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Die Toten im Mittelmeer
Christina Cattaneo gibt den Menschen ihre Namen zurück

Auch trotz der Pandemie machen sich viele Flüchtlinge und Migranten auf den Weg nach Europa. Eine ihrer Routen ist das Mittelmeer. Zwischen 2015 und 2017 starben dort mindestens 12.000 Menschen, schätzt die Forensikerin Cristina Cattaneo, die daran arbeitet, die Toten zu identifizieren.

Von Sonja Ernst | 20.07.2020
Buchcover " Namen statt Nummern".Im Hintergrund Meer.
In "Namen statt Nummern" schildert Cristina Cattaneo, wie wichtig und schwierig die Identifizierung der Ertrunkenen ist (Buchcover: Rotpunktverlag/ Hintergrund picture alliance / dpa / Opielok Offshore Carriers)
Am 3. Oktober 2013 kentert ein alter Kutter vor der italienischen Insel Lampedusa: 366 Menschen ertrinken – sie kommen überwiegend aus Eritrea. Dass Flüchtlinge im Mittelmeer sterben, ist leider nicht neu. Aber die Bilder der vielen Toten macht das Wegsehen schwieriger.
Dieser 3. Oktober verändert auch das Leben und die Arbeit der italienischen Rechtsmedizinerin Cristina Cattaneo. Wie, das beschreibt sie in dem Buch "Namen statt Nummern". Sie will, dass die im Mittelmeer Ertrunkenen identifiziert werden.
"Menschen glauben, dass es wichtig ist, den Toten einen Namen zu geben, aus Respekt vor der Erinnerung. Das ist Teil unserer DNA. Aber das ist nicht alles: Die Toten müssen auch für die Lebenden identifiziert werden. Das ist das Recht der Lebenden. Und das ist etwas, was die Europäer und auch Europa verstehen sollten."
Nordeuropa sieht nicht, wie Menschen ertrinken
Die Autorin kritisiert, dass die Europäische Union, aber auch Europas Zivilgesellschaften Italien allein lassen mit der Identifizierung ertrunkener Flüchtlinge. "Der Großteil Europas sieht nicht, wie die Menschen im Mittelmeer ertrinken. Es gibt zurzeit weniger Tote, aber das Sterben hält an. Deutsche und Franzosen sahen die Menschen nicht ertrinken, so wie es zum Beispiel die Sizilianer taten."
2014 startet die italienische Vermisstenbehörde einen Pilotversuch: Man will die 366 Toten identifizieren. Federführend ist dabei das LABANOF – das rechtsmedizinische Universitätslabor in Mailand, das Cristina Cattaneo leitet.
Die handwerklichen Herausforderungen als Forensikerin beschreibt die Autorin auf den gut 200 Seiten spannend und bewegend – zugleich immer sachlich. Wo lassen sich so viele Leichen lagern – und kühlen? Wie sind DNA-Abgleiche möglich? Die Forensik setzt bei der Identifizierung von Toten mittlerweile vor allem auf DNA. Doch in diesem Fall leben viele der engsten Angehörigen in Eritrea. Der Kontakt zu ihnen würde sie in Gefahr bringen: Das Regime hält nichts davon, wenn die eigenen Leute aus dem Land fliehen.
Um die Toten dennoch identifizieren zu können, wird jede einzelne Leiche genauestens untersucht. Alle Merkmale werden in einer Datenbank erfasst. Auch alle Details der Kleidung und der letzten Habseligkeiten.
"Ich weiß nicht genau, warum, aber die persönlichen Gegenstände erschütterten mich noch stärker als die Gesichter. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sie die letzten Handlungen, die letzten Entscheidungen widerspiegeln. Oder es hat damit zu tun, dass ein Gesicht klar jemand anderem gehört, während viele Gegenstände auch die unseren sein könnten."
Viele Tote sind heute keine bloßen Nummern mehr
Im Buch sind auf wenigen Seiten Fotos solcher persönlichen Dinge abgebildet: ein blauer Handschuh, ein Marienbildchen, die Hülle eines Schokotörtchens.
Die Autorin schildert auch das zweite große Schiffsunglück vor Lampedusa. Am 18. April 2015 ertrinken fast tausend Menschen. Die organisatorische Herausforderung für die Identifizierung ist diesmal noch größer – erneut sind unterschiedlichste Behörden beteiligt, einschließlich Italiens Marine.
Wieder entsteht eine Datenbank. Wieder melden sich Freunde und Verwandte, die in Italien oder einem anderen EU-Land leben, um Gewissheit über die Vermissten zu erlangen. Sie bringen Fotos mit, Videos, ärztliche Befunde. Viele schauen sich die Totenbücher an: eine Sammlung ausgewählter Bilder von Gesichtern, Tätowierungen oder auch Kleidungsstücken.
Diese Arbeit ist bis heute nicht abgeschlossen. Sie geht weiter. Doch viele Toten sind keine Nummern mehr; die Ungewissheit ist zu Ende, ihre Familien können nun trauern. Dass die Identifizierung gelingen kann, unterstreicht die Autorin immer wieder. Denn mit dem Erfolg verknüpft sie die Forderung nach einer europaweiten Datenbank, die nicht allein die Toten zählt.
"Die Toten können identifiziert werden. Es gibt Probleme, aber wir haben bewiesen, dass man sie bewältigen kann. Nun ist Europa am Zug. Denn die meisten der Toten befinden sich auf Europas Territorium – und viele Verwandte sind in Europa. Es wäre keine große Anstrengung, ein institutionelles Netzwerk zwischen den Ländern aufzubauen, um die Daten der Vermissten mit den Daten der Toten zu verknüpfen. Wenn Europa das nicht tut, ist das eine enorme Verletzung der Rechte dieser Menschen."
Eine solche Datenbank wäre enorm hilfreich. So könne man die Netzwerke der Flüchtlinge, die Arbeit von Flüchtlingsverbänden und so weiter nutzen, um die Toten zu identifizieren.
Mit ihrem Buch legt Cristina Cattaneo eine lesenswerte Mischung vor. Sie teilt ihre persönlichen Empfindungen; wie sie mit dem Tod und den Toten umgeht. Zugleich liefert sie viel forensisches Wissen – und verliert nie den Blick für den politischen Kontext von Flucht sowie die Migrationspolitik der EU. Deshalb irritiert der Untertitel des Buches: "Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers". Die Menschen sterben im Mittelmeer, doch zuerst werden sie Opfer der politischen und wirtschaftlichen Missstände in ihren Heimatländern. Und auch das wird im Buch deutlich. Bei der Identifizierung der Leichen entdecken Cristina Cattaneo und ihr Team immer wieder auch Spuren von Folter.
Cristina Cattaneo: "Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers",
Rotpunktverlag, 208 Seiten, 24 Euro.