Spengler: Heute Abend wir der Bundeskanzler nach Paris zu einem informellen deutsch-französischen Gipfeltreffen mit Staatspräsident Jacques Chirac fliegen. An Gesprächsstoff dürfte es nicht mangeln. Etliche Probleme haben sich in den letzten Monaten angestaut. In unserem Programm soll es in den kommenden Minuten auch um das deutsch-französische Verhältnis, vor allem aber um den Zustand der Europäischen Union gehen. Beides hängt ja eng zusammen. Mein Gesprächspartner ist der ehemalige Generalsekretär der CDU und jetzige Europapolitische Sprecher der Unionsbundestagsfraktion, Peter Hintze. Herr Hintze, der Stabilitätspakt ist brüchig, die EU-Außenpolitik kaum erkennbar. Zehn Kandidatenstaaten wollen aufgenommen werden, und die dazu notwendige Agrarreform wird von Paris blockiert. Ist das noch die normale Krise der EU, oder ist das schon mehr?
Hintze: Also ich denke, die Europäische Union steht am Scheideweg. Angesichts ganz großer Projekte, der Erarbeitung einer europäischen Verfassung, der Erweiterung der Europäischen Union um zehn Mitgliedsstaaten und der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die Frage, ob hier die Nationalstaaten bereit sind, einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben und insgesamt gemeinsam mehr zu schaffen, oder ob wir so einen Rückfall ins Nationalstaatliche bekommen. Also die Worte von Bundeskanzler Schröder von einem Deutschen Sonderweg klangen da reichlich wenig europäisch, und auch aus anderen Staaten ist da manches zu hören. Jetzt sagen die Niederländer, die Erweiterung können wir gar nicht machen, wenn wir vorher die Agrarreform nicht hinkriegen, wir wollen die Themen ja noch im einzelnen durchsprechen. Also wir stehen schon am Scheideweg.
Spengler: Was ist denn Ihre Meinung? Ist die Idee einer Europäischen Union möglicherweise doch ein Irrweg, einfach weil die Kernstaaten Europas nicht bereit sind, ihre Souveränität zugunsten der Gemeinschaft zu opfern?
Hintze: Also für mich gibt es zur Europäischen Union in einer dramatisch wachsenden Welt mit Aufgaben, für die die Nationalstaaten viel zu klein sind, gar keine Alternative, und ich werbe dafür, dass wir diese große Chance ergreifen, und ich habe auch die Hoffnung, dass jetzt nach dem Wahlkampf vielleicht auch unsere Bundesregierung wieder zur Einsicht kommt, dass ein deutscher Sonderweg, das Gegeneinander der Staaten, aber auch was in den letzten Jahren eingerissen ist, dass die Großen gegen die Kleinen vorgegangen sind, dass das ein Ende hat und man wieder zur europäischen Gemeinsamkeit zurückkehrt. Wir brauchen das dringend, weil selbst Deutschland als größter Mitgliedsstaat der Europäischen Union viel zu klein ist, um die großen Probleme auf der Welt wirklich zu lösen, und die Folgen von Nicht-Lösungen würden uns massiv betreffen.
Spengler: Das heißt die Bundesregierung müsste heute Abend die Gelegenheit nutzen, also beim deutsch-französischen Gipfeltreffen. Dass der deutsch-französische Motor, der viel beschworen wird, seit einigen Monaten, vielleicht sogar Jahren nicht rund läuft, liegt ja nicht nur an der deutschen Seite, oder?
Hintze: Nein, da haben beide Seiten ihre Verantwortung, aber es gibt ja ein großes Datum, vor dem wir stehen: Am 22. Januar 2003 jährt sich der Elysee-Vertrag zum 40. Mal, der Partnerschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich, und ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier Vorschläge macht, wie dieses Jubiläum nicht nur ein schöner Rückblick über Gelungenes werden kann, sondern auch ein kraftvoller Neubeginn für Neues, denn Europa ist dann immer gut dran gewesen, wenn Deutschland und Frankreich zusammengearbeitet haben. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben vorgeschlagen, dass der Deutsche Bundestag und die Assemblée Nationale, das Französische Parlament, zu einer feierlichen Sitzung zusammenkommen und diesen Vertrag bekräftigen und eben auch Zukunftsaussichten hinzufügen. Man könnte auch überlegen, ob man nicht sagt, wir werden daran den größten der Beitrittsstaaten beteiligen und mit Deutschland, Frankreich und Polen das Fundament für die Europäische Union weiter festigen.
Spengler: Solche Symbolik ist sicher wichtig, gerade auch im Verhältnis zu Frankreich - da gibt Ihnen wahrscheinlich jeder Recht -, aber man muss natürlich sich auch konkret einigen. Wie bekommt man den Frankreich dazu, zum Beispiel einem Abbau der Agrarsubventionen zuzustimmen? Das hat ja schon 1999 beim Agenda-Gipfel in Berlin nicht geklappt.
Hintze: Das war in der Tat ein gescheiterter Versuch damals bei der Erarbeitung der Agenda 2000. Ich glaube, ein Kompromiss könnte so aussehen, dass wir sagen, OK, die Laufzeit der Agenda 2000 rühren wir inhaltlich nicht an. Das ist für die Landwirte eine Verlässlichkeit, dass bis zum Jahre 2006 die Subventionsregeln gelten, wie sie heute gelten, aber die Agrarreform ab 2007 wollen wir vorher schon entwickeln, so dass sich jeder darauf einstellen kann, und da finde ich in der Grundrichtung das, was die Kommission vorschlägt, nämlich die Subventionen von der Höhe der Produktion abzukoppeln, im Ansatz einen richtigen Gedanken.
Spengler: Kommen wir zur gemeinsamen Außenpolitik der EU. Die steht auch schon seit Jahren auf dem Papier. Derzeit ist nicht viel davon zu spüren, ob man sich nun an das Thema Irak erinnert oder an den internationalen Strafgerichtshof, wo es nun wieder mehrere Ausnahmen für EU-Mitglieder geben soll. Was halten Sie davon?
Hintze: Eine gemeinsame Außenpolitik ist das wichtigste Entwicklungsfeld der nächsten Jahre zusammen mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch das neuralgischste, weil hier die Souveränität der Staaten angesprochen ist. Ich denke, wir brauchen auf Dauer eine gemeinsame europäische Armee, also die Möglichkeit, unsere Militärausgaben effizienter einzusetzen.
Spengler: Nicht nur eine Eingreiftruppe, wie es im Augenblick geplant ist?
Hintze: Nein, ich glaube, wir brauchen in Zukunft eine gemeinsame europäische Armee - die Eingreiftruppe ist ein erster Schritt dazu -, und wir brauchen hier mehr Entschlossenheit. Dass die Vereinigten Staaten jetzt zum Beispiel den Vorschlag machen, eine NATO-Eingreiftruppe aufzustellen, ist ja unter anderem auch eine Reaktion auf das zögerliche Vorgehen der Europäer, und meine Antwort wäre, OK, wir machen bei einer solchen NATO-Eingreiftruppe mit, aber dann als Europäische Union. Das wäre natürlich ein gewaltiger Fortschritt. Sicherlich gibt es hier noch einige Hürden zu überwinden, und Sie wissen, dass die Vereinbarungen im Moment das noch nicht hergeben, auch die Europäischen Verträge nicht, weil die Beistandsvorschriften, etwa aus dem WEU-Vertrag ja ausdrücklich nicht übernommen sind. Aber das wäre ein kraftvoller Schritt. Ich glaube, dass die Bürger in Europa in Zukunft viel Sicherheit wollen aber kaum bereit sind, sehr viel mehr Geld für Verteidigung insgesamt auszugeben. Dann ist es wichtig, dass man das Geld, was man ausgibt, in den einzelnen Nationalstaaten effizienter einsetzt.
Spengler: Um einen anderen neuralgischen Punkt anzusprechen, den Euro und die für den Euro entwickelten Stabilitätsprogramme. Für wie gefährdet halten Sie denn eigentlich die Stabilität der Gemeinschaftswährung, wenn Länder wie Italien, Portugal und Deutschland Probleme haben, die Defizit-Grenzen zu beachten, und wenn Frankreich offenbar gar nicht mehr die Grenze beachten will?
Hintze: Also das sind zwei verschiedene Komplexe. Das eine ist, ich glaube, der Euro braucht klare Regeln, an die sich die Staaten halten, und nicht Regeln, die sich dann jeweils nach dem Verhalten der Staaten verändern, und besonders fatal ist es - Sie haben es eben angesprochen -, wenn jetzt aus Italien die Idee kommt, bestimmte Schulden, etwa für öffentliche Investitionen, gar nicht mehr in den Schuldenstand mit einzurechnen, oder Militärausgaben - so haben es die Franzosen vorgeschlagen - nicht in den Schuldenstand mit einzurechnen. Also Schuldenfantasie können wir hier nicht gebrauchen, sondern wir müssen zurück zu klaren Regeln. Die Neuverschuldungsobergrenze von 3 Prozent muss eisern eingehalten werden. Es ist schon ein denkwürdiger Vorgang, dass der deutsche Bundesfinanzminister zwei Tage nach der Bundestagswahl auf einmal nach Brüssel meldet, wir sind bei 2,9 Prozent angekommen, also Millimeter unter der Obergrenze - das wusste er natürlich schon lange vor der Bundestagswahl. Es gibt ja auch Befürchtungen, dass wir die Obergrenze in diesem Jahr verletzen, 3 Prozent überschreiten, und dann muss für uns die gelbe Karte kommen. Die Regel muss für alle gelten, für die Großen und Kleinen in Euroland.
Spengler: Am Euro selber zweifeln Sie nicht?
Hintze: Nein, der Euro ist, wie ich finde, eine der wichtigsten Zukunftsentscheidungen überhaupt. Er ist auch eine richtige Zukunftsentscheidung, aber er setzt natürlich auf Verlässlichkeit, und die Mitgliedsstaaten in Euroland, die die Kriterien erfüllen, sagen natürlich zurecht, wir haben uns angestrengt, wir haben es geschafft, da müssen sich die anderen auch anstrengen.
Spengler: Viele Bürger sind allerdings ziemlich verzweifelt, was die Umstellung auf den Euro angeht und was die doch deutlich zu spürenden Preiserhöhungen angeht.
Hintze: Ja, das bekomme ich auch zu hören. Es wird oft angesprochen, gerade im Gastronomie-Bereich oder im Bereich von Lebensmitteln. Das ist richtig. Aber die Grundkonstruktion des Euro als eine gemeinsame starke Währung in einem großen gemeinsamen Wirtschaftsraum war goldrichtig, und sie wird sich auch in Zukunft noch als die entscheidende Maßnahme für Stabilität und wirtschaftliche Stärke erweisen.
Spengler: Zehn Kandidatenstaaten stehen vor der Tür und wollen Mitglied der EU werden. Könnte es sein, dass die Union möglicherweise einmal an ihrer Größe erstickt? Sie wäre ja nicht das einzige Imperium, das an der Größe untergeht.
Hintze: Also was wichtig ist, ist dass das Größenwachstum und die Vertiefung miteinander Schritt halten. Also wenn Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Zypern und Slowenien dazukommen, dass das auch zugleich ein Prozess nicht nur der Vergrößerung der Europäischen Union ist, sondern auch der Bereicherung und der Vertiefung, dass wir gegenseitig voneinander gewinnen, und dass wir auch zusammen beschließen, nicht nur größer, sondern auch stärker zu sein, und dann ist es auch eine gute Sache. Ich stehe zur Erweiterung. Ich finde sie wichtig, und ich hoffe, dass die Fortschrittsberichte, die am 9. Oktober 2002 von der Kommission mitgeteilt werden, sagen, wir sind erweiterungsfähig, und wir nutzen eine Chance, wenn wir die Erweiterung durchführen.
Spengler: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio
Hintze: Also ich denke, die Europäische Union steht am Scheideweg. Angesichts ganz großer Projekte, der Erarbeitung einer europäischen Verfassung, der Erweiterung der Europäischen Union um zehn Mitgliedsstaaten und der Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist die Frage, ob hier die Nationalstaaten bereit sind, einen Teil ihrer Souveränität aufzugeben und insgesamt gemeinsam mehr zu schaffen, oder ob wir so einen Rückfall ins Nationalstaatliche bekommen. Also die Worte von Bundeskanzler Schröder von einem Deutschen Sonderweg klangen da reichlich wenig europäisch, und auch aus anderen Staaten ist da manches zu hören. Jetzt sagen die Niederländer, die Erweiterung können wir gar nicht machen, wenn wir vorher die Agrarreform nicht hinkriegen, wir wollen die Themen ja noch im einzelnen durchsprechen. Also wir stehen schon am Scheideweg.
Spengler: Was ist denn Ihre Meinung? Ist die Idee einer Europäischen Union möglicherweise doch ein Irrweg, einfach weil die Kernstaaten Europas nicht bereit sind, ihre Souveränität zugunsten der Gemeinschaft zu opfern?
Hintze: Also für mich gibt es zur Europäischen Union in einer dramatisch wachsenden Welt mit Aufgaben, für die die Nationalstaaten viel zu klein sind, gar keine Alternative, und ich werbe dafür, dass wir diese große Chance ergreifen, und ich habe auch die Hoffnung, dass jetzt nach dem Wahlkampf vielleicht auch unsere Bundesregierung wieder zur Einsicht kommt, dass ein deutscher Sonderweg, das Gegeneinander der Staaten, aber auch was in den letzten Jahren eingerissen ist, dass die Großen gegen die Kleinen vorgegangen sind, dass das ein Ende hat und man wieder zur europäischen Gemeinsamkeit zurückkehrt. Wir brauchen das dringend, weil selbst Deutschland als größter Mitgliedsstaat der Europäischen Union viel zu klein ist, um die großen Probleme auf der Welt wirklich zu lösen, und die Folgen von Nicht-Lösungen würden uns massiv betreffen.
Spengler: Das heißt die Bundesregierung müsste heute Abend die Gelegenheit nutzen, also beim deutsch-französischen Gipfeltreffen. Dass der deutsch-französische Motor, der viel beschworen wird, seit einigen Monaten, vielleicht sogar Jahren nicht rund läuft, liegt ja nicht nur an der deutschen Seite, oder?
Hintze: Nein, da haben beide Seiten ihre Verantwortung, aber es gibt ja ein großes Datum, vor dem wir stehen: Am 22. Januar 2003 jährt sich der Elysee-Vertrag zum 40. Mal, der Partnerschaftsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich, und ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie hier Vorschläge macht, wie dieses Jubiläum nicht nur ein schöner Rückblick über Gelungenes werden kann, sondern auch ein kraftvoller Neubeginn für Neues, denn Europa ist dann immer gut dran gewesen, wenn Deutschland und Frankreich zusammengearbeitet haben. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben vorgeschlagen, dass der Deutsche Bundestag und die Assemblée Nationale, das Französische Parlament, zu einer feierlichen Sitzung zusammenkommen und diesen Vertrag bekräftigen und eben auch Zukunftsaussichten hinzufügen. Man könnte auch überlegen, ob man nicht sagt, wir werden daran den größten der Beitrittsstaaten beteiligen und mit Deutschland, Frankreich und Polen das Fundament für die Europäische Union weiter festigen.
Spengler: Solche Symbolik ist sicher wichtig, gerade auch im Verhältnis zu Frankreich - da gibt Ihnen wahrscheinlich jeder Recht -, aber man muss natürlich sich auch konkret einigen. Wie bekommt man den Frankreich dazu, zum Beispiel einem Abbau der Agrarsubventionen zuzustimmen? Das hat ja schon 1999 beim Agenda-Gipfel in Berlin nicht geklappt.
Hintze: Das war in der Tat ein gescheiterter Versuch damals bei der Erarbeitung der Agenda 2000. Ich glaube, ein Kompromiss könnte so aussehen, dass wir sagen, OK, die Laufzeit der Agenda 2000 rühren wir inhaltlich nicht an. Das ist für die Landwirte eine Verlässlichkeit, dass bis zum Jahre 2006 die Subventionsregeln gelten, wie sie heute gelten, aber die Agrarreform ab 2007 wollen wir vorher schon entwickeln, so dass sich jeder darauf einstellen kann, und da finde ich in der Grundrichtung das, was die Kommission vorschlägt, nämlich die Subventionen von der Höhe der Produktion abzukoppeln, im Ansatz einen richtigen Gedanken.
Spengler: Kommen wir zur gemeinsamen Außenpolitik der EU. Die steht auch schon seit Jahren auf dem Papier. Derzeit ist nicht viel davon zu spüren, ob man sich nun an das Thema Irak erinnert oder an den internationalen Strafgerichtshof, wo es nun wieder mehrere Ausnahmen für EU-Mitglieder geben soll. Was halten Sie davon?
Hintze: Eine gemeinsame Außenpolitik ist das wichtigste Entwicklungsfeld der nächsten Jahre zusammen mit der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber auch das neuralgischste, weil hier die Souveränität der Staaten angesprochen ist. Ich denke, wir brauchen auf Dauer eine gemeinsame europäische Armee, also die Möglichkeit, unsere Militärausgaben effizienter einzusetzen.
Spengler: Nicht nur eine Eingreiftruppe, wie es im Augenblick geplant ist?
Hintze: Nein, ich glaube, wir brauchen in Zukunft eine gemeinsame europäische Armee - die Eingreiftruppe ist ein erster Schritt dazu -, und wir brauchen hier mehr Entschlossenheit. Dass die Vereinigten Staaten jetzt zum Beispiel den Vorschlag machen, eine NATO-Eingreiftruppe aufzustellen, ist ja unter anderem auch eine Reaktion auf das zögerliche Vorgehen der Europäer, und meine Antwort wäre, OK, wir machen bei einer solchen NATO-Eingreiftruppe mit, aber dann als Europäische Union. Das wäre natürlich ein gewaltiger Fortschritt. Sicherlich gibt es hier noch einige Hürden zu überwinden, und Sie wissen, dass die Vereinbarungen im Moment das noch nicht hergeben, auch die Europäischen Verträge nicht, weil die Beistandsvorschriften, etwa aus dem WEU-Vertrag ja ausdrücklich nicht übernommen sind. Aber das wäre ein kraftvoller Schritt. Ich glaube, dass die Bürger in Europa in Zukunft viel Sicherheit wollen aber kaum bereit sind, sehr viel mehr Geld für Verteidigung insgesamt auszugeben. Dann ist es wichtig, dass man das Geld, was man ausgibt, in den einzelnen Nationalstaaten effizienter einsetzt.
Spengler: Um einen anderen neuralgischen Punkt anzusprechen, den Euro und die für den Euro entwickelten Stabilitätsprogramme. Für wie gefährdet halten Sie denn eigentlich die Stabilität der Gemeinschaftswährung, wenn Länder wie Italien, Portugal und Deutschland Probleme haben, die Defizit-Grenzen zu beachten, und wenn Frankreich offenbar gar nicht mehr die Grenze beachten will?
Hintze: Also das sind zwei verschiedene Komplexe. Das eine ist, ich glaube, der Euro braucht klare Regeln, an die sich die Staaten halten, und nicht Regeln, die sich dann jeweils nach dem Verhalten der Staaten verändern, und besonders fatal ist es - Sie haben es eben angesprochen -, wenn jetzt aus Italien die Idee kommt, bestimmte Schulden, etwa für öffentliche Investitionen, gar nicht mehr in den Schuldenstand mit einzurechnen, oder Militärausgaben - so haben es die Franzosen vorgeschlagen - nicht in den Schuldenstand mit einzurechnen. Also Schuldenfantasie können wir hier nicht gebrauchen, sondern wir müssen zurück zu klaren Regeln. Die Neuverschuldungsobergrenze von 3 Prozent muss eisern eingehalten werden. Es ist schon ein denkwürdiger Vorgang, dass der deutsche Bundesfinanzminister zwei Tage nach der Bundestagswahl auf einmal nach Brüssel meldet, wir sind bei 2,9 Prozent angekommen, also Millimeter unter der Obergrenze - das wusste er natürlich schon lange vor der Bundestagswahl. Es gibt ja auch Befürchtungen, dass wir die Obergrenze in diesem Jahr verletzen, 3 Prozent überschreiten, und dann muss für uns die gelbe Karte kommen. Die Regel muss für alle gelten, für die Großen und Kleinen in Euroland.
Spengler: Am Euro selber zweifeln Sie nicht?
Hintze: Nein, der Euro ist, wie ich finde, eine der wichtigsten Zukunftsentscheidungen überhaupt. Er ist auch eine richtige Zukunftsentscheidung, aber er setzt natürlich auf Verlässlichkeit, und die Mitgliedsstaaten in Euroland, die die Kriterien erfüllen, sagen natürlich zurecht, wir haben uns angestrengt, wir haben es geschafft, da müssen sich die anderen auch anstrengen.
Spengler: Viele Bürger sind allerdings ziemlich verzweifelt, was die Umstellung auf den Euro angeht und was die doch deutlich zu spürenden Preiserhöhungen angeht.
Hintze: Ja, das bekomme ich auch zu hören. Es wird oft angesprochen, gerade im Gastronomie-Bereich oder im Bereich von Lebensmitteln. Das ist richtig. Aber die Grundkonstruktion des Euro als eine gemeinsame starke Währung in einem großen gemeinsamen Wirtschaftsraum war goldrichtig, und sie wird sich auch in Zukunft noch als die entscheidende Maßnahme für Stabilität und wirtschaftliche Stärke erweisen.
Spengler: Zehn Kandidatenstaaten stehen vor der Tür und wollen Mitglied der EU werden. Könnte es sein, dass die Union möglicherweise einmal an ihrer Größe erstickt? Sie wäre ja nicht das einzige Imperium, das an der Größe untergeht.
Hintze: Also was wichtig ist, ist dass das Größenwachstum und die Vertiefung miteinander Schritt halten. Also wenn Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Zypern und Slowenien dazukommen, dass das auch zugleich ein Prozess nicht nur der Vergrößerung der Europäischen Union ist, sondern auch der Bereicherung und der Vertiefung, dass wir gegenseitig voneinander gewinnen, und dass wir auch zusammen beschließen, nicht nur größer, sondern auch stärker zu sein, und dann ist es auch eine gute Sache. Ich stehe zur Erweiterung. Ich finde sie wichtig, und ich hoffe, dass die Fortschrittsberichte, die am 9. Oktober 2002 von der Kommission mitgeteilt werden, sagen, wir sind erweiterungsfähig, und wir nutzen eine Chance, wenn wir die Erweiterung durchführen.
Spengler: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio