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"Die Vertreibungsverbrechen sind wirklich systematisch aufgearbeitet worden"

Der Historiker Peter Steinbach hat die Entsendung von Arnold Tölg als stellvertretendes Mitglied des Stiftungsrates Flucht, Vertreibung, Versöhnung scharf kritisiert. Steinbach sagt sinngemäß, Tölg nehme eine starke Relativierung der Geschehnisse von 1945 vor, "indem man wirklich nicht mehr auf die Realitäten schaut."

Peter Steinbach im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 03.08.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Und mitgehört hat der eben schon genannte Professor Peter Steinbach, Historiker und Politikwissenschaftler an der Universität Mannheim, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Guten Morgen, Herr Professor Steinbach!

    Peter Steinbach: Guten Morgen!

    Heckmann: Herr Steinbach, Sie haben die Entsendung von Hartmut Saenger und Arnold Tölg scharf kritisiert. Bleiben Sie bei Ihrer Kritik ...

    Steinbach: ... ja, oh ja! ...

    Heckmann: ... oder ist die Uraufregung nicht ein wenig übertrieben?

    Steinbach: Nein, und nach diesem Gespräch, das Sie mit Herrn Tölg geführt haben, bleibe ich umso fester dabei, denn es wird also wirklich deutlich, dass es eine Art Relativierung gibt, indem man wirklich nicht mehr auf die Realitäten schaut. Nehmen wir mal den Begriff der Vertreibung, er hat viele Dimensionen. Die Tragödie der Deutschen im Osten begann, weil die nationalsozialistische Führung viel zu spät die Weichen für die Sicherheit gestellt hat, für die Flucht gestellt hat. Danach haben sich die Alliierten im Einklang mit dem Konzept der Zwischenkriegszeit auf Umsiedlungen großen Ausmaßes geeinigt, so wie es die deutsche Regierung auch schon mit den polnischen Bewohnern der Ostgebiete getan hat. Und danach setzt im Grunde eine Vertreibung ein, die dann wirklich zum Teil, wenn ich an Brünn, an Aussig, auch an polnische Städte denke, wirklich gewaltsam zuging. Nur Herr Tölg sieht überhaupt nicht, dass die Städte, die er beklagt, weil die Menschen raus sind, von anderen Menschen gefüllt wurden aus den polnischen Ostgebieten, die auch wieder von den Russen vertrieben worden sind, die hatten da eine ganz ...

    Heckmann: ... Herr Professor Steinbach, wenn ich da mal einhaken darf: Herr Tölg bestreitet ja nicht die Verbrechen der deutschen Seite, der Nationalsozialisten, sondern ihm geht es darum, dass auch die Verbrechen der anderen Seite benannt werden.

    Steinbach: Genau. Und da fällt er in viele Begriffe zurück. Erst mal gehört die Aufarbeitung der Vertreibung zu den ersten großen Projekten der westdeutschen Geschichtswissenschaft. Schon in den 50er-Jahren ist dieses individuelle Leid, das kollektive Dimension hatte, bestens erforscht worden.

    Heckmann: Aber es ist doch viel verschwiegen worden, oder?

    Steinbach: Es ist niemals verschwiegen worden, sondern es ist gewissermaßen entwickelt worden in der Auseinandersetzung, in der Thematisierung gegen eine verhärtete Gruppe, die in den 50er-Jahren schon so argumentiert hat wie Herr Tölg das heute gemacht hat. Das ist eigentlich das Problem. Die Vertreibungsverbrechen sind wirklich systematisch aufgearbeitet worden, nicht nur von den Vertriebenen, sondern etwa auch von einem Historiker wie Theodor Schieder, wie Hans-Ulrich Wehler, das muss man einfach mal zur Kenntnis nehmen. Und wenn diese Stiftung Versöhnung auch zum Ziel hat, dann funktioniert das nur, indem man die Isolierung des deutschen Leidens aufgibt und im Grunde eine Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Natürlich mit Kriegsgefangenen, mit Juden, mit Bombenopfern, auch mit den Bombenopfern auf der anderen Seite, mit den systematischen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten ... Das fehlt mir und solange wie dieses nicht erfolgt, sehe ich ganz, ganz große Schwierigkeiten. Das wichtige Anliegen einer Auseinandersetzung mit der Vertreibung in einer verantwortungsvollen Weise zu führen und zu verfolgen.

    Heckmann: Und das Ziel der Versöhnung wurde verfehlt, wenn Herr Tölg und Herr Saenger dort als Mitglieder des Stiftungsbeirats, als stellvertretende Mitglieder vertreten wären?

    Steinbach: Da bin ich ganz sicher. Denn die Argumentation, die ich gerade gehört habe, dazu gehört gar nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie diese Argumentation auf Polen, auf Tschechen wirkt, die sich mühsam durchgerungen haben, dieses Vorhaben auch gegen Alternativen dann auch mitzutragen. Wenn diese Argumentation ausgeschlachtet wird, dann prophezeie ich eine Neuauflage der Diskussionen, die wir in den vergangenen Jahren geführt haben. Und das dient nun wirklich weder der Beschäftigung mit der Geschichte der Vertreibung, noch dem Anliegen der Stiftung.

    Heckmann: Der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Professor Peter Steinbach, war das zum Streit um den BdV und die Stiftung, Vertreibungsstiftung in Berlin. Herr Professor Steinbach, Danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Und Sie können jederzeit unsere Interviews nachhören unter www.dradio.de!