 38 Schauspieler, die hier wohnten und spielten und dann auch durch ganz Europa reisten -, das war schon was Ungewöhnliches.

    Heinemann: Wir sprechen mit Ansgar Haag, dem Intendanten des südthüringischen Staatstheaters in Meiningen. – 2001 brachte Ihr Haus den "Ring des Nibelungen" in Christine Mielitz's Inszenierung auf die Bühne, und zwar erstmals wie von Wagner geplant an vier aufeinander folgenden Tagen gespielt. Ist das die Chance der kleinen Häuser, der Theater, die nicht mitten in einer Großstadt stehen, im wahrsten Sinne des Wortes spektakuläre Aufführungen?

    Haag: Das ist auf jeden Fall die Chance. Aber das Besondere an diesem Leistungsprojekt war natürlich vier Tage in einer Tourismusregion. Meiningen ist ja ähnlich wie, sagen wir mal, Salzburg in einer Wintersportgegend, im Sommer ist es Wandern am Rennsteig und im Werratal, und die Touristen kommen ein paar Tage her und wollen nicht, wie vielleicht in der Hochkultur in Bayreuth, gerne einen freien Tag dazwischen. Dann kommen die, sehen Theater und nutzen die Kultur. Das hilft sehr viel. So haben wir vor einigen Jahren mit großem Erfolg Faust I und II immer hintereinander gespielt, und das hat natürlich Interesse auf die Region gebracht. Das ist eine gewisse Leistungsschau, ist eine Anforderung für ein Haus, aber es gibt auch einen Grund, vom Überregionalen überhaupt hier herzufahren, denn es gibt in Thüringen total viel schöne Burgen und alles. Aber wenn es dann immer nur einen kulturellen Event gibt, dann fährt man vielleicht doch nur weiter.

    Heinemann: Also auf nach Thüringen! – Herr Haag, früher gingen die Leute ins Theater, weil es andere Formen der Unterhaltung so nicht gab. Heute gehen sie noch oder einige gehen noch. Wie begeistert man heute junge Leute fürs Schauspiel und für die Oper – ein Blick nach vorne?

    Haag: Es gibt natürlich viele Wege. Einer davon – jetzt picke ich einen Nebenweg heraus, weil viele fragen, warum ist diese moderne Bühnentechnik mit vier Hubpodien, zwei Drehscheiben, computergesteuertem Schnürboden, überhaupt so wichtig. Ich glaube, gerade für die junge Generation, die die politischen Themen genauso sehen wollen wie die alten, aber sie haben durch Filmschnitt, sie haben durch den Umgang mit Internet, Facebook und die ganzen Plattformen, ein so schnelles Denken und Sehen, dass das herkömmliche freie Bühnentheater sie eher abschreckt. Und mit dieser neuen Technik und dem Einsatz von Videotechnik jetzt eben auch hier in Meiningen kann man die Bildwelt junger Generationen natürlich treffen. Der entscheidende Schritt muss natürlich bleiben, dass wir den Mut haben und auch die Energie finden, Stücke und Themen aufzugreifen, die die junge Generation betreffen.

    Heinemann: Sie sprachen von der Bilderwelt. Die Bildschirme werden immer größer und immer besser. Wird man Theater und Oper eines Tages überwiegend online genießen?

    Haag: Ich bin da natürlich traurig, wenn das so wäre. Ich bin auch ein großer Skeptiker über diese Werbegeld-Propagandamaschine der Metropolitan Opera, wo jetzt alle hinrennen und meinen, das ist toller. Damit werden unsere Theater noch nicht zerstört, aber …

    Heinemann: Was machen die in New York? Entschuldigung!

    Haag: Die übertragen doch die New Yorker Oper jetzt in der ganzen Welt als Live-Opern in allen Kinos. Und dies ist selbst hier in Thüringen, wo es so viele Theater gibt, erfolgreich. Wenn die Metropolitan-Übertragungen sind, sind die Kinos voll. Diese Idee, das Medium könnte das Live-Erlebnis ersetzen, da war ich früher der Meinung, das wird nie funktionieren, jetzt funktioniert es ein bisschen, finde ich schade. Aber es wäre nicht das, was wir eigentlich wollen: das tatsächliche Erlebnis auf der Bühne. Kunst findet nur in dem Moment statt, wann ein lebendiger Künstler vor einem vollen Theatersaal sitzt, nicht über die Mediendokumentation. Da, glaube ich, muss man für kämpfen.
    Aber umgekehrt: das wird auch eine Generation wieder treffen. Denn die Weihnachtsmärchen, sagen wir mal, sagen uns die Kinder, sind so was von begeistert, obwohl sie so viele Unterhaltungsindustrie gerade im Kindesalter haben, dass manche sagen, die wollen doch gar nichts mehr. Das Live-Erlebnis auf der Bühne, das ist nach wie vor ein Weihnachtsgeschenk für alle kleineren Kinder, und das müsste man mit dem Wachsen der jungen Generation halten.

    Es ist schwierig, aber ich glaube, auf diesen Schwerpunkt sollte das Theater setzen, auf das gesellschaftliche Ereignis. Wenn man sagt, wieso müssen die Theater so teuer mit Gold und Prunk restauriert werden, wie Barockkirchen in Bayern – das sieht ja jetzt richtig gewaltig, klassisch aus -, dann sage ich, ja, es ist nicht nur der Denkmalschutz, weil es eben das Museum so verlangt, sondern weil der Bürger vielleicht das Gefühl der freudigen Erhebung in seinem tollen Raum haben will, und dann kommt auch die junge Generation mit schönen Kleidern ins Theater und freut sich. Ich denke, so ein bisschen kann man ein kulturelles Leben erhalten, wenn man die Theater in seiner Pracht auch erhält und nicht nur in seiner Institution.

    Heinemann: Ansgar Haag, der Intendant des südthüringischen Staatstheaters in Meiningen, das umgebaut wurde und heute eröffnet wird. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Haag: Herzlichen Dank.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.