Samstag, 27. April 2024

Archiv


"Diese Erlebnisse kann man niemandem nehmen"

Drei Jahre nach dem Amoklauf wird heute das umgebaute Gymnasium wieder eröffnet. Neben einer neuen Aula und einer neuen Sporthalle gibt es einen Raum der Stille, in dem man sich dem Schulstress entziehen kann. Außerdem erinnert ein Mosaik und eine Gedenktafel an die Tat, über die Rektorin Christiane Alt nach wie vor fassungslos ist.

Von Klaus Remme | 29.08.2005
    Klaus Remme: Der 26. April 2002 wird in Erfurt wohl für immer als Schreckensdatum in Erinnerung bleiben. An diesem Tag drang der 19-jährige Robert Steinhäuser in das Gutenberggymnasium ein und tötete 16 Menschen und sich selbst: Ein beispielloses Verbrechen, und der Schock saß tief. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses versprach die Bundesregierung 10 Millionen Euro, um diese Schule danach umzubauen - Schüler und Lehrer mussten für Jahre in ein Ausweichquartier. Und jetzt ist es fertig, das neue Gutenberggymnasium. Es wird heute im Beisein von Bundeskanzler Schröder offiziell wieder eingeweiht. Eine neue Aula ist entstanden, eine neue Sporthalle. Ich habe vor der Sendung mit der Direktorin der Schule, Christiane Alt, gesprochen und sie gefragt, wie wichtig diese äußerlichen Veränderungen sind.

    Christiane Alt: Nun, man kann mit Anbauten und Farbe und hellen Fenstern und neuen Möbeln natürlich nicht wirklich trösten oder man kann auch nicht Wunden damit verdecken oder renovieren, das wollte ja auch niemand. Aber die Möglichkeit, diesen Schulstandort damit zu erhalten, einmal ihn auch lebbar zu machen für alle diejenigen Schüler und Lehrer, die im April 2002 in diesem Haus waren. Und die Fortsetzung des Unterrichts an diesem alten Schulstandort für die Stadt Erfurt hat ja auch für uns einen symbolischen Wert: Das die Kraft der Gemeinschaft und der Wille etwas entgegensetzt den schrecklichen Folgen dieser Gewalttat.

    Remme: Hat es nach der Tat rein messbare Veränderungen gegeben? Sind die Leistungen besser oder schlechter geworden? Oder die Zahl der Schüler, hat die sich verändert?

    Alt: Nun muss man dazu sagen, dass - es sind ja jetzt drei Jahre vergangen - wir haben jetzt bereits schon vier Abiturienten-Jahrgänge verabschiedet seit der Tat und vier neue Schüler-Jahrgänge in unserem Haus, so dass natürlich die Schulgemeinschaft auch ihren Charakter und ihr Bild verändert hat. Das ist das eine. Wenn Sie die Leistungen ansprechen, dann müssen wir zurückschauen in den April 2002 und die folgenden vielen Monate danach, dass sehr viele Schüler und Lehrer unmittelbare Zeugen des Geschehens gewesen sind, und damit seelische Verwundungen erlitten haben, die über einen sehr langen Zeitraum mit therapeutischer Begleitung ja auch zunächst doch einmal bearbeitet und aufgearbeitet werden mussten. Nach drei Jahren kann man sagen, dass der Zustand sich wesentlich gebessert hat und auch vielfach stabilisiert, dass auch keine Begleitung mehr nötig ist.

    Remme: Wird denn die Tat vom 26. April und der Täter, Robert Steinhäuser - wenn Sie jetzt in ihrem alten Gebäude wieder sind - so gut wie möglich aus den Köpfen von Schülern und Lehrern verdrängt oder erinnern Sie ganz bewusst daran?

    Alt: Das geht gar nicht. Man kann aus den Köpfen der Menschen, die an diesem Tag ganz furchtbare Stunden hier aushalten mussten, diese Bilder, diese Erfahrungen, diese Erlebnisse kann man niemandem nehmen. Man kann höchstens helfen, dass alle diejenigen es lernen, damit auch ihr eigenes Leben weiter zu gestalten.

    Remme: Ich wollte nur an äußerliche Dinge anknüpfen, wie zum Beispiel: Man könnte ja nun Gedenktafeln entweder anbringen oder weglassen. Oder ich lese von einem Raum der Stille zum Beispiel.

    Alt: Ja, es gibt einen Raum der Stille. Das ist ein Angebot der Architekten. Zunächst von der Raumstruktur. Die Definition des Raumes der Stille und seine Funktion innerhalb eines Schulalltages beschreiben im Moment eine Gruppe von Lehrern und Schülern. Der Prozess ist auch noch nicht abgeschlossen, genauso wie der Raum der Stille auch sächlich noch ausgestattet wird in einer Gemeinschaftsarbeit von Kolleginnen und Kollegen und einer Schülergruppe. Wir sind jetzt dabei. Erst seitdem wir hier sind, können wir an sich den Raum auch definieren. Das ist das eine: Rückzugsmöglichkeit, sich dem Schulstress einen Moment zu entziehen oder sich auch zurückzuziehen, mit anderen Menschen zu sprechen in Ruhe. Das ist aber nicht die Form des Gedenkens. Wir haben im Haus ein altes Mosaik wieder mit zurückgebracht, was wir früher in der Schule hatten - erinnert an eine Kollegin, die damals mit Schülern dieses Mosaik vor vielen Jahren erstellt hatte. Und wiederum eine Schülergruppe hat es mühsam abgetragen vor dem Umbau und hat es jetzt in den letzten Monaten wieder angefügt. Da haben wir eine sehr konkrete Erinnerung an Menschen. Und für alle Besucher, Gäste dieser Stadt und für uns alle ist eine Gedenktafel am Haus, die an die Opfer vom 26. erinnert.

    Remme: Sie haben das eben selbst angesprochen: Es sind natürlich zunehmend Menschen, Schüler im Haus, auch Eltern, die mit der Tat keine eigene Erinnerung verbinden können. Wenn die jetzt bei der Anmeldung kommen, haben die Fragen zu diesem Thema oder ist das ein Stück weit auch Normalisierung inzwischen?

    Alt: Inzwischen sind die Fragen andere Fragen geworden. In den ersten Jahren unmittelbar dem nächst folgenden Schuljahr nach dem Attentat haben wir ganz großen Wert gelegt, die interessierten Eltern und Schüler auch selbst darauf anzusprechen, darüber sich bewusst zu sein, für welche Schule sie sich entschieden haben. Denn jeder Schüler, der auch jetzt neu zu uns kommt, ist automatisch auch in die Geschichte dieser Schule eingebunden. Das stellt sich aber für Schüler und neue Schüler und alte Schülergenerationen wesentlich unproblematischer dar, als wir Erwachsenen das mitunter handhaben.

    Remme: Gibt es auch Schüler und Eltern, die nach der Tat der Schule den Rücken gekehrt haben?

    Alt: Es gibt wenige Schüler, deren Erlebnisse so schmerzhaft waren, dass auch ärztlicherseits hier ein Ortswechsel empfehlenswert war. Aber das ist eine vergleichsweise geringe Anzahl von Schülern und auch von Kollegen. Aber dies ist auch in den ersten Monaten nach dem Ereignis eigentlich schon abgeschlossen gewesen.

    Remme: Frau Alt, der Umbau hat 10 Millionen Euro gekostet. Kann dies auch als öffentliches Eingeständnis verstanden werden, dass Defizite in der Schule oder in den Lehr- und Lernbedingungen die Tat von Robert Steinhäuser begünstigt heben?

    Alt: Ich kenne die Motivation unter diesem Aspekt so nicht. Da bin ich sicher auch nicht die richtige Ansprechpartnerin für Sie. Ich denke aber, dass der Erhalt dieser Gemeinschaft und dieser Schule schon auch einen symbolischen Wert hat. Sich dem Thema Schule, Elternhaus und Verbesserung, Veränderung in Deutschland zu stellen, sich damit auseinander zu setzen zumindest eine Debatte wert wäre, die leider so nicht wirklich geführt wird.

    Remme: Dann frage ich einmal andersherum: Glauben Sie denn, dass der Umbau eine Wiederholung einer solchen Tat ausschließt oder weniger wahrscheinlich macht?

    Alt: Leider Gottes wird man gar nirgends eine Wiederholung ausschließen dürfen. Wir wollen zwar - wir, die wir erlebt haben, welche Folgen die Menschen zu ertragen haben über Jahre hinweg - wünschen und hoffen, dass nie wieder irgendwo Menschen in ein solches Geschehen eingebunden werden müssen. Aber es wäre sicher sehr blauäugig, das auszuschließen.

    Remme: Sie haben diesen Tag in der Schule ja miterlebt, und ich habe den Namen des Täters in diesem Gespräch einige Male genannt. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie an Robert Steinhäuser denken?

    Alt: Es ist unverständlich, was ein junger Mensch, was ihn tatsächlich bewogen hat, eine solche brutale Tat auszuüben. Das ist nach wie vor Fassungslosigkeit, Sprachlosigkeit, denn wir arbeiten mit jungen Menschen, und selbst die verstehen - bei allen Problemen, die junge Menschen auch haben - nicht, warum es zu einer solchen Tat gekommen ist.

    Remme: Unter dem Eindruck des Geschehens wurden dann ja Fragen diskutiert, weit über ihre Schule hinaus, in ganz Deutschland. Können Sie feststellen, dass wir als Ganzes aus diesem - Unglück nenne ich es einmal - gelernt haben?

    Alt: Ich denke, es bedarf einer viel breiteren Debatte über Schule hinaus, denn Schule allein, Eltern allein können die Gesamtproblematik, die sich hinter dieser Tat auch verbirgt, mit Sicherheit nicht leisten. Und an der Stelle, glaube ich, sollte man die anfängliche Diskussion, die anfänglichen Debatten, die unmittelbar nach den Ereignissen in Erfurt auch deutschlandweit und darüber hinaus eingesetzt haben, weiter diskutieren oder auch stärker wieder aufnehmen.

    Remme: Der Bundeskanzler wird heute bei der offiziellen Wiedereröffnung dabei sein. Abschließend, Frau Alt, wie wichtig ist denn sein Besuch für Sie oder für andere in der Schule?

    Alt: Der Bundeskanzler hat unmittelbar nach dem Staatstrauerakt in Erfurt und der Willensbekundung oder des Wunsches der Schulgemeinschaft zurückzukehren in dieses Haus, eine sehr spontane Entscheidung getroffen, dem Freistaat und der Stadt Erfurt zu helfen. Und wir haben heute das Bedürfnis, für diese Geste zu danken und uns darüber hinaus auch bei sehr vielen Personen zu bedanken und Menschen weit über den Kreis der Stadt oder auch des Landes hinaus. Und diese Gelegenheit möchten wir heute zum Anlass nehmen.

    Remme: Die Direktorin des Gutenberggymnasiums in Erfurt, Christiane Alt.