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"Die vielen Leben des Jan Six"
Sozialgeschichte einer Dynastie und einer Stadt

Das Porträt des Amsterdamer Regenten Jan Six aus dem Jahr 1654 gehört zu den berühmtesten Gemälden Rembrandts. Bis heute gehört die Familie Six zu den reichsten Familien der Stadt. Wie es dazu kam und mit welchen Widrigkeiten die Dynastie zu kämpfen hatte, erzählt der Schriftsteller Geert Mak in "Die vielen Leben des Jan Six".

Von Jochen Schimmang | 03.02.2017
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    Geert Mak begibt sich in seinem neuen Buch auf die Spuren der Amsterdamer Dynastie Jan Six. (Deutschlandradio - Matthias Dreier)
    Welche Berufsbezeichnung man dem niederländischen Autor Geert Mak auch immer angehängt hat, ob Publizist, Reporter, Historiker oder Schriftsteller – über eins waren sich alle einig: dass er "ein begnadeter Geschichtenerzähler" sei, wie es die Universität Münster bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Mak im Fachbereich Geschichte und Philosophie formulierte. In der Tat erinnert dieser Autor in seiner Schreibweise deutlich daran, dass Geschichtsschreibung und Literatur in ihren Ursprüngen beinahe eins waren und ihre vorherrschende Form die Erzählung darstellte. Schließlich gehörte die Geschichtsschreibung in der Antike zu den Künsten. Dieser Zusammenhang, der nie ganz zerrissen wurde, tritt in den Büchern von Geert Mak ganz besonders deutlich zutage, und das begründet ihren Erfolg beim Publikum.
    1994 hatte Mak eine kleine Geschichte der Stadt Amsterdam publiziert, die drei Jahre später unter dem Titel Amsterdam. Biografie einer Stadt auch auf Deutsch vorlag. Das jetzt erschienene Buch "Die vielen Leben des Jan Six", bei uns übrigens fast zeitgleich mit dem niederländischen Original erschienen, kann als eine Variante dieser Amsterdam-Geschichte gelesen werden. Sie betreibt Stadtgeschichte als Familiengeschichte, und ihr Ausgangspunkt ist eines der berühmtesten Gemälde von Rembrandt, das keineswegs im Rijksmuseum hängt, sondern in einem Privathaus an der Amstel. Das Haus gehört der Familie Six, und das Gemälde ist das Porträt eines ihrer Vorfahren, des 1618 in Amsterdam geborenen Jan Six, später Mitglied des Amsterdamer Stadtrats und noch später Bürgermeister der Stadt.
    Sein Vater war als hugenottischer Flüchtling aus der Picardie in die damals freiheitlichste Stadt Europas gekommen. Er brachte das Vermögen mit, das er dort in der Tuchindustrie erworben hatte, und investierte es in Amsterdam neu. Seitdem gehörten "die Sixe" zu den reichsten und einflussreichsten Familien der Stadt, und in jeder Generation gab es einen Jan, der die Familiengeschäfte maßgeblich vertrat.
    Anhand dieser namentlichen Erbfolge schreibt Mak nun die Geschichte der Familie und damit zugleich noch einmal diejenige der Stadt Amsterdam. Ganz hinten im Buch findet sich dankenswerterweise ein Diagramm mit dem Stammbaum der Familie, an dem man sich orientieren kann, wenn Mak in seiner weit ausholenden Erzählung Rückbezug auf frühere Generationen nimmt.
    Dass er dem ersten Jan Six mehr Raum widmet als jedem seiner Nachfolger, ist nicht nur dadurch gerechtfertigt, dass der mit seiner Tätigkeit als Kunstsammler, Mäzen und als einer der Regenten der Stadt den Grundstein für die Stellung der Familie in der neuen Heimat gelegt hat. Das Leben von Jan Six dem Ersten fällt von den Daten her eben auch weitgehend mit dem legendären Goldenen Jahrhundert der Niederlande und insbesondere Amsterdams zusammen, das in der Mitte dieses Jahrhunderts zur reichsten Stadt Europas geworden war. Dieser Reichtum beruhte auf einem aggressiven Handelskapitalismus, der sich unter anderem in der brutalen kolonialistischen Praxis der Ostindischen Kompanie äußerte. In der Stadt Amsterdam kamen davon allerdings nur die Früchte an, bis es mit dem Golden Zeitalter vorbei war.
    Überleben in der obersten Etage der Amsterdammer Gesellschaft
    Alltag in Amsterdam: Die Stadt ist rund 800 Jahre alt, viele Gebäudefassaden stammen aus dem 17. Jahrhundert. 
    Einst gehörte Amsterdam zu den reichsten Städten Europas. (picture alliance / ZB / Waltraud Grubitzsch)
    Jan Six der Zweite, geboren 1668, erhält jedoch auch danach durch den Erwerb von Landbesitz, Immobilienhandel und Bautätigkeit der Familie ihre Stellung im Patriziat der Stadt. Und darauf kommt es an, denn die Zugehörigkeit zu diesem Milieu sichert Ämter und Pfründe, und dies über mehrere Jahrhunderte. Auch Heiratspolitik spielt dabei eine Rolle, nicht anders als bei den europäischen Staaten und Fürstengeschlechtern jener Zeit.
    Die Sixe überleben die Kollateralschäden der Französischen Revolution ebenso wie die Stagnation der Stadt Amsterdam Mitte des 19. Jahrhunderts in der obersten Etage der Amsterdamer Gesellschaft. Erst, als das Tempo der Moderne Einzug hält, um 1875, geraten die alten Amsterdamer Patrizierfamilien unter Druck. Mak schildert das so:
    "Es war eine Ökonomie der besonderen Art, in der jede dieser Familien eine Rolle spielte, eine ,Erbschaftsökonomie'. Deshalb war die Einführung der Erbschaftssteuer für Nachkommen in direkter Linie – in den Niederlanden im Jahr 1878 – ein bedeutender Einschnitt (...) Ende des 19. Jahrhunderts bestanden neunzig Prozent der europäischen Vermögen noch aus Geerbtem, nur zehn Prozent waren selbst verdient oder erspart. Und all das ererbte Geld war im Besitz einer sehr kleinen Gruppe ..."
    Kunstsammlung als Sicherung des Klassenerhalts
    Das ändert sich nun, und der Phalanx der Amsterdamer Patrizierfamilien stehen nun die Industriellen und die Parvenüs, die ihr Vermögen in Niederländisch-Indien, heute Indonesien, gemacht haben, gegenüber. Grundbesitz muss verkauft werden, und eine der Methoden, neues Geld in die Familie zu bringen, besteht darin, die eigenen Kinder mit reichen Söhnen oder Töchtern aus Amerika zu verheiraten. Jedoch:
    "Die Sixe mit ihrer einzigartigen Kunstsammlung blieben von dieser trübseligen Entwicklung noch weitgehend verschont. Allein schon der Besitz so vieler Gemälde und anderer Kunstschätze über so viele Generationen hinweg verlieh der Familie eine Ausstrahlung von zeitloser Größe ..."
    Geert Mak nimmt hier und da explizit auf dynastische Geschichten aus der Literatur Bezug, auf Lampedusas "Leopard" ebenso wie auf Thomas Manns "Buddenbrooks", was den deutschen Verlag unter anderem dazu inspiriert hat, Maks Buch als "die Buddenbrooks der Niederlande" anzupreisen. Angesichts der erzählerischen Stärke des Autors erscheint dieser Vergleich nicht einmal völlig abwegig, obwohl es sich hier um eine andere Form der Literatur handelt. Gert Mak, der in seiner Jugend zwar Jura, aber weder Geschichte noch Soziologie studiert hat, gelingt nämlich anhand der Familie Six nicht nur ein sehr plastisches Historienbild mit einer Fülle von prägnanten Geschichten, die allesamt den Keim von Romanen in sich tragen.
    Solide Sozialgeschichtsschreibung
    Mak legt hier zugleich eine sehr solide Sozialgeschichtsschreibung vor, soziologisch abgesichert durch die Erkenntnis, dass auch in vielen heutigen europäischen Gesellschaften Macht und Geld nach wie vor die Verfügungsmasse einer überschaubaren Anzahl von Familien sind. Der Epilog, der sich wesentlich um das Thema der Ungleichheit dreht, zeigt, dass er seine Arbeit auch selbst so verstanden hat.
    Für diese Arbeit standen ihm außer der vorhandenen Literatur und anderen Quellen auch alle Dokumente im heutigen Hause der Familie Six in Amsterdam zur Verfügung, das der Autor unzählige Male besucht hat. Dessen gegenwärtiger Hausherr ist Jan Six der Zehnte, geboren 1947. Sein Sohn Jan Six der Elfte, kam 1978 zur Welt, und seit 2013 ist durch Jan Karel, also Jan Six den Zwölften, der Fortbestand dieser Amsterdamer Dynastie wohl bis zum Ende unseres Jahrhunderts gesichert.
    Geert Mak: "Die vielen Leben des Jan Six. Geschichte einer Amsterdamer Dynastie". Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke. Siedler Verlag, München 2016, 510 S., 26,99 Euro.