Lange: Herr Holtmann, die Union fährt einen Wahlsieg nach dem anderen ein. Trotzdem sieht Angela Merkel ihre Partei nicht in der optimalen Verfassung. Warum traut sie der eigenen Stärke so wenig?
Holtmann: Die Reaktion von Frau Merkel ist, auch in Anlehnung an die allgemeine Stimmung im Lande, nachvollziehbar. Denn es ist richtig, dass auf der einen Seite die rot-grüne Bundesregierung in das tiefe Tal des Umfragelochs abgestürzt ist. Aber wenn man mal genauer in die Zahlen hineinschaut, dann erfährt man beispielsweise auch, dass die Frage, ob denn eine CDU/CSU geführte Bundesregierung die anstehenden Aufgaben und Probleme besser lösen könnte als die Regierung Schröder, mehrheitlich von den Bundesbürgern verneint wird. Also ein gewissermaßen geborener Wechsel zur Oppositionspartei scheint sich hier nicht unbedingt zwingend anzudeuten und solche Daten und Ergebnisse werden sicherlich auch in der Führungsspitze der Union mit Aufmerksamkeit betrachtet.
Lange: Das ist zum einen der Blick auf die Wähler, zum anderen aber auch der Blick auf die eigene Verfassung. Die Auseinandersetzung, die Finanzierung des Gesundheitswesens, Kopfpauschale oder einkommensabhängig, die steht doch auch für mehr, als nur für die Gesundheitspolitik, oder?
Holtmann: Sie steht insgesamt auch für die Verknüpfung von Personen und Sachfragen, welche die Union im Hinblick auf die künftige Kanzlerkandidatenkür gar nicht entkoppeln kann. Und so gesehen sind Debatten über die künftige Reform des Gesundheitswesens nicht nur von unterschiedlichen sachlichen Erwägungen gleitet, sondern sie finden auch immer - wenngleich das unausgesprochen bleibt - unter dem Vorzeichen statt, gewissermaßen Positionsvorteile, Geländegewinne im innerparteilichen, oder sagen wir besser zwischenparteilichen, Kandidatenkampf zu erzielen.
Lange: Rächt es sich jetzt, dass Angela Merkel mit dem Herzog-Konzept genauso unvermittelt die Wende vollzogen hat wie die SPD in der Sozialpolitik? Hat sie da den gleichen Fehler gemacht?
Holtmann: Also sie hat zumindest vergleichbare Schwierigkeiten, als Fehler würde ich es nicht unbedingt bezeichnen. Denn Reformen, die auf der einen Seite Wähler nicht verschrecken sollen sind dann, wenn es darum geht, liebgewordene Besitzstände aufzulockern oder auch abzuschmelzen, kaum in einer sachten Gangart einzubeziehen. Hier wird es immer schmerzhafte Einbußen geben und das würden in einer vergleichbaren Situation die Unionsparteien sicherlich genauso erleben. So gesehen denke ich, ist es kein Fehler, aber es bringt Probleme mit sich. Probleme übrigens aber auch in Sonderheit für die CSU. Denn der 60 Prozent Sockel auf dem CSU als erfolgreiche Regionalpartei in Bayern seit den letzten Landtagswahlen aufruht, der bringt ja auch aus der Sicht der Parteistrategen selbst erhöhte Verpflichtungen mit sich. Das heißt, wenn man einen Gutteil der sogenannten kleineren Leute, der Bezieher unterer und mittlerer Einkommen und der Rentner hinter den eigenen Fahnen versammelt, dann stellt sich schon die Frage, ob man mit der Gesundheitsreform die soziale Balance einhält oder gefährdet in einem vergleichbar hohen Maße.
Lange: Wie viel Sprengstoff steckt denn in diesem Bemühen der CSU sich ein soziales Profil zu erhalten, vielleicht auch im Zweifelsfall gegen die Schwesterpartei?
Holtmann: Das ist sicherlich ein Sprengstoff, aber es ist auch im Hinblick auf die sachliche Konsistenz des Konzeptes noch diskussionswürdig. Soeben hat ja ein durchaus unionsnaher Experte offenbar ein Rechenmodell vorgelegt, nachdem bei einer Einführung der von Frau Merkel favorisierten Kopfpauschale nicht zuletzt auch die Bezieher kleinerer Einkommen und der Rentner vergleichsweise größere finanzielle Einbußen hinnehmen müssten. Dies ließe sich eigentlich nur kompensieren, indem man im Etat - also aus Steuermitteln - enorme Umschichtungen vornehmen würde. Das stellt aber wiederum die Frage nach den Obergrenzen der Verschuldung. Also die innerparteilichen Positionsprobleme überlagern sich in einer durchaus komplizierten Weise mit sachlichen Erfordernissen.
Lange: Den Zulauf hat die Union zur Zeit wegen der Unzufriedenheit mit der SPD. Im Regierungsfall will die Union aber, was die Reformen angeht, noch - ich sage es mal ganz profan - noch ganz anders hinlangen. Steht ihr dann das Schicksal der SPD bevor?
Holtmann: Sie wird - wenn es denn zu einem Regierungswechsel kommen sollte - sicherlich mit vergleichbaren Schwierigkeiten rechnen müssen. Sie hat aber möglicherweise einen Vorteil, nämlich den, dass wenn wir uns ein solches Szenario einmal vorstellen, dass dann ja die rot-grüne Bundesregierung gewissermaßen schon das Grobe geleistet hätte. Und eine Wahlbevölkerung, die dann schon länger mit den unpopulären Maßnahmen, mit den Einschnitten einer Agenda 2010 vertraut gemacht worden ist, deren Hinnahmemöglichkeit und deren Hinnahmefähigkeit gegenüber weitergehenden Einschnitten ist dann möglicherweise etwas größer. Also vom Gewöhnungseffekt mag dann auch eine alternative Regierung durchaus profitieren können.
Lange: Herr Holtmann, wenn Sie mit den Kenntnissen von heute eine Prognose wagen sollten, wie steht die Union in zwei Jahren da, besser oder schlechter?
Holtmann: Die für die Union, wie übrigens auch für die Regierungskoalition in Berlin wird der Ausgang der Langtagswahlen im Jahre 2005 in Nordrehein-Westfalen ein ganz entscheidender Dreh- und Angelpunkt sein, denn wenn diese Wahl für die rot-grüne Bundesregierung verloren geht, dann geht im Bundestag nichts mehr, dann hätte die Union eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Das wäre auf der Ebene der Machtgewichte in Berlin dann eine Blockadesituation, die sich entweder durch vorgezogene Neuwahlen oder durch eine große Koalition auflösen ließe. Innerparteilich täte die Union, und das scheint Frau Merkel auch zu reflektieren, gut daran, sich rechtzeitig in den entscheidenden Fragen, in den Fragen der sozialen Sicherungssysteme auf einheitliche und nach Außen hin entsprechende vermittelbare Konzepte zu verständigen. Und deshalb thematisiert sie es offensichtlich auch jetzt und heute.
Lange: In den Informationen am Mittag war das Professor Everhard Holtmann, Politikwissenschaftler an der Universität Halle. Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören.