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"Die Trennung war da nie so scharf"

Bundeskanzlerin Angela Merkel empfängt heute in Berlin den tschechischen Premierminister Petr Necas. Dass der Besuch wie politische Routine wirkt, ist bemerkenswert. Noch in den 90er-Jahren war das deutsch-tschechische Verhältnis durch dunkle Kapitel der gemeinsamen Geschichte stark belastet.

Jiri Grusa im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: Nun zum tschechischen Dissidenten, Schriftsteller und Diplomaten Jiri Grusa. Er war Botschafter in Bonn und in Wien, außerdem Präsident des Internationalen PEN-Clubs. Mit ihm habe ich vor dieser Sendung über das Verhältnis zwischen Prag und Berlin, über Erfolge der Gegenwart und Probleme der Vergangenheit gesprochen. Guten Morgen, Herr Grusa!

    Jiri Grusa: Ja, guten Morgen!

    Herter: Herr Grusa, glauben Sie, dass Merkel und Necas sich heute über die Benes-Dekrete unterhalten müssen?

    Grusa: Das setze ich nicht voraus, aber eigentlich atmosphärisch kann es ganz gut sein, weil die Bundeskanzlerin ist die erste Person in diesem Amte, die ein bisschen Tschechisch spricht.

    Herter: Noch vor zehn Jahren wäre das ja kaum denkbar gewesen bei solch einem Besuch, dass das keine Rolle spielt. Strittige Themen, die gibt es noch, aber Gemeinsamkeiten stehen weit im Vordergrund. Was sind die Ursachen dafür?

    Grusa: Die Ursache dafür ist die wunderschöne Entwicklung, die Ironie der Geschichte. Ganz kurz gesagt: '48 fängt die Bundesrepublik an, in Prag die Kommunisten, '68, also es wird Revanchismus da gepredigt, und dann in '68 die einzige friedliche Grenze der ehemaligen Tschechoslowakei war die mit dem sozusagen Erzfeind, ja. Und das hat die Lage verändert. Das wusste man, dass eine Freiheit in Europa mit der deutschen Einheit zusammenhängt, und die Charta '77 hat das sogar postuliert, und das hat dann die Lage total geändert.

    Herter: Das war die Ausgangslage, die Ausgangsbedingungen. Dennoch wurde Anfang der 90er-Jahre über die Benes-Dekrete gestritten. Die deutsch-tschechische Erklärung, Mitte der 90er-Jahre verfasst, hat im Grunde genommen in Sachen Benes-Dekrete ja nur festgehalten, dass man sich da uneins war. Warum hat dieses Fundament trotzdem Bestand?

    Grusa: Erstens ist das eine große Erklärung. Man hat endlich mal die richtige Methode der Vergangenheitsbewältigung gewählt. Verständigung bedeutet Verstand, das heißt, den anderen ein bisschen zu verstehen. Das heißt die Frage, das Trauma der Vertreibung, das bleibt, aber sozusagen daraus ein Trauma der Gegenwart zu machen, wäre ganz falsch. Wir haben versucht, sozusagen die Erinnerung, die Selbstreflektion bei den eigenen, also zu Hause zu produzieren. Das haben sie jetzt in Prag erlebt. Die Erinnerung der Tschechen fängt an, und das ändert auch die Erinnerung der Deutschen. Also es funktioniert als psychologische Leistung der Erinnerungskultur.

    Herter: Die jüngere Generation setzt sich ja in der Tat kritisch, sehr kritisch sogar mit Verbrechen auseinander, die im Zuge der Vertreibung von Deutschen begangen worden sind. Das ist kein Tabu mehr. Welche Rolle hat hier denn gespielt, dass die politische Auseinandersetzung über Vertreibung, Unrecht, Verbrechen in den letzten Jahren nicht mehr so lautstark geführt wird?

    Grusa: Das hängt mit dem zusammen, was ich vorher gesagt habe. Die Bewältigung der Freiheit ist die Bewältigung der eigenen Erinnerungskultur, und das hat auf beiden Seiten gewissermaßen funktioniert.

    Herter: Hat das zu einer Unbefangenheit geführt bei jüngeren Generationen in der Tschechischen Republik?

    Grusa: Ich würde sagen, sie beschäftigten sich damit ernsthaft. Das ist nicht anders als in der Bundesrepublik. Bei uns wäre das jetzt sozusagen das Jahr '57 in der Bundesrepublik. Da fing dort auch die andere Erinnerungskultur an, und das ist bei uns genauso.

    Herter: Das braucht seine Zeit?

    Grusa: Jawohl, jawohl. Das ist die Drei-Generationen-Pause, die man braucht, um ein historisches Trauma zu bewältigen. Das haben wir erreicht, wir Tschechen.

    Herter: Viel größer ist die Aufregung in der Tschechischen Republik derzeit, wenn man die kommunistische Vergangenheit betrachtet. Da gibt es Listen von früheren Mitarbeitern der Staatssicherheit und der Geheimdienste, und wie es scheint ist diese Aufarbeitung noch nicht so weit vorangekommen.

    Grusa: Das ist eine sehr kluge Frage. Wissen Sie, die Tschechen sind die einzige Nation im ehemaligen Ostblock, die sich den Kommunismus mit dem Stimmzettel in der Hand beschleunigt haben und 20 Jahre lang ohne sozusagen der fremden Kasernen im Lande gezüchtet haben. Da ist die Erinnerungskultur, die Selbstkultur eine sehr wichtige Komponente. Das brauchen wir mehr als die anderen.

    Herter: Kommen wir zurück zum deutsch-tschechischen Verhältnis. Der bayerische Ministerpräsident Seehofer will die Tschechische Republik im Herbst besuchen. Was halten Sie davon und was erwarten Sie davon?

    Grusa: Erstens ist das eine sehr kluge Tat und ich hoffe, dass er mit seinem Charme da mehr bewirkt als die anderen bisher.

    Herter: Was könnte er bewirken, was wäre mehr?

    Grusa: Ich meine die Verständigungskultur, die ich erwähnt habe. Das heißt, man muss sozusagen eine andere Körpersprache und andere Sprache anwenden, und das hat er. Deswegen bin ich da fast optimistisch.

    Herter: Fast optimistisch. Sicher lässt sich eines schwer vergleichen: das deutsch-polnische Verhältnis und das deutsch-tschechische Verhältnis. Aber Flucht und Vertreibung spielen im Verhältnis zwischen Berlin und Warschau noch eine ganz tragende, eine sehr wichtige Rolle. Was ist hier zwischen Prag und Berlin, abgesehen von dem, was Sie genannt haben, anders?

    Grusa: Nun erstens: Wir haben eine sozusagen tiefere Gemeinsamkeit, ungeachtet aller Konflikte und sozusagen der traumatischen Vergangenheit. Die Trennung war da nie so scharf. Deswegen ist es eigentlich letztendlich einfacher, sich zu verständigen. Aber sozusagen die Beziehung zwischen Polen und Deutschland - in meinen Augen - ist schon auch eine andere, und die integrative Rolle Deutschlands spielt hier eine große Rolle, und ich bin auch hier, ungeachtet der Erinnerung, die in Polen eine ganz andere ist, einfach nicht unoptimistisch diesmal, um das richtig zu beschreiben.

    Herter: Wir teilen Ihren Optimismus. Das war der tschechische Autor und Diplomat Jiri Grusa über den Besuch des tschechischen Regierungschefs Petr Necas heute in Berlin. Das Gespräch haben wir aufgezeichnet.