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"Dieser Mythos ist im Auswärtigen Amt auch gepflegt worden"

Der Historiker Norbert Frei bezeichnet es als eine Legendenbildung, dass das Auswärtige Amt in der NS-Zeit "im Kern gesund" gewesen sei. Diese Legende sei auch publizistisch nach dem Krieg unterstützt worden. Frei betont, dass gerade Diplomaten während der Nazi-Zeit an Informationen über den Holocaust gekommen wären.

Norbert Frei im Gespräch mit Jasper Barenberg | 26.10.2010
    Jasper Barenberg: Einer der Autoren der Studie "Das Amt und die Vergangenheit – deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik" ist jetzt am Telefon, auch gleichzeitig Herausgeber des Projektes: Norbert Frei von der Universität Jena. Einen schönen guten Tag!

    Norbert Frei: Guten Tag.

    Barenberg: Herr Frei, Sie haben sich ja schon früher intensiv mit dem Übergang vom NS-Staat zur Bundesrepublik beschäftigt, durchaus auch mit Kontinuitätslinien und Kontinuitäten von belasteten Behörden. Sind Sie trotzdem von den eigenen Findungen überrascht worden?

    Frei: Was die Fakten hinsichtlich des Nationalsozialismus angeht, die eigentliche Kernzeit, was den Holocaust angeht, da kann man nicht wirklich als jemand, der sich lange auch mit der NS-Zeit beschäftigt hat, überrascht sein. Etwa auch dieses Dokument,Franz Rademacher, diese Reisekostenabrechnung, das ist ja etwas, was zum Beispiel der Kollege Christopher Browning in seiner wichtigen Studie schon vor Jahrzehnten herausgearbeitet hat. Insofern, Überraschung über den konkreten Verlauf nein, aber vielleicht doch ein Erstaunen auch noch mal, sozusagen selbst wenn man lange in die Nachgeschichte des Nationalsozialismus geschaut hat, wie lange dieser Mythos tatsächlich im Auswärtigen Amt auch gepflegt worden ist und dass es im Grunde genommen eine Geschichte ist, die bis zur Einsetzung dieser Kommission durch Joschka Fischer weitergegangen ist.

    Barenberg: An was kann man so etwas festmachen, wenn man sich mit Dokumenten beschäftigt? Woran haben Sie das gespürt, was hat Sie zu diesem Urteil dann geführt?

    Frei: Nun, es ist einfach so, dass sie an vielen Stellen eben finden, wie systematisch gewissermaßen dieser Korpsgeist nach 1945 entwickelt worden ist, und das geht ja schon vor dem Weizsäcker-Prozess, dem sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess in Nürnberg los und endet danach nicht. Es gibt dann auch publizistische Schützenhilfe. Es gibt ganz klare Hinweise darauf, dass man zum Beispiel auch versucht hat, das Buch von Herrn Döscher, das in den 80er-Jahren eben eine wichtige Studie gewesen ist, madig zu machen, dass man dafür gesorgt hat, dass schlechtere Rezensionen erscheinen. Da haben sich also diejenigen, die an dieser Legende, dass das Auswärtige Amt im Kern gesund gewesen sei und dass nur ein paar SA- und SS-Leute, die von außen hinzugekommen sind, verantwortlich seien, an dieser Legende hat man sich eben lange festgehalten und die hat man systematisch festzubauen versucht.

    Barenberg: Auf der anderen Seite aber sagen Sie, dass die eigentliche Verstrickung in den Vernichtungsprozess für Sie nicht überraschend war, was die Tiefe dieser Verstrickung angeht.

    Frei: Ja. Wenn man sich vorstellt, dass der Holocaust insgesamt eine arbeitsteilige Sache gewesen ist, und wenn man außerdem davon ausgeht, was diese Kommission getan hat, dass das Auswärtige Amt im Dritten Reich das Auswärtige Amt DES Dritten Reiches gewesen ist, dass also die Diplomaten von Anfang an professionell ihre Fähigkeiten zur Verfügung gestellt haben, dann kann auch dieser Weg, den das Auswärtige Amt mit in den Holocaust gegangen ist, nicht überraschen.

    Barenberg: Gab es denn einen Unterschied zwischen dem Antisemitismus im diplomatischen Korps zum Beispiel und diesem völkisch-rassistischen Antisemitismus, der auf Vernichtung drängte, wie er in den NS-Eliten anderweitig vorzufinden ist? Gab es da irgendeinen Unterschied, oder war das ein und dasselbe?

    Frei: Selbstverständlich gab es da Unterschiede. Es gibt den traditionellen Antisemitismus auch der deutschen Eliten und insoweit, wenn jemand wie Ernst von Weizsäcker von der Judenfrage spricht, dann spricht er etwas an, was weite Teile der Gesellschaft und auch der Eliten eben auch lange vor 1933 teilen. Aber in dem Maße und in dem Moment, in dem sich das Ganze verbindet und verbündet mit diesem Rassen-Antisemitismus der Nationalsozialisten, wird es eben noch gefährlicher, als es vorher schon war, und dann ist diese abschüssige Bahn im Grunde genommen nicht mehr zu stoppen.

    Barenberg: Wie groß war denn der Anteil derer, oder sagen wir das Gewicht derer nach 1945, die konkret von Massenverbrechen wussten, weiter im Amt beschäftigt waren, oder gar selbst damit befasst waren?

    Frei: Also wenn Sie eben diese besagte Reisekostenabrechnung nehmen, dann kann man daraus ja schlussfolgern, dass am Ende sogar der Sachbearbeiter in der Buchhaltung auf diese Weise etwas erfahren hat, und es ist ja in vielen Bereichen schon festgestellt worden, dass es nicht so sehr die Frage ist, was hat man gewusst, sondern was wollte man wissen. Man konnte sich an vielen Stellen nicht nur im Auswärtigen Amt doch, wenn man sich bemüht hat, viele Informationen selber herbeibringen, und für das Auswärtige Amt und die Spitzendiplomaten gilt das ganz besonders. Das gilt natürlich nicht nur für diejenigen, die irgendwelche Deportationslisten abgezeichnet haben. Man spricht ja auch miteinander und gerade über solche Dinge wird man auch selbstverständlich sprechen, und sei es nur im privaten Gespräch. Ganz abgesehen davon, dass die Reichskristallnacht, die sogenannte, sich öffentlich dargestellt hat, es ist einfach sozusagen diese Nachkriegslegende gewesen, dass man von alledem so wenig hat wissen können und dass man gewissermaßen einfach nicht weiter über das Schicksal derer, die deportiert worden sind, nachgedacht habe. Aber das ist, je genauer man hinschaut, einfach eine schwer nachzuvollziehende Ausrede.

    Barenberg: Sie sprechen davon, wie hartnäckig sich dieser Korpsgeist gehalten hat, die Abwehrhaltung, die Verteidigungshaltung. Auf der anderen Seite hat das Amt ja Zustimmung signalisiert. Jedenfalls beschreibt Joschka Fischer das so für die Zeit, als er Ihren Auftrag in die Wege geleitet hat. Wie erklären Sie sich das eigentlich?

    Frei: Das Auswärtige Amt ist ja nicht die einzige Institution in der Bundesrepublik, die Schwierigkeiten hatte, sozusagen sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Aber angesichts dieses subtil herausgearbeiteten Mythos war es hier vielleicht besonders schwer und hat es besonders lange gedauert, bis man diese Forschungen in Auftrag gegeben hat, und es waren ja im Grunde genommen Attacken auf den damals amtierenden Minister, die das Ganze ausgelöst haben, und diese Attacken muss man sozusagen einerseits in Bezug auf die historische oder die zeitgeschichtliche Situation und auch sozusagen das Thema 1968 im Amt verstehen, andererseits aber auch dann im Blick auf diese etwas sozusagen abrupte Art und Weise, wie Fischer dieses Traditionsgedenken beendet hat. Vor diesem Hintergrund haben sich dann noch mal diejenigen zu Wort gemeldet, die offensichtlich dem irrigen Glauben anhängen, dass diese Legende immer noch sozusagen ihre hohe Plausibilität hatte, die sie jahrzehntelang hatte, und das hat dann nicht mehr funktioniert. Insoweit zeigt der späte Zeitpunkt aber doch eben auch, dass sich gesellschaftlich und nicht nur im Amt selbst etwas verändert hat.

    Barenberg: Herr Frei, Sie und die anderen Historiker, sie waren angewiesen auf die Zuarbeit, sage ich mal, des sogenannten politischen Archivs des Auswärtigen Amtes. Nun hört man von heftiger Kritik an der Zusammenarbeit mit diesem Archiv. Es spielt offenbar eine Sonderrolle im Vergleich zu anderen Regierungsakten. Müssen da Änderungen her, dass dieses Archiv zugänglicher wird, beispielsweise für die historische Forschung?

    Frei: Es ist ja so, dass das Auswärtige Amt das einzige Ministerium ist, das ein eigenes Archiv hält, und das ist eine traditionelle Sache. Aber man kann natürlich sich sehr wohl fragen, warum diese Sonderrolle aufrecht erhalten werden soll, vor dem Hintergrund, dass es eben immer diese doppelten Loyalitäten gibt, wenn Archivare zugleich auch Angestellte des Ministeriums sind. Wir hatten in der Tat am Anfang das Gefühl, dass das nicht jedem Mitarbeiter im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes gefällt, was da von der Ministeriumsspitze her in Gang gesetzt worden ist. Das konnten wir aber dann nach einiger Zeit auch noch einmal durch eine Intervention vonseiten der Amtsspitze klären, sodass wir am Ende eine vernünftige Zusammenarbeit hatten. Aber im Übrigen gilt natürlich, was für jedes Archiv gilt, Sie haben es schon angedeutet: Die Historiker sind auf die Kooperation der Archivare angewiesen und darauf, dass ihnen auch vorgelegt wird, was vorhanden ist.

    Barenberg: Der Historiker Norbert Frei von der Universität Jena über das Projekt "Das Amt und die Vergangenheit – deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik". Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Frei.

    Frei: Bitte sehr.