Archiv


Die Türkei wird keinen Kurdenstaat im Nordirak dulden

Heuer: Die Besetzung von Kirkuk bringt auch die türkische Regierung in eine ziemlich unkomfortable politische Lage. Kirkuk, das galt bisher als die rote Linie, bei deren Überschreitung durch Kämpfer die Türkei eigene Militärtruppen in den Nordirak schicken wollte. Jetzt hat eben diese Überschreitung stattgefunden und wenigstens bislang ist die Regierung in Ankara nicht aktiv geworden, so jedenfalls nicht wie sie es angekündigt hatte. Am Telefon bin ich jetzt mit dem türkischen Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci von der Uni Ankara verbunden. Guten Morgen, Herr Bagci.

    Bagci: Guten Morgen, Frau Heuer.

    Heuer: Glauben Sie, dass die türkische Regierung doch noch Truppen in den Nordirak, also nach Kirkuk schickt?

    Bagci: Bis heute Morgen hat die türkische Regierung keine Absicht erklärt, Truppen in den Nordirak zu schicken. Wie es aussieht hat die türkische Regierung, besonders der türkische Außenminister Abdullah Gül mit dem amerikanischen Außenminister Colin Powell eine sehr starke Telefondiplomatie seit gestern geführt und von den Amerikanern die Garantie bekommen, dass heute die Peschmerga, die kurdischen Kämpfer, einfach die Stadt verlassen. Die amerikanische Regierung hat der Türkei das bestätigt. Natürlich werden wir sehen, wie die türkische Regierung dann darauf reagiert, wenn das nicht der Fall ist, aber ich gehe davon aus, dass die Aussagen von Talabani auch zeigen, dass sich die Peschmerga nicht mehr so weiter verhalten werden wie gestern und die türkischen Sorgen besonders von der amerikanischen Administration ernst genommen werden.

    Heuer: Herr Bagci, Sie sagen, Sie gehen davon aus, wenn die USA ihr Versprechen, ire Zusage nicht einhalten, werde die türkische Regierung reagieren. Wie denn genau?

    Bagci: Das ist eine Möglichkeit, aber sie haben auch gesagt, dass diese rote Linie bereits überschritten ist. Die türkische Regierung hat noch nicht entschieden, militärisch einzugreifen. Meine Erwartung ist auch, dass die Türkei nicht so einfach Soldaten hinschicken kann, sondern erst einmal versuchen würde, durch die amerikanische Seite die Garantie zu bekommen, dass sie es weder erlaubt, dass im Nordirak ein kurdischer Staat entstehen wird, noch dass die Turkmenen in Mossul und Kirkuk irgendwie benachteiligt werden. Die Türkei muss sich, wie ich es sehe, einfach auf die amerikanischen Regierung oder Administration, verlassen, dass die Amerikaner die Kontrolle über die Peschmerga haben, und wie gesagt die türkischen Besorgnisse und Erwartungen erfüllen.

    Heuer: Die Türkei sitzt ja politisch zwischen allen Stühlen. Wenn sie einmarschieren würde, dann hätte sie schwierige Probleme mit den USA und der Europäischen Union. Wenn sie nicht einmarschiert, dann nimmt die türkische Regierung das Risiko eines Kurdenstaats in Nordirak in Kauf. Wie kann sich denn die Regierung da herausmanövrieren und dieses Risiko eines Kurdenstaates aus Ihrer Sicht umgehen?

    Bagci: Es ist richtig, Frau Heuer, dass die Türkei zwischen zwei Stühlen sitzt, und es ist nicht einfach. Dass Türkei zuerst entschieden hat, den amerikanischen Soldaten nicht zu erlauben, dass sie aus der Türkei operieren, war eine moralisch richtige, aber eine strategisch falsche Entscheidung, und die Türkei muss natürlich auch in dieser Frage die Konsequenzen tragen, dass die Türkei nicht am Tisch ist. Das ist das eine, aber auf der anderen Seite, wie Sie auch sagen: die Europäische Union hat der Türkei gesagt, dass die Türkei nicht intervenieren dürfte, aber auf der anderen Seite ist die Türkei natürlich in enger Beziehung mit den Vereinigten Staaten von Amerika, und die Amerikaner haben von Anfang an gesagt, dass im Irak kein kurdischer Staat entsteht. Wenn das aber der Fall sein sollte, dann werden die Amerikaner nicht ihr Wort gehalten haben, und das würde natürlich Konsequenzen sowohl für die Türkei als auch für Iran und Syrien mit sich bringen.

    Heuer: Herr Bagci, jetzt frage ich Sie noch einmal nach den Konsequenzen: Heißt das, wenn die USA ihre Versprechen nicht halten, dann gehen Sie fest davon aus, dass die türkische Regierung Truppen schicken wird?

    Bagci: Zumindest nach den Aussagen der türkischen Militärs und nach der türkischen Regierung dürfte man das erwarten. Aber das ist eine politisch-militärische Entscheidung. Ich gehe davon aus, dass bei der türkischen Regierung zur Zeit die Voraussetzungen für eine militärische Intervention einfach nicht vorhanden sind und sie deswegen noch nicht interveniert. Das bedeutet aber nicht, dass die Türkei nicht die militärische Stärke hat, das zu tun. Die Frage ist hier, wie sich die Türkei und die Vereinigten Staaten von Amerika in dieser Frage verständigen und dementsprechend die Türkei eine Politik verfolgt. Zur Zeit - ich wiederhole das - muss sich die Türkei auf das Wort der Amerikaner verlassen. Es bleibt nichts anderes übrig.

    Heuer: Ein möglicher Ausweg, Herr Bagci, aus dieser Situation, der Lage zwischen beiden Stühlen, wäre für die türkische Regierung, so hört man, die rivalisierenden Kurdengruppen im Nordirak gegeneinander auszuspielen. Da gibt es die POK und die DPC, und angeblich denkt die türkische Regierung darüber nach, die POK gegen die DPC zu unterstützen. Passiert das wirklich?

    Bagci: Frau Heuer, ich gehe davon aus, dass es vorbei ist, die kurdischen Gruppen gegeneinander auszuspielen. Das ist nicht mehr möglich, nachdem das Saddam-Regime weg ist, nachdem man im Irak eine neue Verfassung vorbereitet und die territoriale Integrität des neuen Irak gewährleistet wird. Danach hat die Türkei, wenn Sie so wollen, auch nicht mehr die Chance, diese rivalisierende kurdischen Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. Wir haben eine neue Phase, und von jetzt an werden wir auch eine andere Diplomatie erleben, wo die kurdischen Gruppierungen natürlich mit den Amerikanern und der Türkei neu zu verhandeln beginnen, aber ein Ausspielen der kurdischen Gruppierungen durch die Türkei finde ich keine Option mehr.

    Heuer: Hüseyin Bagci war das, der Politikwissenschaftler von der Universität in Ankara. Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Tag.

    Link: Interview als RealAudio