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"Diese Menschen können kaum zurück"

Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur und Grünhelme, hat ein radikales Umdenken in der europäischen Flüchtlingspolitik gefordert. Die Migrantenströme könnten nur durch eine veränderte Entwicklungspolitik in Zusammenarbeit mit afrikanischen Regierungen eingedämmt werden. Immer noch werde auf Abschreckung gesetzt, doch die halte Menschen ohne Perspektive nicht ab, die gefährliche Überfahrt zu wagen.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 31.03.2009
    Christoph Heinemann: Mehrere hundert Menschen sind vermutlich im Mittelmeer ums Leben gekommen, Flüchtlinge vom afrikanischen Kontinent, die in Europa ein besseres Leben suchten.
    Am Telefon ist Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur und Grünhelme. Guten Tag!

    Rupert Neudeck: Guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben sich in den vergangenen Monaten mehrfach in nord- und westafrikanischen Hafenstädten aufgehalten. Unter welchen Bedingungen über das, was Esther Saoub berichtet hat, hinaus treten Flüchtlinge die Reise übers Mittelmeer an?

    Neudeck: Sie treten sie an unter dem totalen Zwang, dass für sie bezahlt worden ist. Sie haben keine freie Wahl. Es sind alles junge Menschen; das muss man wissen. Die Hälfte der Bevölkerung afrikanischer Nationen besteht aus Menschen, die nicht älter als 18 Jahre sind. Das sind junge Menschen, denen das Geld gezahlt worden ist aus ihrer Dorfgemeinschaft, und sie müssen etwas bringen und sie müssen es bringen aus dem Land, das Europa heißt, das den Afrikanern erscheint wie das Land, in dem Milch und Honig wächst. Das ist einfach eine unglaubliche Situation, die wir uns gar nicht vorstellen können. Diese Menschen können kaum zurück.

    Heinemann: Gibt es in den Regierungen der Länder, von denen aus sich Flüchtlinge auf den Weg machen, ein Bewusstsein für das Schicksal dieser Menschen?

    Neudeck: Noch gar nicht, und das ist, glaube ich, der größte Skandal. Wir leben in Europa, in der Europäischen Union damit, dass das Partnerregierungen sind, mit denen man Verträge machen kann. Das kann man aber nicht, weil die Mehrzahl dieser Regierungen zum Teil an den großen Profiten der Schmuggelei und des Verfrachtens, des Verschickens dieser Menschen beteiligt ist, und sie bestehen auch manchmal wörtlich darauf, dass es ein Recht auf Migration gibt. Das heißt, sie spielen damit, dass die Menschen aus ihren eigenen Ländern herausgehen, um nach Europa zu kommen, und verlangen von unseren Regierungen, dass wir sie bedingungslos aufnehmen. Das alles kann weiter nicht gehen, weil wir haben dort Regierungen, die eigentlich nicht dazu da sind, für ihre Bevölkerung das Beste und das Wohlständige herauszuholen, sondern wir haben Regierungen, die wirklich darauf angewiesen sind, dass sie ihre Nummernkonten in der Schweiz, in Liechtenstein oder Luxemburg erhöhen.

    Heinemann: Herr Neudeck, Sie haben kürzlich hier im Deutschlandfunk aus Mauretanien über ein hoffnungsvolles Projekt berichtet, über den Versuch, Menschen, die zur Reise übers Mittelmeer entschlossen sind, in Nordafrika eine Berufsausbildung und auch Arbeit zu verschaffen.

    Neudeck: Das ist das einzige, was man dem entgegenhalten kann. Die Europäische Union, Europa, wir Europäer werden es nicht schaffen, durch Verstärkung unserer Zollgrenzen oder unserer militärischen Grenzen das einzudämmen, sondern nur dadurch, dass wir Inseln, Leuchttürme der Hoffnung für diese jungen Menschen geben, und das kann nur darin bestehen, dass Ausbildung passiert und dass auf diese Ausbildung hinaus noch eine Produktion dort entsteht.

    Ich habe das an einem einzigen Punkt jetzt erlebt, in Mauretanien, in der Hafenstadt Nuadibu, aus der die meisten gegenwärtig herausgehen, aus 16 afrikanischen Ländern, junge Menschen, die die Pirogge suchen. Dort hat ein junger Pfarrer, ein junger nigerianischer Pfarrer es geschafft, weil er total unkorrupt ist und weil er eben das Beste für diese Menschen will, ein großes Ausbildungszentrum, das wir ihm gebaut haben, so einzurichten, dass dort jetzt Ausbildung boomt in jeder nur denkbaren Hinsicht, und er möchte das gerne erweitern. Das ist die einzige Möglichkeit, diese große Völkerwanderung, vor der wir in den nächsten Monaten und Jahren stehen, ein wenig einzudämmen, vielleicht sogar zu unterbrechen und vielleicht sogar dann am Ende zurückzudämmen.

    Heinemann: Und dann erscheint für die zur Flucht Entschiedenen oder Entschlossenen der Leuchtturm Europa schwächer?

    Neudeck: Viel schwächer, weil sie ja alle wissen - und ich habe mit ganz vielen jetzt gesprochen, die dort heimlich in dieser Hafenstadt und auch in dem ganzen Mauretanien herumwandern -, Europa erscheint ihnen lange nicht mehr als ein ganz großer Leuchtturm, sondern das müssen sie nur aufrecht erhalten. Sie wissen ja von den Leichen, die an der Küste Nuadibus angeschwemmt werden, sie wissen ja von den Beerdigungen, die der Pfarrer macht, sie wissen ja, dass es eine furchtbare Anstrengung ist, sechs Tage und sechs Nächte auf diesem Meer, auf dem Atlantik-Ozean in einer kleinen Pirogge durchzuhalten. Das alles wissen sie mittlerweile, weil sie eben auch mit Menschen, die zurückgewiesen worden und die nach Nuadibu wieder zurückgefahren werden, sprechen. Dieser Leuchtturm ist eigentlich nur noch einer, der aufrecht erhalten wird, aber die, die an der Küste sind, wissen schon, dass das eine ganz gefährliche Fahrt und Passage ist, und deshalb könnte man etwas tun, aber man muss unbedingt die Regierungen afrikanischer Länder als verantwortliche Regierungen mit im Boot haben, man muss von ihnen verlangen, dass sie nicht weiter das Geld, was wir ihnen aus der europäischen Unionskasse geben, für ihre eigenen persönlichen und egoistischen Bedürfnisse verwenden.

    Heinemann: Gibt es Ansätze für eine intelligente europäische Migrationspolitik?

    Neudeck: Ich fürchte, wir sind immer noch total überrascht und wissen noch gar nicht genau, was uns geschieht in Europa. Die Europäische Union geht weiter erst mal noch davon aus, dass wir diese Menschen abschrecken müssen, dass wir sie zurückwerfen müssen, dass wir versuchen müssen, sie zu registrieren, um sie dann zurückzuschieben. Wir haben noch nicht begriffen, dass der eigentliche tiefere Grund in einer mittel- und langfristigen, besseren und ganz radikal umgestülpten Entwicklungspolitik mit afrikanischen Regierungen besteht, die wirklich das Wohl und Weh ihrer Bevölkerung im Auge haben. Das alles, glaube ich, ist in Brüssel noch nicht gesehen. Ich sage das aber nicht pharisäisch, weil wir sind wirklich von dieser Wucht der Völkerwanderung total überrascht worden und wir müssen uns darauf einstellen, dass uns die nächsten Jahre dieses Problem erhalten bleibt und nicht gemindert wird.

    Heinemann: Das heißt, Sie haben ja zusammen mit Ihrer Frau Christel vor drei Jahrzehnten Cap Anamur gegründet, um vietnamesische Flüchtlinge zu retten. Ist das Mittelmeer heute das, was das südchinesische Meer vor 30 Jahren war?

    Neudeck: Äußerlich von den Bildern her gesehen ja, aber von dem Problem her nein, denn diese Menschen, die in das südchinesische Meer gegangen sind, waren politisch Verfolgte und hatten zumindest einen weltweit gültigen Titel. Sie waren politisch Verfolgte und damit hatten sie einen Titel der Genfer Flüchtlingskonvention. Das war ganz wichtig für uns damals. Wir haben jetzt diese Menschen, die wir Flüchtlinge nennen, die aber eigentlich Migranten sind, was sie deshalb nicht weniger achtenswert macht und weniger würdig, sondern sie haben sogar ein Recht darauf, ihr Heimatland und ihre Perspektive dadurch zu verbessern, dass sie rausgehen, aber wir werden mit diesem Problem, das in Millionenzahl auf uns zukommt, so nicht fertig werden, indem wir sie einfach aufnehmen, und deshalb ist es wichtig, dass wir uns klar machen: Es muss eine ganz neue Politik, die vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, für einige ausgewählte afrikanische Länder sein, aus denen die Mehrzahl dieser Menschen herauskommen. Erst dann wird es vielleicht eine Umkehr, eine Wende in dieser Macht, in dieser großen geballten Migrations- und Völkerwanderungsmacht geben.

    Heinemann: Rupert Neudeck von der Hilfsorganisation Grünhelme. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Neudeck: Auf Wiederhören.