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"Die Wunden sind noch nicht vernarbt"

Die Debatte um den jüngst wieder aufgefundenen Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze zeigt nach Ansicht des Journalisten Karl-Wilhelm Fricke, dass der Tod an der Mauer bis heute als empörend empfunden wird. Die Haltung von Egon Krenz, der bis heute die Existenz eines Schießbefehls leugne, sei stellvertretend: "Die meisten Ehemaligen verdrängen ihre Vergangenheit."

Moderation: Stefan Heinlein | 13.08.2007
    Stefan Heinlein: Über 130 Menschen starben zwischen 1961 und 1989 allein an der Berliner Mauer. Die Zahl der Opfer an der gesamten innerdeutschen Grenze wird auf mehrere Hundert geschätzt. Bislang weigerten sich die Verantwortlichen der SED-Diktatur beharrlich, die Existenz eines Schießbefehls für die DDR-Grenztruppen zuzugeben. Auch die juristische Aufarbeitung brachte bislang keine Klarheit. Nun wird das Leugnen schwieriger. Der in Magdeburg entdeckte Schießbefehl für den Einsatz von Stasi-Leuten an der innerdeutschen Grenze ist klar und eindeutig.

    Gezielte Schüsse auf Frauen und Kinder. Schon kurz nach Entdeckung des Dokuments forderten Politiker aller Parteien einen neuen juristischen Anlauf zur Aufarbeitung dieses menschenverachtenden Kapitels der deutschen Geschichte. Die Magdeburger Staatsanwaltschaft jedoch scheint nicht bereit, die Ermittlungen aufzunehmen und verweist auf die Zuständigkeit der Berliner Kollegen.

    Bei mir im Studio ist nun der ehemalige Leiter der Ost-West-Redaktion des Deutschlandfunks Karl-Wilhelm Fricke. Guten Tag Herr Fricke!

    Karl-Wilhelm Fricke: Guten Tag Herr Heinlein!

    Heinlein: Sie haben sich fast Ihr gesamtes Berufsleben mit der DDR journalistisch befasst, waren selber in Stasi-Gefangenschaft. Sind Sie überrascht von der Deutlichkeit dieses Schießbefehls?

    Fricke: Ich bin deshalb nicht überrascht, weil er seit 1974 schon bekannt ist. Aber ich bin insofern überrascht, als es nun eine Wiederentdeckung gibt. Der gleiche Befehl war inzwischen in Vergessenheit geraten. Aber der Mitarbeiter der Stasi-Unterlagen-Behörde in Magdeburg hat ihn offenbar nicht gekannt. Und als er bei Recherchen ich glaube für die "Magdeburger Volksstimme" dieses Dokument fand, glaubte er etwas Neues zu finden. Ich habe dann inzwischen nachgeprüft und habe festgestellt, dass es tatsächlich Anfang der 70er Jahre schon entsprechende Veröffentlichungen gab. Das ändert nichts an der Verwerflichkeit dieser Bestimmung, die auch in gewisser Weise juristisch im Gegensatz zum DDR-Grenzgesetz vom 25. März 1982 steht, denn dort war ausdrücklich festgelegt, wann und wie Schusswaffen anzuwenden sind.

    Wenn Herr Krenz - ich weiß nicht ob wir noch darauf kommen - in einer Äußerung gestern oder vorgestern behauptet, es gab keinen Schießbefehl, dann hat er formal Recht, denn es gibt kein Dokument, über dem "Schießbefehl" steht. Es gibt aber zig Dokumente, in denen von Schusswaffengebrauchsbestimmungen für Soldaten der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen die Rede ist, und um einen solchen Fall beziehungsweise um eine Dienstanweisung zu diesem Schusswaffengebrauch, zu diesen Schusswaffengebrauchsbestimmungen handelt es sich hier.

    Heinlein: Der Historiker Hubertus Knabe hat es heute recht drastisch formuliert. Er hat gesagt, es wäre eine Lizenz zum Töten. Kann man das so formulieren?

    Fricke: Das halte ich ein bisschen für radikal formuliert, aber das ist eine griffige Formulierung, die natürlich in der Sache richtig ist für den Fall, dass ein so genannter Grenzverletzer, der ja als Verräter galt - und hier handelt es sich speziell um Überläufer oder potenzielle Deserteure aus den Grenztruppen -, das Land verlassen wollte. Sofern es sich also um einen solchen Fall handelte, war es natürlich in der Tat eine Lizenz zum Töten und es war praktisch eine Lizenz zum Hinrichten.

    Heinlein: Dieser Schießbefehl - Sie haben es gerade angedeutet - galt ja nur für die Grenztruppen der Staatssicherheit. Kann man aber davon ausgehen, dass dieser Befehl auch für die restlichen Soldaten an der innerdeutschen Grenze Gültigkeit hatte?

    Fricke: Nein, das glaube ich nicht. Das war im Grenzgesetz anders geregelt. Dort war genau vorgeschrieben, dass die Schusswaffe nur nach Anruf, Warnschuss und dann Zielschuss angewandt werden durfte. Das ist also eine andere Bestimmung als hier, wo man angewiesen hat, dass man sofort schießen soll.

    Heinlein: Warum hatten die Stasi-Grenztruppen diese Sonderrechte?

    Fricke: Es war eine Sondertruppe, die der Hauptabteilung I im Ministerium für Staatssicherheit unterstand. Das war die Truppe, die die bewaffneten Kräfte, die bewaffneten Organe abwehrmäßig sichern sollte, wie man das damals nannte. Es ging hier darum, dass hier um jeden Preis Verrat oder Grenzüberläufer verhindert werden sollten.

    Heinlein: Sie haben es gesagt. Seit den 70er Jahren wäre dieser Befehl bereits bekannt gewesen. Nun ist er wieder aufgetaucht. Angeblich gab es ja '97 schon einmal ein wissenschaftliches Dokument, wo dieser Befehl erwähnt wurde. Warum sorgt jetzt heute dieses Dokument für so viel Wirbel?

    Fricke: Ich glaube alle, die sich dazu geäußert haben, haben vergessen, dass es schon bekannt war. Dieses 90er-Dokument ist nur eine Publikation aus dem Jahre 1997. Das heißt es handelt sich um die identischen Dokumente aus den 70er Jahren.

    Heinlein: Was bedeutet es nun, dass dieses Dokument aufgetaucht ist und diese Diskussion nun geführt wird?

    Fricke: Es zeigt nur, wie virulent diese Diskussion noch immer ist und wie empörend noch immer der Tod an der Mauer war. Es ist ja so, dass die Berliner Mauer die meisten Toten im Verhältnis zu beklagen hatte, die an der gesamten Grenze zu beklagen waren. Der erste Tote Günter Litfin starb am 24. August 1961, der letzte Chris Gueffroy wenige Monate vor Öffnung der Mauer am 5. Februar 1989. Die Wunden sind noch nicht vernarbt. Die Narben brechen immer wieder auf. Das erklärt auch die Empörung, wenn dann solch ein Dokument wieder auftaucht. Ich spreche ja von Wiederentdeckung. Ich mache auch dem Mitarbeiter der Gauck-Behörde, jetzt Birthler-Behörde keinen Vorwurf. Man kann nicht alles im Kopf haben. Das ist der Charme der Wiederentdeckung.

    Heinlein: Die Narben sind noch nicht gänzlich verheilt, sagen Sie. Brauchen wir einen neuen juristischen Anlauf, um diese DDR-Vergangenheit, dieses Kapitel aufzuarbeiten? Diese Forderung - wir haben es gerade gehört - gibt es ja.

    Fricke: Wenn es sich um nachweisbare Fälle von Mord oder Totschlag handelt, dann wäre natürlich ein neuer juristischer Anlauf nötig, aber eben nur im individuellen Fall und nicht generell. Da ist die Sache abgeschlossen.

    Heinlein: Die politische Aufarbeitung ist aber noch nicht abgeschlossen. Sie haben Egon Krenz erwähnt. Er leugnet weiter diesen Schießbefehl. Ist dieses Verhalten stellvertretend für die Reaktion der damals Verantwortlichen?

    Fricke: Sie ist stellvertretend, genau. Die meisten Ehemaligen verdrängen ihre Vergangenheit. Sie verdrängen die Schuld, die sie auf sich geladen haben, und versuchen, die DDR, das Regime der SED genauer gesagt zu verharmlosen und schön zu färben. Das ist eine Tendenz, die sich allgemein erkennen lässt und die sich besonders abzeichnet in den Bemühungen ehemaliger Stasi-Kader, ihr Regime und ihre Tätigkeit als völlig legal darzustellen. Dazu gehört natürlich auch die Tätigkeit dieser Sondertruppe der Hauptabteilung I, auf die sich diese Schießbefehl-Weisung bezieht.

    Heinlein: Also steckt in dieser Diskussion auch eine Chance?

    Fricke: Unbedingt!

    Heinlein: Das war der ehemalige Leiter der Ost-West-Redaktion des Deutschlandfunks Karl-Wilhelm Fricke. Vielen Dank für Ihr Kommen!