Freitag, 19. April 2024

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'Die Wirklichkeit ist irrer als die wahnsinnigste Fantasie'

Remme: Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann. Guten Morgen Herr Biermann!

19.09.2001
    Biermann: Guten Morgen.

    Remme: Herr Biermann, Sie haben nach diesen Anschlägen geschrieben. Haben auch Sie die Ereignisse am vergangenen Dienstag live verfolgt?

    Biermann: Ja. Ich bin sozusagen Augenzeuge, wie man das heute in der Welt ist, nämlich an der Glotze, am Fernsehapparat.

    Remme: Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder sahen?

    Biermann: Es ging mir wie den meisten Menschen. Ich war im ersten Moment gelähmt. Ich war nicht sicher, ob ich einen Film sehe, den irgend ein fantasiearmer Idiot in Hollywood sich zusammenfantasiert hat. Aber es ist immer so: Die Wirklichkeit ist fantastischer, verrückter, wahnsinniger als die wahnsinnigste Fantasie irgendwelcher Dichter, Schriftsteller oder Filmemacher.

    Remme: Herr Biermann, knüpfen wir noch einmal an das Ende des eben gehörten Beitrags an, die Äußerungen von Frau Sonntag. Stimmt das Ihrer Meinung nach? War das ein Angriff nur auf Amerika?

    Biermann: Nein. Das darf die Susan Sonntag wohl sagen, denn sie lebt in Amerika. Für sie ist das das Zentrum der Welt. So geht es uns ja allen. Jeder hält seinen Misthaufen, auf dem er gerade kräht, für das Zentrum der Welt. Aber angegriffen wurde natürlich auch nicht, wie hier die Politiker tönen, die Zivilisation. Das ärgert mich schon, wenn ich das höre, denn ich weiß doch, dass die auch wissen müssten, dass die westliche Zivilisation nicht die einzige auf der Welt ist. Die buddhistische, die muslimische, der Islam, die Menschen in Afrika und überall, das weiß doch jedes Kind. Man schämt sich schon, das überhaupt zu sagen, aber man muss es leider sagen. Das sind alles Zivilisationen und alle Religionen der Welt haben einen tiefen humanen Kern. Ich glaube ja nicht an Gott, wie Sie wissen, aber ich weiß, warum Menschen an Gott glauben, weil sie nämlich diese kleine Krücke, diese kleine Eselsbrücke brauchen zum Menschen. Der Glaube an Gott ist aus meiner Sicht jedenfalls nichts anderes als eine etwas kompliziertere Art, an den Menschen zu glauben. Wer an den Menschen nicht glauben kann, der macht so etwas. Deswegen sind aus meiner Sicht diese Attentäter auch nicht irgendwelche Islam-Phanatiker. Die haben mit Islam genauso viel zu tun wie die Kreuzritter - und ich weiß, warum ich das Wort jetzt in den Mund nehme; sie wissen es auch, weil nämlich der amerikanische Präsident so redet - vor ungefähr 800 Jahren das Christentum verteidigt haben. Im Grunde finde ich das gut, dass dieser etwas dümmliche Präsident in den USA uns einen Kreuzzug versprochen, will sagen angedroht hat. Davor habe ich allerdings große Angst, weil ich weiß doch, was die Kreuzzüge bedeuten. Da sind Ritter aus Westeuropa, aus der Rheinebene, aus Frankreich, aus England, aus Deutschland besonders losgezogen, haben sich am Mittelmeer eingeschifft und haben, bevor sie das Metzeln dort im sogenannten heiligen Land begannen, erst mal jeder ungefähr 50 Juden hier in Deutschland umgebracht, um ihr Schwert zu segnen mit dem Blut unschuldiger Frauen, Kinder und Männer und haben so getan als müssten sie dort dem Jesus Christus einen kleinen Gefallen tun mit diesen Mordtaten. Das heißt: so mörderisch, so fanatisch, idiotisch und ohne alle Religion, ohne jeden Glauben an Gott und an den Teufel - die glauben auch nicht an den Teufel, an den Menschen schon gar nicht -, das haben wir in unserer christlichen Tradition ja auch. Wir haben gar keinen Grund, uns zu überheben über diese Islam-Menschen.

    Remme: Herr Biermann, bedeutet das, was Sie gerade gesagt haben, dass Sie Gewalt als Antwort auf das, was geschehen ist, für die falsche Reaktion halten?

    Biermann: Überhaupt gar nicht meine ich das, und das habe ich auch geschrieben. Natürlich muss man mit Gewalt gegen diese Verbrecher vorgehen, mit und ohne Religion. Das hat etwas mit dem tiefen Kern des Menschen zu tun, egal ob er an Käsetorte oder an Buddha oder an Mohammed oder an den lieben Gott, jüdische Abteilung oder christliche, katholische oder evangelische Abteilung glaubt. Es ist mir egal. Von mir aus können Sie an Ihren Silberlöffel glauben, wenn es Sie dazu führt, sich menschlich zu Menschen zu verhalten. Wer das nicht tut, dessen Glauben ist kein Glaube. Der glaubt an gar nichts. Der glaubt nicht mal an sich selber, geschweige denn an irgend etwas Großes und Gutes im Menschen. Deswegen muss man nach meiner Meinung natürlich mit Gewalt gegen diese Verbrecher vorgehen. Und wissen Sie, warum ich so laut rede? - Weil es mich heute noch aufregt, wenn ich daran denke, dass ich ja nur mit Ihnen hier am Telefon reden kann, weil Menschen mit Gewalt und mit nichts anderem als Gewalt, mit (Moral) außerdem noch, mit Humanität außerdem noch, aber erstens bis zehntens mit Gewalt gegen Adolf Hitler und seine Heil-Hitler-Deutschen gekämpft haben. Ich wäre doch längst tot. Ich bin ein halbes Judenkind und ein Kommunistenkind und was immer Sie wollen. Auf jeden Fall hätte ich es nicht überlebt. Und dass wir beide hier reden, verdanke ich nur dieser Tatsache, dass Amerikaner, Russen, Engländer, Franzosen und Menschen in Deutschland selbst übrigens, die auch Widerstand geleistet haben, gegen diese Verbrecher des Hitler-Regimes gekämpft haben. Wie könnte ich da gegen Gewalt sein. Aber dass Gewalt nicht hinreichend ist, wie die Mathematiker sagen, sondern nur notwendig, na das weiß ja nun jeder, der nicht ganz ein Dummbeutel ist. Natürlich reicht das bei weitem nicht aus, aber nur daneben zu sitzen und mitzuteilen, dass man für den Frieden ist und dass man es schöner fände, wenn alles schöner wäre, das halte ich für dreckige Heuchelei. Ob sie geschminkt ist mit intellektuellen Floskeln oder ob sie dumpf, stumpf daher kommt, das ist mir egal. Nein: Gewalt ist Notwendig, aber wie ich schon sagte überhaupt nicht hinreichend, denn es hilft gegen Gewalt nicht nur Gewalt, sondern auch wie wir in Indien gelernt haben Gewaltlosigkeit. Auch das kann eine wichtige Waffe sein. Man muss immer nur wissen, mit wem man es zu tun hat.

    Remme: Herr Biermann, kommen wir auf die Verhältnisse hierzulande nach diesem Anschlag. Lockerung des Datenschutzes, Regelanfragen beim Verfassungsschutz vor Erteilung von Visa für bestimmte Länder, Rasterfahndung. Haben Sie Verständnis dafür, wenn hierzulande wie heute jetzt im Kabinett geplant Maßnahmen ergriffen werden, die die innere Sicherheit erhöhen sollen?

    Biermann: Aber natürlich! Aber klar bin ich dieser Meinung. Ich habe in einem Abhör- und Stasi-Staat DDR gelebt. Da können Sie sich an einem Finger ausrechnen, dass ich es gar nicht schön finde, wenn in meine kleinen privaten Menschenrechte von irgendwelchen Schnüfflern eingegriffen wird. Aber das ist ein wichtiges menschliches Gut unter anderen. Ganz nebenbei möchte ich auch noch, dass Leute, die mich umbringen wollen und die meine Kinder ermorden wollen und die solche Verbrechen begehen wollen wie jetzt in den USA, daran gehindert werden. Wir müssten ja wohl dämlich und verlogen und feige sein, wenn wir die (sehr geringen Mittel), die wir haben, nicht wenigstens benutzen, um solche Menschen daran zu hindern, ihre Verbrechen zu begehen. Dass mich das etwas kostet an Intimität meines kleinen Privatlebens, das ist klar. Mich kosten die Waffen übrigens auch Geld, die nötig sind, um so etwas niederzuhalten. Das ist eben sehr teuer, nicht nur an Geld, sondern auch an demokratischen Möglichkeiten. Mit anderen Worten ganz banal: Es ist nicht schön, dass es so ist, und es kostet was, aber diesen Preis bin ich sehr wohl bereit zu bezahlen.

    Remme: Sie haben eben an den Zweiten Weltkrieg erinnert, an den Einsatz der amerikanischen Armee zur Befreiung der Deutschen. Wie könnte sich die besondere Solidarität, die wir den Amerikanern möglicherweise aufgrund unserer Geschichte schulden, äußern?

    Biermann: Ich glaube Waffen brauchen die von uns nicht. Irgendwelche kleinen Helden mit einer Maschinenpistole brauchen die Amerikaner von den Deutschen gar nicht. Die Amerikaner brauchen in diesem Moment, dass wir ihnen in der Seele beistehen und ihnen im Verstand auch kritisch widersprechen, wenn sie jetzt Kreuzzüge anfangen wollen. So etwas Dämliches kann sich wirklich nur ein Cowboy aus dem Süden der Vereinigten Staaten ausdenken. Echte Freundschaft? - Es ist doch mit den Völkern wie mit den Menschen. Wenn ich einen guten Freund habe - und das wissen Sie auch ohne mich -, dann erweist sich diese Freundschaft unter anderem darin, dass ich ihn kritisiere, dass ich ihm die Wahrheit sage, das was ich denke und fühle, dass ich also auch den Mut vor dem Freund habe und nicht nur den Mut vor dem Feind. Dass die Feigheit vor dem Freund manchmal noch schlimmer ist als die Feigheit vor dem Feind, das weiß doch jeder. Also ist es unsere Aufgabe, den Amerikanern beizustehen in jeder Weise, also auch durch Kritik, aber nicht indem wir ihnen in den Arm fallen, wenn sie sich wehren wollen gegen diese weltbedeutenden Menschenfeinde, die wie ich ja vorhin schon sagte mit allen Mitteln bekämpft werden müssen: also mit Gewalt, mit Gewaltlosigkeit, mit Liebe, mit Überzeugungskraft. Aber Leute wie etwa der Horst-Eberhard Richter. Der hat gleich als erstes mitgeteilt, nun bloß nicht mit Gewalt antworten. Ja dann möchte dieser Mensch vielleicht den Bin Laden auf seiner Couch haben als Kunden für eine Psychotherapie. Ich bin nicht der Meinung, dass man Bin Laden und seine Leute auf die Couch ziehen muss. Die muss man töten, und alles andere halte ich für Heuchelei.

    Remme: Vielen Dank! - Das war der Schriftsteller und Liedermacher Wolf Biermann im Deutschlandfunk

    Link: Interview als RealAudio