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"Diese Toten sind Botschafter jenes großen Unrechts"

Elias Bierdel, einer der Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation "Borderline Europe", hat die Abschottungspolitik der Europäischen Union an den Außengrenzen für mindestens 15.000 Tote in den vergangenen Jahren verantwortlich gemacht. (*) Man könne diesen gewaltigen Menschenrechtsskandal nicht weiterhin ignorieren.

Elias Bierdel im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 01.04.2009
    Tobias Armbrüster: Ein Gesprächsthema am Rande des G20-Gipfels wird möglicherweise auch die Flüchtlingskatastrophe sein, die sich Anfang der Woche im Mittelmeer ereignet hat. 300 Menschen sind dabei in der Nacht zum Dienstag ums Leben gekommen, Flüchtlinge aus Afrika, die versucht haben, auf völlig überfüllten Booten das Mittelmeer zu überqueren. - Am Telefon bin ich jetzt mit Elias Bierdel verbunden, einem der Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation "Borderline Europe". Er war früher Vorsitzender von "Cap Anamur". Guten Tag, Herr Bierdel.

    Elias Bierdel: Ich grüße Sie.

    Armbrüster: Herr Bierdel, 300 Flüchtlinge sind im Mittelmeer ertrunken. Diese Toten, sind sie ein Opfer der Wirtschaftskrise?

    Bierdel: Wir sprechen jetzt über 300, die genauen Zahlen kennt ja zur Stunde noch niemand. Wir haben über die letzten Jahre etwa 15.000 Tote an den Außengrenzen der Europäischen Union dokumentiert, und es werden natürlich täglich mehr. Die Dunkelziffer ist hoch. Sind sie Opfer dieser Krise? - Das glaube ich eher nicht. Wohl eher sind sie Opfer des Systems, denn es ist ja völlig klar, dass unsere Art zu wirtschaften in vieler Hinsicht die Lebensverhältnisse dort, vor allen Dingen in afrikanischen Ländern, weiter erschweren, den Leuten die Perspektiven nimmt. Ich kann mal vielleicht ein paar Stichworte nennen: die Fischereiabkommen, mit denen europäische Fischereiflotten die Fische wegfangen von der westafrikanischen Küste, und dann natürlich jetzt im Zeichen der Krise ein Rückfall in Protektionismus, auch in die Agrarsubventionen zum Beispiel gerade der Europäischen Union jetzt seit Januar. Der bedeutet, dass wir die Märkte in Afrika weiter zerstören. Da gibt es viele Punkte zu nennen. Es ist das System. Und die Toten, die wir zu beklagen hätten, wenn wir sie denn zur Kenntnis nehmen wollten, diese Toten sind Botschafter jenes großen Unrechts, das auf der Welt weiterhin herrscht. Die Frage ist, ob die Krise dazu ein Anlass sein kann, das zu überdenken. Dazu haben wir im Moment wenig Hoffnung, zu dieser Annahme.

    Armbrüster: Aber Sie sprechen das Thema Protektionismus an. Nun haben viele Teilnehmer beim G20-Gipfel bereits angekündigt, dass sie sich gegen Protektionismus, gegen protektionistische Tendenzen wehren wollen, ihn sogar abbauen wollen. Könnte das auch Hoffnung sein für die Zustände in Afrika?

    Bierdel: Im Prinzip ja. Nur hören wir diese Ankündigungen natürlich jetzt seit mal so grob gerechnet 40 Jahren. Sie können das auch bei jedem Wahlgang, auch jetzt zu den EU-Wahlen wieder hören: weg mit den Subventionen. Und dennoch kommen sie immer wieder. Gerade jetzt, wenn es ein bisschen eng wird, dann greift doch jeder wieder nach dem Strohhalm vermeintlicher nationaler Rettungsprogramme und ähnlichem und das heißt dann eben auch weitere Abschottungen der Märkte.

    Klar ist, dass systematisch speziell unser Nachbarkontinent Afrika einer ist, der sozusagen seit Jahrhunderten traditionell ausgebeutet wird. Das geht im Wesentlichen so weiter. Da muss man sich nur die Zahlen ansehen. Wenn die Agrarsubventionen bei uns zum Beispiel, auf Seiten der G20-Staaten ungefähr 360 Milliarden Dollar im Jahr betragen und der afrikanische Kontinent gerade mal eine Milliarde bekommt zur Entwicklung der eigenen Landwirtschaft dort, dann verstehen Sie die Kräfteverhältnisse, dann verstehen Sie auch, wo die Gründe, die Triebfedern liegen, die immer wieder Menschen auch auf diese schrecklich gefährlichen Fahrten in die Boote drängen.

    Armbrüster: Diese Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer, die wurde schon gestern in den Abendnachrichten bereits eher auffallend zurückhaltend behandelt. Heute Abend, schätze ich mal, wird sie vermutlich nirgendwo mehr auftauchen. Woran liegt das?

    Bierdel: Ja, das ist eine schreckliche, furchtbare, traurige Frage. Wir versuchen ja mit unserer Arbeit, mit "Borderline Europe", nun genau dem entgegenzuarbeiten. Wir versuchen ja, diese Dramen sichtbar zu machen, indem wir sozusagen täglich dokumentieren, was sich an den EU-Außengrenzen dort abspielt, wo in den Mienenfeldern ganze Familien explodieren, wo eben auf dem Meer täglich und in jeder Nacht Familien sterben, untergehen. Dass das so wenig zur Kenntnis genommen wird in den Medien, ich kann es mir nur so erklären, dass es zum einen politisch wenig Interesse gibt, die tödlichen Folgen der Abschottungspolitik auch wirklich zu dokumentieren, aufzuzeigen, und dass dann eben Medien gerne mitspielen, viele gerne mitspielen in diesem Spiel, was da heißt, wir versuchen mal, noch uns eine Weile darüber wegzulügen, über die Tatsache, dass wir wohl unseren Lebenswandel insgesamt überdenken müssen. Deshalb der Boom der Unterhaltungs-Shows, deshalb ist eben oft Verona Pooth wichtiger als Ertrinkende im Mittelmeer. Ich sehe aber Anzeichen dafür, dass auch in den großen wichtigen Leitmedien jetzt vielleicht ein Umdenken einsetzt und Medien auch ihre Verantwortung wahrnehmen in diesem Kontext. Es kann nicht sein, dass wir diesen gewaltigen Menschenrechtsskandal von Tausenden Toten jedes Jahr an unseren Grenzen weiterhin ignorieren.

    Armbrüster: Elias Bierdel war das, einer der Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation "Borderline Europe". Vielen Dank, Herr Bierdel.

    Bierdel: Auf Wiederhören.

    (*) Die Zahl wurde nachträglich von der Redaktion korrigiert.