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Die Türkei auf dem Weg nach Europa

Müller: Die Diskussion wird seit Jahren äußerst kontrovers geführt: Soll die Türkei volles Mitglied der Europäischen Union werden? Die Unionsparteien haben sich in dieser Woche noch einmal klipp und klar festgelegt. Ihre Antwort heißt Nein. Begründung: Keine weitere geographische Ausdehnung der EU und: Die Türkei gehöre politisch und kulturell nicht zur Europäischen Gemeinschaft. Der Kanzler hingegen hat bereits der Türkei eine Art Erweiterungsversprechen gegeben, jedenfalls aus Sicht der CSU. Heute kommt der türkische Regierungschef Erdogan nach Berlin. Wichtigstes Thema dabei: der EU-Beitritt. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem außenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Gert Weisskirchen. Herr Weisskirchen, ist die Türkei Europa?

Moderator: Dirk Müller |
    Weisskirchen: Die Türkei hat eine Chance, Mitglied der Europäischen Union zu werden und diese Chance, die ist seit vielen Jahrzehnten formuliert worden, von allen deutschen Regierungen, auch von den CDU/CSU-geführten und insofern hat sich nichts verändert. Allerdings können wir feststellen, dass die gegenwärtige Regierung und Ankara einen deutlich proeuropäischen Kurs versucht voranzubringen, jedenfalls so klar und überzeugend, wie das bislang noch keine Regierung in der Türkei gemacht hat.

    Müller: Sie sagen, Herr Weisskirchen, Ankara hat also durchaus eine realistische Chance, auch aufgrund der Versprechungen, die man gemacht hat in der Vergangenheit. Die Frage vielleicht noch einmal anders formuliert: Gehört die Türkei zu Europa?

    Weisskirchen: Nun, wenn Sie sich mit Menschen in der Türkei oder auch mit türkischstämmigen Deutschen unterhalten, dann werden Sie ganz klar feststellen, dass sie eine europäischen Orientierung haben und dass sie wünschen, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union wird. Der Wunsch allerdings ist noch nicht Realität, und insofern steht ein langer Weg vor der Türkei, und dieser Weg wird von der Regierung Erdogan bestritten.

    Müller: Gehört der Kulturkreis der Türkei ins westliche Abendland?

    Weisskirchen: Was ist der Kulturkreis der Türkei? Das muss man ja mal zurückfragen. Wenn Sie das verkürzen auf die Frage, ob jemand der Muslim ist, Mitglied der europäischen Union werden kann, dann können Sie eine klare Antwort darauf finden. Es gibt Muslime in den Mitgliedsländern der europäischen Union - kein Zweifel. Diese Frage auf die Religionszugehörigkeit zu verkürzen, das wäre absurd, und es würde auch nicht dem inneren Charakter der Europäischen Union entsprechen.

    Müller: Dass heißt, für Sie ist die Religionsfrage nichts anderes als bloße Polemik.

    Weisskirchen: Nein, nicht bloße Polemik, sondern, sie ist an Zugehörigkeit gebunden und nicht allein an die Nation, sondern auch an die Europäische Union. Der christliche Mehrheitscharakter der Europäischen Union ist unbestritten, aber man kann auch Muslim sein, wenn man in der Europäischen Union lebt, wie das täglich bewiesen wird in Deutschland, in Frankreich und in England und in anderen Ländern.

    Müller: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Weisskirchen, dann sagen Sie auch, die Türkei hat mit der neuen Regierung unter Ministerpräsident Erdogan ihre politischen, demokratischen Hausaufgaben gemacht.

    Weisskirchen: Sie ist auf dem Wege. Sie hat sie nicht beendet, und das ist natürlich ein zentrales, ein wichtiges Kriterium, ob überhaupt eine Beitrittsstrategie mit der Türkei verabredet werden kann. Das steht ja bevor in diesem Jahr. Am Ende des Jahres 2004 wird darüber die Entscheidung fallen.

    Müller: Stichwort Kurden und Menschenrechte: Sind Sie da auch mit der Entwicklung zufrieden?

    Weisskirchen: Da wird man, wie auch in anderen Feldern, ein gemischtes Ergebnis feststellen können. Es gibt ein deutliches Bemühen in Ankara, sich mit diesen Fragen konstruktiv und wirklich so auseinander zu setzen, dass man eine Beitrittsstrategie aus türkischer Sicht begründen kann. Insofern haben wir eine reformorientierte Regierung, die die Probleme beginnt richtig anzugehen, jedenfalls sehr viel intensiver und nachdrücklicher als alle anderen Regierungen zuvor. Und wenn eine Regierung sich so verhält, dann kann man sie nicht brüsk zurückweisen, wie die Union dies tut.

    Müller: Wolfgang Schäuble hat ja zum Beispiel gesagt, es geht auch um eine so genannte geographische Überdehnung, also gerade natürlich auch mit Blick auf die Größe der künftigen Europäischen Union, die ab Mai 25 umfassen wird. Es kommen noch mehrere dazu. Kann das die Europäische Union, kann das Brüssel in irgendeiner Form verkraften?

    Weisskirchen: Zunächst einmal muss die Union sich klar werden, was sie denn überhaupt will. Will sie das Thema verkürzen auf die Muslimzugehörigkeit oder redet sie dann, das ist das zweite Argument, dass sie vorträgt, von einer geostrategischen Überdehnung. Diese Unklarheit muss sich die Union erstmal vornehmen und deutlich machen, was sie denn will. Denn bisher hat sie ja immer gesagt, dass die Türkei eine solche Chance haben kann. Das hat Helmut Kohl erklärt, und das hat auch die Union bislang immer erklärt. Nun muss sie sich selbst klar werden, was sie will. Die Europäische Union stirbt nicht an einer Überdehnung, sondern die Europäische Union wird dann gefährdet, wenn sie selbst ihren eigen Kurs der inneren Reform nicht voran treibt und wenn die Europäische Union nicht beginnt, beispielsweise den Verfassungsprozess wieder neu aufzunehmen. Also wir selbst haben auch eine ganze Reihe von Aufgaben innerhalb der Europäischen Union zu bewältigen, und das mit der Türkei zu verknüpfen, mit der inneren Reform der Türkei ist sicherlich ein beschwerlicher Weg, aber ich sehe nicht, dass der von Innen her gefährdet wäre.

    Müller: Herr Weisskirchen, vielleicht etwas sybillinisch gefragt: Wie groß ist das Interesse der SPD an den 500.000 türkischstämmigen Wählern?

    Weisskirchen: Das ist auch eine sehr verkürzte Fragestellung, Herr Müller. Unser Interesse als Deutsche, unser Interesse als politische Parteien innerhalb Deutschlands muss sein, dass die türkischstämmigen Menschen, die bei uns leben und die Deutsche geworden sind, dass die bei uns aufgehoben sind, dass sie eine Integrationsperspektive wirklich bekommen, denn wir haben über 30 Jahre lang eher so getan, als wenn wir integrationsfähig wären. Und wenn sie sich beispielsweise die Pisa-Studie anschauen, dann wissen wir, was für einen großen Reformweg wir selber auch noch zu begehen haben. Also insofern ist das nicht eine Frage, die auf die SPD zu verkürzen wäre, sondern das ist eine gemeinsame gesellschaftliche Aufgabe, die wir Deutsche mit denen, die aus der Türkei gekommen sind, gemeinsam bewältigen müssen.