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"Diese Frage hätte man im Vorfeld klären müssen "

Im Fall der wegen Neonazi-Vorwürfen aus London abgereisten Olympia-Ruderin Nadja Drygalla stellen sich für Dagmar Freitag, Vorsitzende des Bundestag-Sportausschusses, viele Fragen. "Völlig unvorstellbar" sei, dass niemand im organisierten Sport etwa davon wusste, dass die Sportlerin wegen ihrer Nähe zum Neonazimilieu aus dem Polizeidienst ausgeschieden sei.

Dagmar Freitag im Gespräch mit Martin Zagatta |
    Martin Zagatta: Darf eine Sportlerin bei den Olympischen Spielen für Deutschland antreten, wenn sie enge Kontakte zu Neonazis hat? Diese Frage stellt sich, seit die Rostocker Ruderin Nadja Drygalla gestern aus London abgereist ist. Sie hat das olympische Dorf verlassen, nachdem bekannt wurde, dass sie mit einem Lebensgefährten zusammen ist, der der Neonaziszene angehört, unter anderem als NPD-Politiker. Ist das ein Skandal oder ist das Sippenhaft? Darüber können wir jetzt mit der SPD-Politikerin Dagmar Freitag sprechen. Sie ist die Vorsitzende des Sportausschusses des Bundestages. Schönen guten Morgen, Frau Freitag!

    Dagmar Freitag: Ja, guten Morgen!

    Zagatta: Frau Freitag, aus dem Parlament von Petra Pau, der Bundestagsvizepräsidentin, kommt heftige Kritik. Die Vorwürfe seien bekannt gewesen, und die Athletin sei trotz eines offenbar strammen Hangs ins Nazimilieu gefördert worden. Das sei oberfaul. Können Sie solche Bedenken nachvollziehen?

    Freitag: Ja, ich kann sie im Ansatz nachvollziehen. Ich bin natürlich auch schockiert über das, was wir seit gestern aus sehr, sehr vielen Pressemeldungen wissen. Die Frage, was dort genau passiert ist, wer wann was gewusst hat, muss jetzt schonungslos geklärt werden.

    Zagatta: Da heißt es ja aus dem Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern, von dieser Verbindung habe man gewusst. Die Sportlerin hat deswegen auch den Polizeidienst aufgegeben und man habe das auch den Sportverbänden mitgeteilt. Die bestreiten das. Halten Sie das für glaubwürdig?

    Freitag: Ja, eigentlich nicht. Da stellen sich schon eine Menge Fragen. Wir haben ein Fördersystem in Deutschland, das ja eigentlich aufeinander abgestimmt sein sollte. Dazu gehören auch zum Beispiel die Sportfördergruppen der Bundeswehr, der Bundes- oder der Landespolizeien. Und für mich ist es völlig unvorstellbar, dass eine Spitzenathletin aus solch einer Sportfördergruppe ausscheidet und niemand, aber auch absolut niemand im organisierten Sport will etwas davon gewusst haben.

    Zagatta: Aber was wäre denn passiert, wenn der Sportverband, wenn die Sportverbände das gewusst hätten? Hätte dann diese Sportlerin, die sich selbst ja, so weit man bisher weiß, nichts hat zuschulden kommen lassen, hätte die dann aufgrund ihrer Verbindung zu ihrem Lebensgefährten dann nicht mitmachen dürfen bei Olympia?

    Freitag: Also, Sippenhaft darf es natürlich nicht geben. Aber solch ein Fall muss diskutiert werden, und nach Möglichkeit, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Also das heißt, im Vorfeld der Olympischen Spiele. Denn wir reden hier ja nicht über einen Taschendieb im privaten Umfeld einer Nationalmannschaftsathletin, sondern schon um einen gravierenden Vorwurf, und ich hätte das gern im Vorfeld geklärt gehabt. Und da muss sich der Sport schon fragen lassen, warum hat er nichts gewusst oder warum wollte er nichts wissen.

    Zagatta: Ist das die Aufgabe von Sportverbänden, das Privatleben von Athleten zu überprüfen?

    Freitag: Überhaupt nicht. Aber, ich sage es noch mal: Sportverbände wissen normalerweise Bescheid, wenn eine Athletin aus einer Sportfördergruppe ausscheidet. Und weil das ein ganz wesentlicher Punkt einer dualen Karriere ist, fragt man dann logischerweise auch nach. Ich stelle mir die Frage, was hat der Laufbahnberater am zuständigen Olympiastützpunkt gemacht oder gewusst. Wenn der erfährt, dass eine Athletin ausscheidet, dann muss er doch den zuständigen Kontakt, den Kontakt zum zuständigen Verband suchen und sagen, wie können wir der Athletin weiterhelfen, was waren die Gründe? Und da stelle ich mir die Frage: Ist all das nicht passiert?

    Zagatta: Sie haben da ja lange Erfahrung, Sie sind ja auch seit mehr als zehn Jahren Vizepräsidentin des Deutschen Leichtathletikverbandes. Zu was hätten Sie geraten? Hätten Sie jetzt gesagt, dann, wenn wir das jetzt wissen, dass die Sportlerin da einen Lebensgefährten hat, der als Neonazi gilt, dann darf sie nicht mitmachen? Oder zu was hätten Sie geraten? Darf die dann an Olympischen Spielen teilnehmen oder nicht?

    Freitag: Das ist jetzt eine sehr hypothetische Frage. Mir kommt es darauf an, ob die Athletin selbst dieses Gedankengut teilt. Und diese Frage hätte man im Vorfeld mit Sicherheit klären müssen oder zumindest können, zumal die Athletin ja eben wohl auch aus diesem Grund aus dem Polizeidienst des Landes Mecklenburg-Vorpommern ausgeschieden ist. Also, ich denke, da hat es ja schon Gespräche gegeben, die zumindest darauf hindeuten, dass sie sich möglicherweise nicht eindeutig distanziert hat. Und das wäre eigentlich die Frage gewesen, die im Vorfeld zu klären gewesen wäre.

    Zagatta: Und dann, wenn sie sich nicht distanziert hätte, dann hätte man sie ausschließen müssen?

    Freitag: Na ja, Sie müssen immerhin sehen: Diese Nationalmannschaft führt den Slogan "Wir für Deutschland". Da stellt sich natürlich schon die Frage, ob jemand aus einem Umfeld, das unsere freiheitlich-demokratische Grundhaltung oder Grundordnung zutiefst verachtet, ob so jemand wirklich "Wir für Deutschland" auf der Brust tragen kann. Also die Frage stellt sich mir schon. Aber noch mal: Wir wissen gar nicht, bis zum jetzigen Zeitpunkt, ob diese Athletin wirklich dieses Gedankengut teilt.

    Zagatta: Und wenn sie es teilen würde, also selbst wenn Frau Drygalla der NPD angehören würde, würde das tatsächlich etwas ändern. Weil die Partei ist nicht verboten, die wird zum Teil ja sogar mit Steuermitteln gefördert.

    Freitag: Natürlich, das ist ein Problem. Es ist eine zugelassene Partei, auch wenn uns das, mir jedenfalls, überhaupt nicht gefällt. Aber ich denke schon, wenn der Boden unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verlassen wird, dass dann die Frage sehr wohl zu stellen ist, kann jemand Deutschland im Ausland vertreten? Denn man ist nicht als Privatperson in so einem Fall bei Olympischen Spielen. Man ist Teil einer Nationalmannschaft, und das hat schon ein besonderes Gewicht.

    Zagatta: Frau Freitag, wie wollen Sie das jetzt klären? Sie sind die Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag. Wird der sich jetzt mit dem Fall befassen?

    Freitag: Der wird sich zwangsläufig mit dem Fall befassen. Wir haben grundsätzlich nach Olympischen Spielen eine Sitzung im Ausschuss, in der es um eine Nachbetrachtung der Ergebnisse geht. Und da wird sowohl das Thema der Zielvereinbarungen, das ja auch ein ganz wesentliches der letzten Tage war, und auch dieser Sachverhalt natürlich eine Rolle spielen. Vermutlich wird das noch im September geschehen.

    Zagatta: Und dann auch in öffentlicher Sitzung? Sie tagen ja gern unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

    Freitag: Also, ich tage überhaupt nicht gerne unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Mehrheit des Sportausschusses, das heißt, die schwarz-gelbe Koalition hat während der laufenden Wahlperiode beschlossen, dass die Medien und die Öffentlichkeit ausgesperrt werden. Ich persönlich bedaure das sehr und ich werde den Kollegen auch empfehlen, diese Sitzung öffentlich zu machen. Ich sehe aber wenig Chancen auf Realisierung.

    Zagatta: Das glauben Sie also, dass die Koalition da nicht mitmachen wird, ja?

    Freitag: Das ist zu befürchten, bisher …

    Zagatta: Das wäre aber in dem Fall doppelt oder dreifach schade.

    Freitag: Diese Einschätzung teile ich ausdrücklich.

    Zagatta: Danke schön! Das war Dagmar Freitag, SPD-Politikerin, Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag. Frau Freitag, herzlichen Dank für das Gespräch!

    Freitag: Ja, sehr gerne!

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