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Karl Rühmann: „Die Wahrheit, vielleicht“
Die Wahrheit ist ein scheues Tier

Der Schweizer Autor Karl Rühmann erzählt in seinem neuen Roman von einem Verhörspezialisten, der auf der Suche nach der Wahrheit ist - in seinem eigenen Leben und in dem Leben der Anderen. Dabei erweist sich nicht nur die Sprache als Hürde.

Von Cornelius Wüllenkemper | 08.07.2022
Karl Rühmann: "Die Wahrheit, vielleicht"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Karl Rühmann: "Die Wahrheit, vielleicht" (Buchcover: rüffer & rub Verlag / Foto: Franz Noser)
Kurze, klare Sätze, die keinen Zweifel lassen. Karl Rühmann taucht von Beginn an ein in die Welt der analytischen Sprache, der gezirkelten Fragen und Antworten. Sein Protagonist Felipe ten Holt ist Verhörspezialist und arbeitet für einen europäischen Geheimdienst in der Terrorbekämpfung. Sein Ausbilder, der geheimnisvolle Feymann, gab seinen Schülern ein Handwerkszeug mit auf den Weg, das Felipe später auch auf der Suche nach der Wahrheit über sein eigenes Leben gebrauchen wird:
„Feymann hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. Er legte die Fälle aus, als wären sie Porzellantassen, umriss mit wenigen Worten den Sachverhalt, nahm die Brille ab und lehnte sich zurück. Nun war es an uns, in scheinbar perfekten Ordnungen, die er vor uns ausgebreitet hatte, nach Widersprüchen zu suchen, in harmonischen Tonfolgen nach Dissonanzen. Wir schauten oft in die falsche Richtung, übersahen die aufschlussreiche Peripherie zugunsten des wertlosen Kerns, verfingen uns in vermeintlichen Kausalketten, griffen dankbar nach jeder noch so oberflächlichen Plausibilität.“
Plausibel, klar und eindeutig sind aber weder die Verhöre noch Felipes eigenes Leben. Karl Rühmann erzählt die Geschichte seines Protagonisten auf drei Ebenen parallel, visuell abgesetzt durch verschiedene Schrifttypen. Felipes Kindheit und Jugend, seine Ausbildung als Verhörspezialist und, nachdem ihm im Verhör ein Fehler mit fatalen Folgen unterlaufen ist, sein gegenwärtiger Alltag als amtlich bestellter Dolmetscher.

Sprache - Instrument der Abgrenzung und Macht

Beginnen wir am Anfang: Felipe kommt als Kind einer Spanierin und eines Niederländers in Zürich auf die Welt. Der Vater ist Sportlehrer, die Mutter, nur 21 Jahre alt, muss ihren Traum von einer Karriere als Literaturkritikerin vorerst begraben. Felipes Kindheit ist wie ein Gang durch einen dunklen Tunnel: Er ist hin und her gerissen zwischen seiner spanischsprachigen, kulturell interessierten Mutter, und seinem niederländischen, sportlich veranlagten Vater. Sprache dient in dieser Familie nicht als Mittel der Kommunikation, sondern als Instrument der Abgrenzung und Machtdemonstration. Diese psychologische Grundspannung erfährt eine weitere Umdrehung nach der zweifelhaften Verurteilung von Felipes Vater wegen des angeblichen Missbrauchs einer Schülerin. Felipe wächst fortan als Stiefkind auf und ficht mit dem neuen Vater Alfred einen erbitterten Machtkampf um die Nähe zur Mutter aus.
„Ich war traurig, weil ich Pappie vermisste. Weil ich diesen Alfred nicht wollte. Und weil ich meine Mutter enttäuscht hatte. Die ersten beiden Traurigkeiten passten noch zusammen, aber die dritte nicht mehr, das machte alles noch schlimmer. Ich hatte bereits genügend Erfahrung mit dem Traurigsein gesammelt und wusste, dass der Weg hinaus über die Wut führte.“
Karl Rühmann verknüpft die Schilderung dieser prototypischen familienpsychologischen Konstellation mit Felipes späterem Leben als Erwachsener. Als Sohn ringt Felipe erbittert um die Wahrheit über seinen Vater und über das vermeintlich böse Wesen seines Stiefvaters.

Mitmenschen sind „Fälle“

Als Vernehmer und später als Dolmetscher geht Felipe wiederum dem Wahrheitsgehalt von amtlichen Verhören auf den Grund. Auch seine Mitmenschen nimmt Felipe, der mittlerweile ein einsames Leben als überqualifizierter Dolmetscher fristet, in seiner Wahrhaftigkeits-Obsession zunehmend als „Fälle“ wahr, die es zu analysieren und kategorisieren gilt, auch an der Kasse im Supermarkt:
„Der Mann vor mir verteilt den Inhalt seines Korbs auf dem Band: Knuspermüsli mit Schokoraspeln, Ketchup, Backofen-Pommes, zwei Bio-Bananen, Instant-Pudding mit Vanillegeschmack. Ich muss nicht lange überlegen. Sein Einkaufszettel ist das Resultat schwieriger Verhandlungen, die Bio-Bananen sind nur dabei, damit die unterlegene Partei, vermutlich der Mann selbst, das Gesicht wahren kann.“

Karl Rühmann pflegt einen sehr genauen, deskriptiv-distanzierten Stil, Sinnlichkeit oder gar Übersinnlichkeit, Widersprüche, Zwischentöne und Phantasie spielen hier kaum eine Rolle. Seine Figuren wirken wie - freilich sehr ausgefeilte, gut recherchierte - Statisten eines literarischen Versuchsaufbaus, der ebenso gut in ein psychopathologisches Sachbuch gepasst hätte.

Kuriose Wendungen, allzu steifes Korsett

Die Handlungselemente und Erzählebenen arrangiert Rühmann nicht immer geschickt: Die Beschreibung von Felipes Arbeitsalltag als Dolmetscher etwa ist nicht nur repetitiv, sie ist auch erzählökonomisch kaum nachvollziehbar. Einige kuriose Handlungswendungen wie etwa der sehr plötzliche, auf wenige Zeilen verdichtete Tod von Felipes Mutter, immerhin seiner zentralen Bezugsperson, verstärken einen grundlegenden Leseeindruck: Karl Rühmann befasst sich in seinem Roman mit einem durchaus interessanten Thema, nämlich der verzweifelten Suche nach der einen, eindeutigen Wahrheit, die hinter falscher Plausibilität versteckt sein kann. Leider hat er seine einzeln betrachtet durchaus guten Einfälle in ein erzählerisch allzu steifes Korsett gezwungen.
Karl Rühmann: „Die Wahrheit, vielleicht“
rüffer & rub literatur, Zürich, 2022. 223 Seiten, 22 Euro.