Während das Canceln in unserer Gesellschaft immer weitere Kreise zieht und nach Hautfarbe, Geschlecht und sozialem Stand aussortiert wird, präsentieren Dieter Böge und Bernd Mölck-Tassel ein Buch, das den Titel "Wir Menschen" trägt. Bei ihnen geht es um Gemeinsamkeiten und das, was Menschen miteinander verbindet. Die ersten Sätze lauten:
"Wir Menschen sind sehr verschieden. Wir sprechen sechstausend verschiedene Sprachen. Niemand versteht alle Sprachen. Aber manches verstehen wir auch ohne Worte."
Schnee riechen
Nachdem es zunächst um die Differenzen geht, wird die Brücke zu dem geschlagen, was wir vermögen. Wir können zum Beispiel den Schnee in der Luft riechen, sind gern mit vertrauten Menschen zusammen oder sehnen uns nach einem Zuhause.
Da fängt es allerdings schon an, problematisch zu werden: Wer sitzt mit wem zusammen? Wer darf nicht dabei sein und wem gestatten wir, sein Zuhause hier aufzubauen? Das sind Fragen, die nicht konkret gestellt werden, aber umso deutlicher im Raum stehen.
Der Verlag behauptet auf dem Cover, das Buch sei "freundlich". Tatsächlich demonstrieren Text und Bild, dass man alles Negative auch positiv sagen kann, ohne dabei zum Gesundbeter zu werden. Die Frage nach dem Zuhause beantwortet Bernd Mölck-Tassel etwa mit dem Bild eines Campingplatzes, auf dem sich zwei Männer angeregt über einen Gartenzaun hinweg unterhalten. Eine Frau trinkt gemütlich Kaffee und zwei Kinder spielen – ganz ohne Zaun – im Sand miteinander. Eine Idylle. Dass sie nicht leblos bleibt, liegt an kleinen aber raffiniert eingesetzten Details, denn die Szene wird von einem Eichhörnchen auf dem Baum und einem Igel im Gras beobachtet.
Die Seltsamkeit der Menschen
Das ist das Besondere an diesem Buch. Während Dieter Böge mit kompakten Sätzen arbeitet, die wie ewige Wahrheiten klingen, bleiben die Illustrationen von Bernd Mölck-Tassel keine bloßen Bebilderungen der Worte wie in einem Lexikon, sondern sie zeigen lebendige Wesen. Meist ist noch ein Hund oder ein Vogel im Bild. Auch die Tiere haben ihr Eigenleben und sind Zeugen unseres Daseins. Gleich einem Publikum kommentieren sie durch ihren Blick die Situation mit Humor und Erstaunen über die Seltsamkeit der Menschen. Mit den Tieren als Betrachtern verwandelt sich jedes Bild in eine Szene.
Freundlich sind diese Bilder vor allem deshalb, weil in ihnen jede Kreatur gewürdigt wird. Der Schlüssel dazu liegt in den Augen. Bernd Mölck-Tassel ist ein Meister des Blickes. Das Auge selbst ist oftmals nur ein Pünktchen. Aber die Menschen auf seinen Bildern sehen mit dem ganzen Körper. Ihre Haltung drückt Konzentration, Neugierde oder Erstaunen aus, bis hinunter zu den Füßen, die stets sorgfältig gezeichnet sind. Auch sie erzählen von der inneren Befindlichkeit der Menschen.
Mensch und Tier auf Augenhöhe
Wir Menschen definieren unser Sein über unsere Beziehungen zu anderen Menschen, den Tieren oder der Natur. Bernd Mölck-Tassel zeigt: Wir alle haben ein Schicksal mit Geburt und Tod. Das verbindet uns mit dem Vogel oder dem Hund. Dadurch sind wir auf Augenhöhe, und die verlangt uns Verantwortung ab. So stellt Dieter Böge lakonisch fest: "Wir können grausam sein."
Dazu sieht man zwei Kinder, die Stöcke in der Hand halten. Ein drittes zieht gleichgültig am Strohhalm in seiner Cola-Dose, und wir sehen einen Igel. Niemand weiß, ob die Kinder das Tier mit den Stöcken gequält haben, aber der Verdacht liegt nahe. Die Atmosphäre enthält Spuren von Grausamkeit, weil sich die Szene an einem Waldrand zuträgt, der von Baumstümpfen übersät ist. Hier war offenbar schon jemand, der sich grausam an der Natur vergangen hat. Und es gibt wieder zwei Vögel, die das Geschehen beobachtet haben.
Elegant gezeichnet
All das ist elegant gezeichnet, scheinbar mit wenig Aufwand, dafür aber mit umso mehr Wirkung und einem exzellenten Layout. Bernd Mölck-Tassel bekommt Bewegung in die Körper seiner Figuren, so dass es leicht fällt, sich mit ihnen zu identifizieren. Gleich einer Erzählspur zieht sich der sparsame Text durch das Buch, und die Illustrationen nehmen ihn als Linie auf. So heißt es etwa: "Das Herz und die Augen verändern sich bis zuletzt kaum."
Zu sehen ist ein in die Jahre gekommenes Ehepaar. Und damit liefert Dieter Böge hier den Verweis auf das Gefühl und das Sehen, die beiden Koordinaten dieses Buches. Dann wieder heißt es: "Wir können die Welt um uns herum vergessen."
Auf dem dazugehörigen Bild spielen drei Nonnen ausgelassen Fußball. Ernst geht es hingegen auf einem Bild mit einem schießenden Jäger zu, das mit dem Satz kommentiert wird: "Wir finden oft, dass wir recht haben."
Anlässe zum Gespräch
Man kann dieses Buch überall aufschlagen und den Faden sogleich aufnehmen. In der Kombination mit den Texten wollen diese Bilder in ihrem Beziehungsreichtum und ihren leisen Pointen betrachtet werden. Intelligent und schwerelos präsentieren sie sich sowohl für Erstleser als auch für Erwachsene. Und vor allem bieten sie beiden viele Anlässe zum Gespräch.
Dieter Böge und Bernd Mölck-Tassel (Ill.): "Wir Menschen"
Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin. 160 Seiten, 18 Euro, ab 6 Jahren.
Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin. 160 Seiten, 18 Euro, ab 6 Jahren.