"Ich wurde im Jahr 1956 Auslandskorrespondent, mit 24 Jahren. Seit damals übe ich diesen Beruf ohne Unterbrechung aus, wobei ich mich hauptsächlich auf Probleme unterentwickelter Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika konzentriere. In diesem Zeitraum hat sich das Milieu der Auslandskorrespondenten stark verändert. Früher einmal dominierten die Reporter der Printmedien. Heute sind sie eine Minderheit. Heute dominieren die Fernsehteams, und in diesem Fach gibt es nur wenige Journalisten."
Das resignierende Resümee des heute 68 Jahre alten Ryszard Kapuscinski aus den 90-er Jahren findet sich in seinen jüngst unter dem Titel "Die Welt im Notizbuch" herausgegebenen Erinnerungsfragmenten. Hören Sie die die Rezension von Agnes Hüfner.
Ungeachtet der von Ryszard Kapuscinski bedauerten Entwicklung des Journalismus ist sein Ruhm als Reporter jedoch nie verblasst, im Gegenteil. Mit seinen Büchern hat Kapuscinski den Rang eines international anerkannten Schriftstellers erworben, übersetzt in viele Sprachen, ein immer gefragter Interviewpartner. Und aus dieser Perspektive, aus dem Blickwinkel eines Schriftstellers, hat er auch sein jüngstes Buch komponiert. Komponiert ist das richtige Wort, denn es handelt sich hier um die Zusammenstellung von Reflexionen, Aphorismen, Gesprächsfetzen, Zitaten und Lektüreeindrücken, durchsetzt mit kleinen reportagehaften Einschüben, in denen der Meister Proben seiner Kunst gibt. Nicht immer wird dabei ganz deutlich, was ihn zu dieser oder jener Reihung motivierte, und manche Aphorismen sind, wie es bei der Häufung solcher Gedankensplitter gang und gäbe ist, schlicht und auch banal. Sieht man aber aufs Ganze, dann steht hier unmissverständlich eine Sache im Zentrum: die Kunst der Reportage.
Reporter ist in den Augen Kapuscinskis etwas ganz anderes als Journalist. Nicht ohne Genugtuung zitiert er verschiedene Anthologien bedeutender Reportagen, um zu zeigen, dass journalistische Arbeiten sich selten darein verirren, wohl aber die Namen großer Schriftsteller sich hier zuhauf finden. Die Kunst des Reporters sieht er im "kreativen nicht-fiktionalen Schreiben".
"Ich betrachte mich als Erforscher des Anderen - anderer Kulturen, anderer Denkweisen, anderer Verhaltensweisen. Ich möchte die positiv verstandene Fremdheit kennenlernen, mit der ich in Berührung kommen will, um sie zu begreifen. Es geht darum, wie man die Wirklichkeit neu und adäquat beschreiben kann. ... Manchmal fragt man mich, wer der Held meiner Bücher sei. Dann sage ich: Dieser Held bin ich, denn die Bücher handeln von einer Person, die herumreist, sich umschaut, liest, nachdenkt und über das alles schreibt."
Die Kombination von kreativ und nicht fiktional ist ihm besonders wichtig. Seinem nicht weniger berühmten verstorbenen Kollegen Bruce Chatwin etwa wirft er, in aller Behutsamkeit, vor, die Gleichwertigkeit dieser beiden Merkmale seines Schreibens außer acht gelassen und damit zur "Verwirrung der Gattung" beigetragen zu haben. Was diese beiden Qualitäten der Reportage bestimmt, sagt Kapuscinski nicht definitorisch, aber es ist aus der Auswahl und Zusammenstellung seiner Notizen zu erschließen. Nicht-fiktional ist, so paradox das klingen mag, nicht nur das Gegenteil von fiktional im literarischen Sinn, es ist auch das Gegenteil von reiner Faktenhuberei, das Gegenteil etwa der markigen Losung des Focus-Chefredakteurs: "Fakten, Fakten, Fakten". Um unbekannte, unvertraute Lebensverhältnisse annähernd wirklichkeitsgetreu wiedergeben zu können, benötige man, darauf besteht Kapuscinski, umfangreiches Vorwissen. Egon Erwin Kisch hat gelegentlich gesagt, eine Reportage könne nur dann zum Ziel kommen, wenn man bereits vor Antritt der Reise das meiste über die zu entdeckende andere Welt wisse. Kapuscinski demonstriert diese Voraussetzung unter anderem, indem er das außerordentlich umfangreiche Spektrum seiner Lektüre, darunter, wie er immer wieder betont, Poesie - "die Poesie der Sprachübung" -, aufscheinen lässt.
Eine andere Voraussetzung dieses nicht-fiktionalen Schreibens ist die Fähigkeit, die Komplexität anscheinend eindeutiger Fakten erfassen zu können. Was das heißen kann, macht Kapuscinski am Beispiel deutlich, in dem er Armut, genauer gesagt "Armutskultur", vorstellt:
"Wenn ich in einem afrikanischen Dorf bin, denke ich nur daran, möglichst rasch in die Stadt zu kommen. Dann mache ich mir die Mechanismen des Lebens in der Kultur der Armut bewusst. Der Hunger ist nur ein Teil dieser schrecklichen Existenz, der Rest, das sind ein unbequemes Lager auf dem nackten Erdboden, Flöhe und andere Parasiten, der ständige Wassermangel und - was vielleicht am wichtigsten ist - die Dunkelheit. In den Tropen geht die Sonne um sechs Uhr abends unter. Und bis sechs Uhr früh lebt man in totaler Finsternis. Eine chinesische Taschenlampe kostet einen Dollar, doch in dem senegalischen Dorf, in dem ich zuletzt wohnte, hat keiner einen Dollar. In den Städten gibt es noch in den ärgsten Slums Strom und damit Licht und Musik aus einem Radio - also ein wenig Unterhaltung. Die Leute kommen zusammen, und gleich begegnen wir einem paradoxen Konflikt: Der Bauer von gestern wird zum Feind seiner ehemaligen Nachbarn aus dem Heimatdorf. Das sind typische Merkmale für die Kultur der Armut, die Spannungen, die Aggression und widersprüchliche Interessen erzeugt: Arme Gesellschaften sind unfähig, Formen gemeinsamen Handelns zu organisieren, weil sie atomisiert sind und zerrissen von internen Konflikten."
Kreativität mag nun angesichts solcher Anforderungen, wo alles aufs Wissen, auf Genauigkeit ankommt, ganz fehl am Platze sein. Aber wenn man sich, wozu die Notizen reichlich Möglichkeiten bieten, zu vergegenwärtigen sucht, was der Reporter tut, wenn er auf Reisen ist - die erste "Quelle" seines Schreibens - wird klar, dass Kreativität die unerlässliche Voraussetzung fürs Gelingen ist. In welche Situation der Reporter sich auch begeben mag, er verändert sie, indem er Teil von ihr wird. Nie findet er etwas vor, wie es an sich ist, sondern stets nur so, wie es in seiner Anwesenheit ist. So ist auch zu verstehen, was Kapuscinski meint, wenn er sich als den "Helden" seiner eigenen Reportagen betrachtet. Wäre er bloßer Beobachter der Szene, die er vorzufinden meint, wäre er nichts. Er muss stets auch das sein, was Niklas Luhmann den Beobachter des Beobachters genannt hat, einer, der zu verfolgen imstande ist, was seine Beobachtungen auslösen, wie er selbst auf diese Reflexionen reagiert und was endlich diese seine Reaktion auf die Reflexion seiner Beobachtung auslöst.
Agnes Hüfner über Ryszard Kapuscinski, Die Welt im Notizbuch. Der 335 Seiten starke Band ist in der von Hans Magnus Enzensberger im Eichborn Verlag herausgegebenen Edition "Die andere Bibliothek" erschienen und kostet 44 Mark. Damit sind wir am Ende unserer heutigen Revue politischer Literatur. Für Ihr Interesse dankt Hermann Theißen.
Das resignierende Resümee des heute 68 Jahre alten Ryszard Kapuscinski aus den 90-er Jahren findet sich in seinen jüngst unter dem Titel "Die Welt im Notizbuch" herausgegebenen Erinnerungsfragmenten. Hören Sie die die Rezension von Agnes Hüfner.
Ungeachtet der von Ryszard Kapuscinski bedauerten Entwicklung des Journalismus ist sein Ruhm als Reporter jedoch nie verblasst, im Gegenteil. Mit seinen Büchern hat Kapuscinski den Rang eines international anerkannten Schriftstellers erworben, übersetzt in viele Sprachen, ein immer gefragter Interviewpartner. Und aus dieser Perspektive, aus dem Blickwinkel eines Schriftstellers, hat er auch sein jüngstes Buch komponiert. Komponiert ist das richtige Wort, denn es handelt sich hier um die Zusammenstellung von Reflexionen, Aphorismen, Gesprächsfetzen, Zitaten und Lektüreeindrücken, durchsetzt mit kleinen reportagehaften Einschüben, in denen der Meister Proben seiner Kunst gibt. Nicht immer wird dabei ganz deutlich, was ihn zu dieser oder jener Reihung motivierte, und manche Aphorismen sind, wie es bei der Häufung solcher Gedankensplitter gang und gäbe ist, schlicht und auch banal. Sieht man aber aufs Ganze, dann steht hier unmissverständlich eine Sache im Zentrum: die Kunst der Reportage.
Reporter ist in den Augen Kapuscinskis etwas ganz anderes als Journalist. Nicht ohne Genugtuung zitiert er verschiedene Anthologien bedeutender Reportagen, um zu zeigen, dass journalistische Arbeiten sich selten darein verirren, wohl aber die Namen großer Schriftsteller sich hier zuhauf finden. Die Kunst des Reporters sieht er im "kreativen nicht-fiktionalen Schreiben".
"Ich betrachte mich als Erforscher des Anderen - anderer Kulturen, anderer Denkweisen, anderer Verhaltensweisen. Ich möchte die positiv verstandene Fremdheit kennenlernen, mit der ich in Berührung kommen will, um sie zu begreifen. Es geht darum, wie man die Wirklichkeit neu und adäquat beschreiben kann. ... Manchmal fragt man mich, wer der Held meiner Bücher sei. Dann sage ich: Dieser Held bin ich, denn die Bücher handeln von einer Person, die herumreist, sich umschaut, liest, nachdenkt und über das alles schreibt."
Die Kombination von kreativ und nicht fiktional ist ihm besonders wichtig. Seinem nicht weniger berühmten verstorbenen Kollegen Bruce Chatwin etwa wirft er, in aller Behutsamkeit, vor, die Gleichwertigkeit dieser beiden Merkmale seines Schreibens außer acht gelassen und damit zur "Verwirrung der Gattung" beigetragen zu haben. Was diese beiden Qualitäten der Reportage bestimmt, sagt Kapuscinski nicht definitorisch, aber es ist aus der Auswahl und Zusammenstellung seiner Notizen zu erschließen. Nicht-fiktional ist, so paradox das klingen mag, nicht nur das Gegenteil von fiktional im literarischen Sinn, es ist auch das Gegenteil von reiner Faktenhuberei, das Gegenteil etwa der markigen Losung des Focus-Chefredakteurs: "Fakten, Fakten, Fakten". Um unbekannte, unvertraute Lebensverhältnisse annähernd wirklichkeitsgetreu wiedergeben zu können, benötige man, darauf besteht Kapuscinski, umfangreiches Vorwissen. Egon Erwin Kisch hat gelegentlich gesagt, eine Reportage könne nur dann zum Ziel kommen, wenn man bereits vor Antritt der Reise das meiste über die zu entdeckende andere Welt wisse. Kapuscinski demonstriert diese Voraussetzung unter anderem, indem er das außerordentlich umfangreiche Spektrum seiner Lektüre, darunter, wie er immer wieder betont, Poesie - "die Poesie der Sprachübung" -, aufscheinen lässt.
Eine andere Voraussetzung dieses nicht-fiktionalen Schreibens ist die Fähigkeit, die Komplexität anscheinend eindeutiger Fakten erfassen zu können. Was das heißen kann, macht Kapuscinski am Beispiel deutlich, in dem er Armut, genauer gesagt "Armutskultur", vorstellt:
"Wenn ich in einem afrikanischen Dorf bin, denke ich nur daran, möglichst rasch in die Stadt zu kommen. Dann mache ich mir die Mechanismen des Lebens in der Kultur der Armut bewusst. Der Hunger ist nur ein Teil dieser schrecklichen Existenz, der Rest, das sind ein unbequemes Lager auf dem nackten Erdboden, Flöhe und andere Parasiten, der ständige Wassermangel und - was vielleicht am wichtigsten ist - die Dunkelheit. In den Tropen geht die Sonne um sechs Uhr abends unter. Und bis sechs Uhr früh lebt man in totaler Finsternis. Eine chinesische Taschenlampe kostet einen Dollar, doch in dem senegalischen Dorf, in dem ich zuletzt wohnte, hat keiner einen Dollar. In den Städten gibt es noch in den ärgsten Slums Strom und damit Licht und Musik aus einem Radio - also ein wenig Unterhaltung. Die Leute kommen zusammen, und gleich begegnen wir einem paradoxen Konflikt: Der Bauer von gestern wird zum Feind seiner ehemaligen Nachbarn aus dem Heimatdorf. Das sind typische Merkmale für die Kultur der Armut, die Spannungen, die Aggression und widersprüchliche Interessen erzeugt: Arme Gesellschaften sind unfähig, Formen gemeinsamen Handelns zu organisieren, weil sie atomisiert sind und zerrissen von internen Konflikten."
Kreativität mag nun angesichts solcher Anforderungen, wo alles aufs Wissen, auf Genauigkeit ankommt, ganz fehl am Platze sein. Aber wenn man sich, wozu die Notizen reichlich Möglichkeiten bieten, zu vergegenwärtigen sucht, was der Reporter tut, wenn er auf Reisen ist - die erste "Quelle" seines Schreibens - wird klar, dass Kreativität die unerlässliche Voraussetzung fürs Gelingen ist. In welche Situation der Reporter sich auch begeben mag, er verändert sie, indem er Teil von ihr wird. Nie findet er etwas vor, wie es an sich ist, sondern stets nur so, wie es in seiner Anwesenheit ist. So ist auch zu verstehen, was Kapuscinski meint, wenn er sich als den "Helden" seiner eigenen Reportagen betrachtet. Wäre er bloßer Beobachter der Szene, die er vorzufinden meint, wäre er nichts. Er muss stets auch das sein, was Niklas Luhmann den Beobachter des Beobachters genannt hat, einer, der zu verfolgen imstande ist, was seine Beobachtungen auslösen, wie er selbst auf diese Reflexionen reagiert und was endlich diese seine Reaktion auf die Reflexion seiner Beobachtung auslöst.
Agnes Hüfner über Ryszard Kapuscinski, Die Welt im Notizbuch. Der 335 Seiten starke Band ist in der von Hans Magnus Enzensberger im Eichborn Verlag herausgegebenen Edition "Die andere Bibliothek" erschienen und kostet 44 Mark. Damit sind wir am Ende unserer heutigen Revue politischer Literatur. Für Ihr Interesse dankt Hermann Theißen.