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Die Violinsonaten von Edvard Grieg
Wiederentdeckung eines Meisterwerks

Die Geigerin Franziska Pietsch und der Münchner Pianist Detlev Eisinger haben sich einem etwas vergessenen Werk gewidmet: den Violinsonaten von Edvard Grieg. Beide zeigen, wie originell und effektvoll vor allem die letzten beiden Sonaten sind. Diese Aufnahme dürfte für viele Hörer vermutlich in mehrfacher Hinsicht eine Entdeckung sein.

Von Raoul Mörchen | 20.09.2015
    Der norwegische Komponist und Pianist Edvard Hagerup Grieg (1843 - 1907).
    Der norwegische Komponist und Pianist Edvard Grieg. (imago/United Archives)
    Heute mit einer Gesamtaufnahme von Violinsonaten, die selbst Fachleute kaum näher kennen, obwohl sie einmal ziemlich populär waren und dazu noch von einem Komponisten stammen, der bis heute ein Liebling des Publikums ist. Sein Klavierkonzert und seine Musik für ein Schauspiel von Henrik Ibsen gehören zu den meistgespielten Werken der Klassik, in seinem Heimatland Norwegen wurde er schon zu Lebzeiten als Nationalheld gefeiert. Sein Name: Edvard Grieg. Griegs Violinsonaten haben nun die Geigerin Franziska Pietsch und der Pianist Detlev Eisinger eingespielt für das Label Audite.
    Sonate Nr. 2, 1. Satz – Lento doloroso
    Wüssten wir's nicht besser, wir würden diese Musik in einem ganz anderen Land verorten: in Frankreich vermutlich. Der schwärmerische Tonfall, das Zögern, das Aufbrausen und das weite Aussingen der verträumten Melodie, der milde Glanz der Klänge – das alles passt wunderbar in einen Pariser Salon um 1860 oder 1870, das hätte Cesar Franck eingefallen sein können oder Gabriel Fauré. Doch das alles ist Edvard Grieg eingefallen, einem Norweger. Es scheint allerdings, als wolle der uns mit voller Absicht irreführen, uns desorientieren, damit der Coup, den er nach seiner Einleitung parat hält, uns umso mehr überrascht: Nach dem so französischen Lento doloroso zieht Grieg den Vorhang mit einem schnellen Griff beiseite, und statt in einem vornehmen Salon stehen wir plötzlichen mitten im fröhlichen Trubel eines norwegischen Dorffestes.
    Sonate Nr. 2, 1. Satz – Allegro vivace
    Wenn wir heute leichtfertig sagen, Musik sei eine internationale Sprache, so hätte im späten 19. Jahrhundert nicht nur Edvard Grieg darauf wohl entgegnet: eine internationale Sprache, schon möglich, aber eine Sprache, die gefärbt ist von starken lokalen Dialekten. Als Grieg seine Violinsonate op.13 schrieb, 1867, begann er darüber erstmals nachzudenken: über die Verwurzelung der Musik in alten Volkstraditionen und die Möglichkeit, kompositorisch die eigene kulturelle Herkunft zu bezeugen. Diese Frage beschäftige damals auch viele seiner Kollegen. Einerseits reagierten sie damit auf den Nationalismus, der die Politik in Europa zusehends bestimmte, andererseits versuchten gerade Komponisten aus kleineren Ländern, der Übermacht der hochentwickelten deutsch-österreichischen Musikkultur etwas Eigenes, Ursprüngliches entgegenzusetzen.
    Nicht jeder allerdings war von der neuen Entwicklung begeistert: Nach der Premiere der zweiten Violinsonate soll Griegs Mentor und Lehrer, der Däne Niels Wilhelm Gade auf ihn zugekommen sein mit den Worten: "Nein, Grieg, die nächste Sonate müssen sie nicht so norwegisch machen!" Worauf der entgegnet haben soll. "Im Gegenteil, Herr Professor, die nächste wird noch schlimmer."
    Sonate Nr. 2, 2. Satz
    So fasziniert Edvard Grieg auch zeitlebens blieb von den alten Melodien und Tänzen seiner norwegischen Heimat und so stolz er darauf war, dem damals noch unter dänischer Herrschaft stehenden Land eine eigene Stimme zu verleihen, so wenig hat er sich doch als Nationalist vereinnahmen lassen. Schon die so norwegische zweite Sonate bleibt weitgehend den klassischen Formmodellen aus Wien treu, und die dritte Sonate schließlich, die er 1887, im Abstand von 20 Jahren schrieb, geriet keineswegs, wie angekündigt, noch norwegischer, sondern im Gegenteil: Sie setzt sich sehr selbstbewusst und erfolgreich über lokale und geografische Schranken hinweg und wurde nach ihrer Uraufführung in ganz Europa gefeiert - als Meisterwerk, das weiterführt, was Mozart, Beethoven und Schumann in dieser Gattung hinterlassen haben. Umso merkwürdiger ist es da, dass man heute nicht nur den ersten beiden, sondern auch der dritte Violinsonate von Edvard Grieg kaum noch im Konzertsaal begegnet. Wie originell und effektvoll vor allem die letzten beiden Sonaten sind, darin erinnern Franziska Pietsch und Detlev Eisinger in einer Aufnahme, die für viele Hörer vermutlich eine mehrfache Entdeckung sein wird: eine Entdeckung des Sonatenkomponisten Edward Grieg und die Entdeckung einer fabelhaften Geigerin.
    Sonate Nr.3, 1. Satz
    1970 in Ost-Berlin geboren, kam der Karriere der Geigerin Franziska Pietsch die Politik in die Quere. Als Kind schon vom Staat nach allen Kräften gefördert, wurde sie 1983, nach der Westflucht ihres Vaters, vom Regime fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. 1986 entschloss auch sie sich, die DDR zu verlassen und fand an der Musikhochschule Karlsruhe in Ulf Hoelscher einen neuen Lehrer. Der Start ins professionelle Leben war danach zwar nicht mehr so steil wie einst erwartet, doch er führte über viele Jahre als Konzertmeisterin schließlich doch zum Ziel: zur Kammermusik nämlich, der sich Franziska Pietsch mittlerweile am liebsten widmet - in dem von ihr mitbegründeten Klaviertrio "Testore" und als Partnerin des Münchner Pianisten Detlev Eisinger.
    Die Sonaten von Grieg fasst Pietsch sehr beherzt an: Nirgendwo klingt sie unentschlossen und lau, ihre Technik sitzt sicher, erlaubt ihr ein zuweilen halsbrecherisches Tempo und eine großes Ausdruckspanorama von zarter, schmelzender Poesie über scharfe und derbe Rhythmik bis hin zu jubelndem Überschwang. Zwar wünschte man sich den vibratosatten Ton im Pianissimo etwas schlanker, doch dafür wird man im Forte von einem Klang von monumentaler Größe mehr als entschädigt.
    Dass soviel Energie Detlev Eisinger zum bloßen Begleiter degradieren könnte, davor schiebt schon der hochvirtuose Klavierpart von sich aus einen Riegel. Eisinger verleiht ihm viel Brillanz, er bleibt sicher auf Augenhöhe: Tatsächlich heißen Griegs Violinsonaten ja auch gar nicht "Violinsonaten", sondern, wie einst schon die von Beethoven, "Sonaten für Klavier und Violine". Hier geht's nicht um Führung, sondern Partnerschaft. Franziska Pietsch und Detlev Eisinger wissen das.
    Sonate Nr.3, 3. Satz
    Allegro animato – Prestissimo. Franziska Pietsch, Violine, und Detlev Eisinger, Klavier, spielten das Finale der Sonate c-Moll op.45 von Edvard Grieg. Für das Label Audite haben das Duo Pietsch und Eisinger alle drei Sonaten Griegs für Klavier und Violine eingespielt. Raoul Mörchen hat Ihnen die neue CD vorgestellt, herzlichen Dank fürs Zuhören.
    "Edvard Grieg: The Violin Sonatas", Franziska Pietsch, Violine, Detlev Eisinger, Klavier, Audite 97.707