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Die totale Gegenwart in der globalen Medienwelt

Die Bilder- und Informationsflut über die Protestbewegungen in aller Welt hat deutlich gemacht, dass die herkömmlichen Nachrichtenmedien allmählich ihre Exklusivität verlieren. Alles, was geschieht, scheint im Netz sofort verfügbar.

Von Ulrich Baron |
    Noch nie schien uns die ganze Welt so nah, so gegenwärtig wie heute. Ihre rasant zunehmende Vernetzung hat die Grenzen zwischen den traditionellen Nachrichtenmedien und der privaten Kommunikation durchlässig gemacht. Alles, was geschieht, scheint uns frei und in Echtzeit verfügbar. Top-News werden zu Twitter-Botschaften und Twitter-Botschaften werden zu Top-News. Handy-Kameras ersetzen die Fernsehteams und Korrespondenten vor Ort, und während in traditionellen Medien der Platz und die Sendezeiten knapp sind, verfügt das Internet über quasi unbegrenzten Raum und hat kein festes Programmschema, das die Akkumulation von Bildern und Meinungen einschränken würde.

    Während der Affäre um Verteidigungsminister zu Guttenberg entwickelte sich die Enthüllungsplattform "Guttenplag.de" zum Work in Progress, auf dem man die wachsende Zahl der ihm in seiner Doktorarbeit nachgewiesenen Plagiate kontinuierlich verfolgen konnte. Damit erschien diese Internetseite aktueller und dichter am Thema als selbst die Laufbänder auf den Seiten der Fernsehnachrichten. Immer mehr aktuelle Berichte erscheinen so nicht mehr zunächst gedruckt auf einer Zeitungsseite und werden auch nicht mehr von einem seriösen Herrn mit Schlips und Brille verlesen, sondern erreichen uns quasi im Rohzustand:

    Hatte das große Erdbeben, das Japan im Jahre 1923 verheerte und weit über 100.000 Menschenleben forderte, noch weitgehend jenseits des europäischen Wahrnehmungshorizontes stattgefunden, so wurde dessen Nachfolger am 11. März 2011 per Fernsehen und Internet quasi live übertragen. Vor den Monitor gebannt, konnte man Videos über die Verwandlung ganzer Küstenregionen in Trümmerlandschaften verfolgen, aus denen, seltsam deplatziert, die Wracks gestrandeter Schiffe ragten.

    Oft mit Handys aufgenommen, fehlte diesen Bildern die professionelle Gestaltung, und von den Stimmen, die bisweilen zu hören waren, konnten Nicht-Japaner allenfalls den Tonfall verstehen. Es war der Tonfall fassungsloser Überraschung angesichts des Meeres, dass hier nicht als Welle, sondern als unaufhörlich steigende Flut über das Land strömte, Dämme, Brücken und Straßen überwand, Boote losriss, Autos aus der Bahn warf und mit sich fortspülte. Wo solche Fahrzeuge vom Tsunami erfasst wurden, endete alle zielgerichtete Bewegung, und mit ihnen wurden auch ihre Insassen zum Teil eines immer dichter werdenden Mahlstroms aus Trümmern und Treibgut, auf dem seltsamerweise brennende Häuser trieben, bis sie und mit ihnen wohl auch ihre Bewohner zermahlen und verschluckt wurden. Das Wasser schien sich mit einer enormen Schuppenhaut überzogen zu haben, sodass man in den Weiten des Pazifischen Ozeans noch heute auf Geisterschiffe stoßen soll - und auf Inseln aus Trümmern und Müll, die einstmals Stadtviertel und Dörfer waren.

    Das Wasser war hier ein physisches Medium gewesen, das die verheerende Energie der Erdstöße vom Meeresgrund aufs Land übertrug, doch weil es sehr viel langsamer floss als sich die Stoßwellen im festen Grund fortbewegten, schien es die Katastrophe in einer nicht enden wollenden Zeitlupe zu verbreiten, die zeigte, wie die Front der Zerstörung sich durch Buchten und Flüsse immer weiter ins Binnenland ergoss. Kameras nahmen diese Schockwelle auf, sodass sie sich auch durch das World Wide Web fortpflanzte. Einmal in den Bann dieser Bilder geraten, fiel es schwer sich von ihnen loszureißen, und weil bei einem Unglück solchen Ausmaßes, das Häuser und Schiffe wie Spielzeuge erscheinen ließ, von Menschen kaum etwas zu sehen war, fühlte sich der einsame Surfer vor dem Bildschirm manchmal so, als sei er der letzte, der einzige Zeuge der Katastrophe.

    Fast ein Jahrzehnt nachdem man die Zwillingstürme des World Trade Center in sich zusammensinken gesehen hatte, sah man sich mit einer weiteren Katastrophe konfrontiert, die man aus allen Perspektiven verfolgen konnte, nein musste, um mit dem Verstand zu erfassen, was man da mit eigenen Augen sah. Der Ablauf dieser Katastrophe schien hier komplett und minutiös miterlebbar, und angesichts der Omnipräsenz, angesichts der totalen Gegenwart dieses welterschütternden Ereignisses, verblasste die Welt vor den Fenstern gegenüber der auf den Bildschirmen.

    Totale Gegenwart, das ist für den Betrachter nicht mehr Nachricht im traditionellen Sinne, die noch das Präfix "nach" vor sich herträgt. Es ist die mediale Vollendung der Globalisierung, die scheinbare Gleichschaltung aller Monitore, Zuschauer und "sozialen Netzwerke" in Echtzeit. Aktuelles und Archiviertes ist dank Hyperlinks nur einen Klick weit voneinander entfernt. Was sich da in Bild und Ton verbreitet, scheint die ganze Welt in den Bann eines einzigen Ereignisses zu ziehen, das einem aus immer neuen Perspektiven vielfach wiederholt vor Augen geführt wird.

    Unreflektiert eilen Eindrücke dem Begreifen voraus. Bilder zeigen, was sich noch nicht hat in Worte fassen lassen, was den Betrachter vor Ort und auch den vor dem Monitor schlichtweg sprachlos macht. Aber das, zu dem einem Handybesitzer noch die Worte fehlen, kann er der ganzen Welt zeigen. Dieses Zeigen überwindet alle Sprachbarrieren zwischen Europa, dem Nahen und dem Fernen Osten. Es zeigt uns einstürzende Häuser, Flutwellen, explodierende Reaktorgebäude, Volksaufstände, blutüberströmte, todgeweihte Diktatoren, scheiternde Politikerkarrieren, Möchtegern-Superstars, Fußballweltmeister, gehätschelte Eisbärenbabies und den Frühlingsbeginn.

    Aber dieses Zeigen ist ein Rückfall in die Urzeit, als die Menschen noch nicht gelernt hatten, die Welt zur Sprache zu bringen und nur auf sie deuten konnten, ohne sie deuten zu können. Man fasst es einfach nicht, lautet der quälende Gedanke angesichts rapide anschwellender Fluten welterschütternder, anrührender Bilder. So muss man sie immer wieder anschauen und bekommt sie immer wieder vorgeführt. Krieg wird vom Stahlgewitter zum Stahlgetwitter. Jüngste Vergangenheit und nahe Zukunft werden von einer totalen Gegenwart aufgesogen. Die Zeit wird zu Endlosschleifen verwunden, in der immer wieder Flugzeuge in Hochhäuser und Fluten durch Hafenstädte rasen.

    Ein Jahr nach dem Erdbeben von Japan folgten nüchterne Zahlen. Um kaum ein Prozent sei die Wirtschaftsleistung des Landes geschrumpft. Etwa 19.000 Tote seien zu beklagen – nur ein Bruchteil jener Hunderttausenden von Opfern, die das Beben von 1923, der Tsunami von 2004 und das Erdbeben von Haiti im Jahre 2010 gefordert haben. Doch je näher uns eine Katastrophe gebracht wird, desto eher verlieren wir den Überblick über Dimensionen und Relationen.

    So schossen auch die Schätzungen der Opfer in den einstürzenden New Yorker Zwillingstürmen weit über die schreckliche Wirklichkeit hinaus. Medial provoziertes Mitleiden ist offenbar ein schlechter Ratgeber. Der Eindruck, eine Katastrophe sprenge jedes Maß, lähmt die Entscheidungskraft. Der Anschlag auf das World Trade Center war deshalb nicht nur ein gezielter Stich in einen Nervenknoten der Weltwirtschaft, sondern auch ein perfekt inszenierter Angriff auf unsere Aufmerksamkeit. Um Worte ringend starrte die Medien- und Informationsgesellschaft auf die Wunde, die man ihr zugefügt hatte und vervielfachte damit die unmittelbare Wirkung.

    Keine noch so verheerende Explosion hätte die Betrachter so zu bannen vermocht wie das langsame Zusammensinken der beiden Wolkenkratzer, das nach endlosen Minuten auf die Feuereruptionen folgte, mit denen die beiden Flugzeuge deren Glasfronten durchschlagen hatten. Erst später wurde bekannt, wie viele Menschen sich aus jenem flammenden Inferno noch hatten retten können und wie viele sogar noch hineingerannt waren, um andere zu retten. Das Bild aber, das sich den Zuschauern bot und das sich ihnen weltweit eingebrannt hat, ist das eines endlos dauernden Augenblicks der Lähmung, der Hilflosigkeit und der Schwäche, die schließlich in jenem Dahinsinken kulminierte. Man darf der perfiden Intelligenz, die hinter diesem Anschlag stand, zutrauen, dass sie einkalkuliert hat, wie die Medien diese Schockwelle noch verstärken, vervielfachen und weltweit verbreiten würden. Die Übertragungszeit solcher Nachrichten ist inzwischen kaum mehr wahrnehmbar, und damit schwindet auch die Exklusivität der professionellen Korrespondentenberichte.

    Nach dem Erdbeben von Lissabon am 1. November 1755 hatte es noch Wochen gedauert, bis die Nachricht davon sich in den europäischen Metropolen verbreitet hatte, doch der plötzliche Tod Zehntausender unschuldiger Menschen prägte den Diskurs über die göttliche Gerechtigkeit und die angeblich "Beste aller Welten" noch über Jahrzehnte hin. Selbst ein knappes Jahrhundert später dauerte es noch mehrere Monate, bevor politische Anweisungen aus London den britischen Gesandten an der Hohen Pforte erreichten. Der Krieg, konkret der 1853 begonnene Krimkrieg, war dann auch hier Vater aller Dinge. Der Historiker Orlando Figes schreibt in seinem Buch Heiliger Krieg:

    "Die Erfindung des Dampfschiffs und des Telegrafen versetzte Zeitungen in die Lage, ihre eigenen Reporter in Krisengebiete zu schicken und deren Artikel innerhalb von Tagen zu drucken. Informationen wurden während des Krimkriegs immer rascher weiter gegeben, da man etappenweise ein Telegrafennetz aufbaute, um die Schlachtzone mit den europäischen Hauptstädten zu verbinden. Zu Beginn des Krim-Feldzuges gelangten die raschesten Meldungen innerhalb von fünf Tagen nach London: zwei Tage mit dem Dampfer von Balaklawa nach Warna und drei mit einem Reiter nach Bukarest, der nächstgelegen Telegrafenstation."

    Der Krieg beschleunigte, was in anderen Teilen der Welt noch Jahrzehnte, ja oft mehr als ein Jahrhundert dauern sollte: Den Anschluss an das wachsende Netz der Fernkommunikation. Keine zwei Jahre nach Beginn des Krimkriegs waren Kabel zwischen Balaklawa, Warna und Bukarest verlegt worden, und die Übertragungsdauer war auf wenige Stunden gesunken. Doch die wichtigste Arbeit wurde von Menschen geleistet, von professionellen Beobachtern, die ihre Berichte schrieben, und von Telegrafisten an den Morsetasten, die sie per Kabel in die Welt hinaus schickten.

    Telegramme waren teuer und die Tage, Wochen oder gar Monate dauernden Recherchen und Lichtbildaufnahmen vor Ort waren noch teurer. Entsprechend kompetent, professionell, sorgfältig ging man mit ihnen um. Die großen Zeitungen, die Presseagenturen und später die Illustrierten konnten sich solchen Aufwand leisten, weil Korrespondentenberichte und Bilder von aktuellen Brennpunkten noch rare Güter waren, die messbare Auflagensteigerungen garantierten und so über den Erfolg auf dem Markt mitentschieden.

    Mit der Fotografie aber hielt auch der Zufall Einzug in die Medienwelt - in Gestalt des Schnappschusses. Man könnte ihn als ein Augenzwinkern der Geschichte verstehen, die damit wichtige Momente akzentuiert, aber Fotos lassen sich manipulieren, und so wurde mancher historische Augenblick retuschiert – oder von vornherein inszeniert. In Zeiten computergestützter Bildbearbeitung sollte man deshalb nicht vergessen, was der tschechische Schriftsteller Milan Kundera in seinem Roman Das Buch vom Lachen und vom Vergessen beschrieben hat. Im Februar 1948 habe der kommunistische Führer Klement Gottwald vom Balkon eines Prager Barockpalastes zu Hunderttausenden Bürgern gesprochen, die den Altstädter Ring überschwemmt hatten. Der Redner wurde von seinen Genossen begleitet, und weil es ein kalter Tag und Gottwald barhäuptig gewesen sei, habe der fürsorgliche Außenminister Clementis seine eigene Pelzmütze abgenommen und sie ihm aufgesetzt:

    "Später verbreitete die Propagandaabteilung in Hunderttausenden von Exemplaren eine Aufnahme dieses Balkons mit Gottwald, während er, die Pelzmütze auf dem Kopf und die Genossen zur Seite, seine Rede an die Nation hält."

    An jenem Tag habe die Geschichte des kommunistischen Böhmens begonnen, schrieb Kundera 1978, als das Ende dieser Geschichte noch nicht absehbar war. Jedes Kind dort kenne diese Aufnahme, und auch man selbst kennt solche zeitgeschichtlichen Dokumente oder glaubt, sie so gut zu kennen, dass man gar nicht mehr richtig hinschaut. Kundera aber zeigt daran, wie plastisch das Bild der Geschichte in einem totalitären Regime war:

    "Vier Jahre später wurde Clementis wegen Hochverrats angeklagt und gehängt. Die Propagandaabteilung radierte ihn sogleich aus der Geschichte aus und retuschierte ihn von der Fotografie weg. Seither steht Gottwald ohne Nebenmann auf dem Balkon. Von Clementis blieb lediglich die Mütze auf Gottwalds Kopf übrig."

    Aber die Geschichte und nicht nur die des Ostblocks widersetzt sich ihrer Retuschierung und Inszenierung. Am 22. November 1963 wollte es der Zufall, dass kein Fernsehteam, sondern ein Amateur einen der welterschütternden Momente des 20. Jahrhunderts festhielt. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy war mit seiner Frau Jacqueline in einem Autokorso auf dem Weg vom Flughafen des texanischen Dallas zum Trade Center der Stadt, wo er eine Rede vor 2600 Anhängern und Unterstützern hätte halten sollen. Es wird dort nicht an Kamerateams gefehlt haben, doch der Präsident kam nie bei ihnen an. Der Besitzer einer Firma für Damenoberkleidung namens Abraham Zapruder hielt mit seiner Super-8-Kamera fest, wie der US-Präsident in seiner offenen Limousine erst in den Hals und dann von einem tödlichen Kopfschuss getroffen wurde.
    Binnen Stunden hatte damals die mediale Schockwelle die Weltöffentlichkeit erreicht, wo immer nur jemand ein Radio oder einen Fernseher einschaltete. Unzählige Zeitgenossen erinnern sich heute noch an den Augenblick, an dem sie von der Ermordung Kennedys erfuhren, denn es war der Moment, als ihr Leben mit der Zeitgeschichte kurzgeschlossen wurde. Doch die Medienwelt war damals noch nicht so weit entwickelt wie heute, wo nicht nur CNN "worldwide" auf Dauersendung ist. Es gab noch kein Internet, in dem Rundfunk- und TV-Sendungen, die längst über den Äther gegangen sind, noch einmal nachverfolgt werden können. Es gab kein YouTube und kein weltweites Getwitter, in dem Augenzeugenberichte, Hörensagen und Falschmeldungen kaum mehr zu unterscheiden sind.

    Schnelle Fernkommunikation war bis in die 1990er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein teuer erkauftes Privileg, das weitgehend den Diplomaten, Auslandkorrespondenten, Militärs und Fernhandelskaufleuten vorbehalten blieb. Für den sprichwörtlichen und sparsamen Otto Normalverbraucher der Nachkriegsjahrzehnte blieben Telegramme den außergewöhnlichen Familienereignissen vorbehalten. Ein Ferngespräch über den Atlantik kam gar einer Anmaßung gleich, und wenn es einmal eilte, fand die Kommunikation gewöhnlich per Luftpost statt. Für die tagesaktuellen Nachrichten aus aller Welt waren die Medien zuständig. Erst war es das heute längst verschwundene "Extrablatt" gewesen, mit dem Tageszeitungen ihre Scoops, ihre exklusiven Sensationsmeldungen unters Volk brachten. Dann waren das Radio und die Kino-Wochenschauen hinzugekommen und schließlich das Fernsehen, das zu den Nachrichten die bewegten Bilder gleich mitlieferte.

    Bei aller Hektik der journalistischen Arbeit aber hatte auch hier noch jedes Ding seine Zeit – und seinen Preis. Auch Extrablätter mussten recherchiert, geschrieben, redigiert, gesetzt, gedruckt und verteilt werden. Auch Sondersendungen mussten geplant, strukturiert und produziert werden, und all das gewährte den Journalisten eine so knappe wie unentbehrliche Bedenkzeit im Umgang mit ihren Informationen. Zeit zum Nachfragen, zum Verifizieren, zum Aus- und Bewerten. So sehr der Scoop, die sensationelle Meldung, die man der Konkurrenz voraus hatte, auch der Traum jedes Journalisten war, so zweischneidig war dieses Schwert.

    Einerseits musste die Nachricht verifiziert sein, denn sonst drohte eine Riesenblamage. Andererseits schlief auch die Konkurrenz nicht, der man auf jeden Fall zuvorkommen musste. So war eine Exklusivmeldung stets eine Gratwanderung, war es die hohe Kunst des Nachrichtenjournalismus. Seitdem aber auf allen, auch auf privaten Kanälen Wörter, Töne und Bilder übertragen werden und per Internet jederzeit überall abrufbar sind, schrumpft die Zeit, die man der Konkurrenz voraushat, auf eine kaum mehr wahrnehmbare Spanne.

    In Zeiten digitaler Massenkommunikation ist diese Spanne auf jenen Augenblick geschrumpft, den eine SMS, eine E-Mail, eine Twitter-Botschaft zur Übertragung braucht, und das beraubt die klassischen Medien ihrer Exklusivität. Früher waren Exklusivberichte ein Ausweis journalistischer Qualität. Heute zeigen sie oft lediglich, dass ein Nachrichtenmagazin sich wieder einmal nicht an vereinbarte Sperrfristen gehalten hat. Der Name der populärsten Video-Plattform im Netz ist dabei Programm: "YouTube" bringt das englische "Du" mit dem Ausdruck "Tube" für die Röhre eines Sendegeräts zusammen und ließe sich als "Du sendest!" übersetzen.

    Ist aber der Damm zwischen Sendern und Empfängern, privaten und öffentlichen Nachrichten erst einmal gebrochen, so gibt es kein Halten mehr. Medien und deren Nutzer verfallen in Zustände inflationärer Selbstverstärkung, weil man ein Ereignis, das auf immer mehr Kanälen vermeldet wird, auch im eigenen haben und auch als Laie kommentieren will. War die Rückkopplung von Sender und Empfänger in alten Rundfunkzeiten noch ein gefürchtetes Phänomen, das einen anschwellenden Misston erzeugte, so werden selbstverstärkende Effekte längst professionell genutzt.

    Zum Geschäft - und sei es das der Politik und des Krieges - zählt längst auch die zeitgemäße Medienarbeit, der Hype, der einem Buch, einem Minister, einer militärischen Operation Omnipräsenz verschafft. Damit wächst aber auch das Risiko. Ganz Deutschland sucht permanent den Superstar, doch dessen Absturz gehört schon dazu. Haben sich des Kaisers neue Kleider wieder einmal als Luftnummern erwiesen, so stehen dann alle ein Stückchen dümmer da: Vom Politikstar, vom wendigen Macher und Tänzer auf allen Talkshowkanälen und Hochzeiten ist dann allenfalls noch übrig, was das Geheimnis seines Erfolges ausgemacht hat: Ein kleinster gemeinsamer Nenner.

    Die totale Gegenwart von Ereignissen, Themen, Personen, die unsere schöne neue Medienwelt unter zunehmender Beteiligung ihrer privaten Nutzer herzustellen vermag, richtet sich nämlich an unsere Aufmerksamkeit, aber nicht an unser Urteilsvermögen. Vor allem Internetjournalismus ist ein Spiel mit dem Risiko von Falschmeldungen. Der Redakteur wird zum Durchlauferhitzer ungeprüfter Inhalte, und selbst Fachjournalisten müssen sich sagen lassen: "Das googeln Sie doch in dreißig Minuten zusammen!" Wenn das so wäre, brauchte der interessierte Laie aber keine Journalisten mehr.

    Vorweggenommen erscheint dieser triviale Informations-Tsunami in einer schon 1949 erschienenen Geschichte des argentinischen Universalgelehrten Jorge Luis Borges. "Das Aleph" dreht sich um einen mystischen Punkt, von dem aus man alle Teile des Universums gleichzeitig und aus allen Perspektiven sehen kann. Der Blick durchs Aleph gewährt eine Ahnung von Allgegenwart und Allwissenheit, aber eben nur eine Ahnung. Der menschliche Verstand, das menschliche Denken und die menschliche Sprache vermögen nicht alles auf einmal zu erfassen. Man muss die Dinge im doppelten Wortsinn "auf die Reihe bringen". Man muss die Datenflut eines natürlichen oder inszenierten Großereignisses in sinnvolle Form, in sinnvolle Abfolge, in sinnvolle Sätze bringen.

    So liegt die ironische Pointe bei Borges darin, dass sich das Aleph im Keller eines als Dichter dilettierenden Bekannten des Erzählers befindet. Dieser Dichter neigt zu ebenso ausufernden wie langweiligen poetischen Ergüssen und nutzt das Aleph, um "die Gesamtrundung des Planeten in Verse zu bringen":

    "Im Jahre 1941 war er bereits mit einigen Hektar des Staates Queensland fertig, hatte er über einen Kilometer von Lauf des Ob, einen Gasometer im Norden von Veracruz, die wichtigsten Geschäftshäuser im Gemeindebezirk von La Concepción, das Landhaus von Mariana Cambaceres de Alvear in der Straße Elfter September in Belgrano und ein Türkisches Bad unweit des berühmten Aquariums von Brighton bewältigt."

    Der Dichter bei Borges ist dem Wahn erlegen, die ganze Welt erfassen und in Worte fassen zu können. Er hält sich für einen intimen Kenner von Ereignissen, Dingen und Personen, die fern und unabhängig von ihm existieren, doch bleibt er ihnen so fern wie der einsame Internet-Surfer vor dem Bildschirm, der sich für ein geschätztes Mitglied eines virtuellen Freundeskreises hält.

    "Ich sah alle Spiegel des Planeten, doch reflektierte mich keiner", heißt es bei Borges, und das entlarvt die Verbindung, die der Blick ins Aleph oder ins Web mit der ganzen Welt herzustellen scheint, als illusionär. Ihre perfekte Übertragung bringt uns diese Welt nicht näher und macht sie allein auch nicht besser begreifbar. Will man sich dem Wahn einer totalen Gegenwart entziehen, so muss man seine Wahrnehmung der Welt und der Zeit erst in Ordnung bringen, muss die Informationsfluten strukturieren, gewichten und reduzieren. Die Printmedien haben dafür eine klassische Ordnung entwickelt, die zwischen Tages- und Wochenzeitungen, zwischen wöchentlich und monatlich erscheinenden Zeitschriften, Vierteljahres- und Jahresbänden unterschied.

    Die wachsende Konkurrenz aber hat in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass Themen und Textformate, die früher den Monatsmagazinen vorbehalten blieben, von Wochen- und Tageszeitungen aufgesogen wurden. Das hat die Taktfrequenz beschleunigt und damit auch jene Distanz aufgehoben, die bei der Beurteilung langfristiger Entwicklungen notwendig ist. Populär ist hingegen eine Philosophie des ad hoc. Nachdenker sind von Vordenkern verdrängt worden, die zum aktuellen Thema die steile These schon parat haben, bevor dessen volle Bedeutung auch nur in Ansätzen überblickt werden kann. Solche Schnellschüsse machen sich gut in Talkshows, doch wenn der omnipräsente Held des Augenblicks dann den Hut nehmen oder den Doktorhut abgeben muss, ist die Wirkung verheerend. Der digitale Boulevard nämlich frisst seine Lieblingskinder ebenso gerne wie es sie zuvor gehätschelt hat.

    Ein zu Guttenberg wie ein Wulff haben diese Kehrseite medialer Zuwendung schmerzhaft zu spüren bekommen, denn mit der Allgegenwart bestimmter Personen auf allen Kanälen schwindet auch die Distanz und damit der Respekt. Der Politiker zum Anfassen wird medial auch belangbar. Was eben noch sympathisch wirkte, erscheint dann als penetrant, und eine forsche Art wirkt nur noch nassforsch. Die anschwellende Menge an nachgewiesenen Plagiaten kostete Verteidigungsminister zu Guttenberg seinen Doktorhut. Sein Rücktritt als Politiker aber wurde durch den allgemeinen schlechten Eindruck erzwungen, den seine so nonchalant beanspruchte Blitzkarriere im Lichte dieser Enthüllungen machte. Auch die juristischen Ermittlungen gegen Bundespräsident Wulff waren über einen Anfangsverdacht noch nicht hinausgekommen, als der schlechte Ruch, den sein Genuss zahlreicher Freundschaftsdienste um ihn herum hatte aufkommen lassen, medial verstärkt ins Unerträgliche anwuchs.

    Für sich genommen kleine Verfehlungen wurden öffentlich so lange akkumuliert, bis die Ekelschwelle überschritten war. Aus Lichtgestalten wurden Wegschauobjekte, deren bloßer Rücktritt nicht reichte. Sie mussten aus der Öffentlichkeit verschwinden, zumindest zeitweilig. Die Medien und ihre Schein-Helden verspielten dabei gemeinsam den Respekt des Publikums - wenn auch nicht unbedingt dessen Gunst. Die nämlich gewährt auch gefallenen Sternen eine Chance zum Comeback - doch das Dschungelcamp ist nicht jedermanns Sache.

    Aus Sicht der Betroffenen muss sich die ganze Welt, die sie zuvor gar nicht gern genug haben konnte, auf einmal gegen sie verschworen haben. Und dieser Gedanke muss nicht immer nur Ausdruck mangelnden Schuldbewusstseins sein. Der republikanische Vorwahlkampf in den USA zeigt, dass die Schlammschlacht sich dort längst als politische Praxis etabliert hat. Die mediale Omnipräsenz der Kandidaten wirkt dabei wie eine Lupe, durch die nicht nur deren positives Image, sondern auch tatsächliche oder nachgesagte Unarten und Schwächen ins Überlebensgroße vergrößert werden können.

    Doch je weniger Medien zu differenzieren imstande sind, desto stärker sind sie auf prominente Köpfe angewiesen, denn in einer immer komplexeren Welt bieten Gesichter den besten Wiedererkennungseffekt. Um Blickfänger bemüht haben selbst Printmedien so begonnen, die jüngsten Talkshows nachzuerzählen oder auf ihren Internetseiten die letzten Geistesblitze und Regungen von Schmidt, Jauch und Co nachzuplappern. Und je platter und vermischter das allgemeine Infotainment dadurch wird, desto wichtiger werden dessen Protagonisten als Anchormen. Und was war die Zähigkeit der Affären Guttenberg und Wulff verglichen mit dem langen Abschied von Thomas Gottschalk?

    Für solche Spiele bedarf es der seriösen Medien aber nicht mehr. Eine Zeitung, eine Sendeanstalt, die meint, dem Boulevardjournalismus hinterherrennen zu müssen, ist auf die falsche Bahn geraten, denn dort können Internetseiten und Internetforen ungenierter und besser agieren. Ihren technischen und zeitlichen Vorsprung haben Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen längst verloren, aber was ihnen bleibt, ist ihr Vorsprung an analytischer Kompetenz – in der Analyse, Strukturierung, Bewertung und Vermittlung von Inhalten. Diese Vermittlung aber darf Leser, Hörer und Zuschauer eben nicht - wie es das Quotendiktat fordert - rund um die Uhr mit Wörtern, Tönen und Bildern überfluten und soll sich auch nicht emotional anbiedern. Sie muss ihnen vielmehr Gelegenheiten bieten, auszuwählen, was sie wirklich interessiert.

    Zu jedem seriösen Medium gehört deshalb eine qualifizierte Struktur, die eine gezielte Auswahl ermöglicht. Hier hinkt das Internet nicht nur weit hinterher, sondern ist auch der Sklave seiner digitalen Buchführung. Im Netz nämlich kann jeder Klick gezählt werden, und dort macht sich der berühmte "Eye-Catcher", der Blickfänger, besser bezahlt als der aufwendig recherchierte und komplizierte Hintergrundbericht, der in der totalen und penetranten Gegenwart des allgemeinen Vermischten unterzugehen droht.

    Niemand sollte wegen seiner Vorliebe für Fußballer, Eisbärenbabys oder die Bücher von Charlotte Roche diskriminiert werden und einschlägig Interessierte verdienen dazu alle Informationen, für die sie gezahlt haben. Aber niemand, der solche Neigungen nicht teilt, möchte und sollte mit solchen Themen behelligt werden. Dazu bedarf es eines gewissen Mutes zum elitären und unpopulären Denken, doch dahinter steht der Gedanke, dass zur kompetenten Mediennutzung vor allem die Freiheit und Möglichkeit der Auswahl gehört.

    Unsere Welt ist zu komplex, um von einer Liveschaltung, von einer Talkrunde, einem Internetforum erfasst zu werden. Auch wenn es dem Quotendenken zuwiderläuft, muss für die seriösen Medien jedes Ding seine Zeit haben, muss es eine Zeit zum Lesen oder Einschalten geben und eine andere, in der man die Zeitung aus der Hand legt oder die Aus-Taste betätigt. Sonst droht sich das Denken im allgemeinen Vermischten einer totalen Gegenwart zu verlieren - und damit in jener selbst verschuldeten Unmündigkeit, zu dessen Überwindung das Projekt der Aufklärung einst ausgerufen worden war.